Название | Aufgreifen, begreifen, angreifen |
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Автор произведения | Rudolf Walther |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783941895508 |
Auf die Frage, wann sie entstanden ist, gibt es von Seite der Geopolitik – wie bei der Frage nach dem Status ihrer »Fakten« – zwei Antworten. Die erste läuft darauf hinaus, der Geopolitik durch hohes Alter Reputation zu verschaffen. »Die Geopolitik ist eine Tochter der Geographie ... Die Geographie ist eine alte Wissenschaft« (Pascal Lorot). Im Prinzip werden damit alle Autoren als Geopolitiker eingemeindet, die sich seit der Antike irgendwie mit geographischen Fragen befasst haben. Die französischen Geopolitiker haben einer ihrer Zeitschriften aus solchem Ehrgeiz den Titel »Hérodote« verpasst. Für andere beginnt die Geopolitik mit Montesquieu, der sich im »Esprit des Lois« (1748) Gedanken über den Zusammenhang von Gesetzen, Klima, Bodenbeschaffenheit, Sitten, Einwohnerzahl, Handel und Religion machte, oder mit Turgot, der 1751 einen Traktat »Über politische Geographie« schrieb, oder mit Hegel, der 1830 über den »Naturzusammenhang oder die geographische Grundlage der Weltgeschichte« spekulierte. Die geographischen Überlegungen von Montesquieu, Turgot und Hegel haben einen restlos untergeordneten Stellenwert in deren Gesamtwerk. Für die Begründung einer Geopolitik geben sie so wenig her wie kosmologische Spekulationen antiker Philosophen für die Kernphysik.
Die zweite Antwort auf die Frage nach Entstehung der Geopolitik verlegt den Zeitpunkt in die Epoche des Imperialismus. Damals beschäftigten sich Geographen wie Friedrich Ratzel (1844-1904) mit den »Gesetzen des räumlichen Wachstums der Staaten«. Von der Ideologie des Alldeutschen Verbandes imprägniert, suchte Ratzel nach Rechtfertigungen, um Grenzen zu verschieben und Gebiete »geopolitisch« zu arrondieren. Das als Organismus verstandene Reich Bismarcks sollte nach 1871 wachsen wie ein menschlicher Körper. Max Weber kleidete 1895 dieselbe Hoffnung in das Wort von der Reichsgründung als »Jugendstreich«, dem »Taten« folgen sollten. Ratzels Hauptwerke, »Politische Geographie« (1897) und »Der Lebensraum« (1901), enthalten zwar das Wort »Geopolitik« nicht, aber ihr Autor verstand sich als Ratgeber der Reichsführung bei deren Jagd nach einem »Platz an der Sonne« (Staatssekretär v. Bülow 6.12.1897): »Es liegt im Wesen der Staaten, dass sie im Wettbewerb mit den Nachbarstaaten sich entwickeln, wobei die Kampfpreise zumeist in Gebietsteilen bestehen« (Ratzel). Mit dem Buch »Das Meer als Quelle der Völkergröße« (1900) wurde Ratzel zu einem der Mentoren unter den »Flottenprofessoren«, die das bürgerliche Deutschland ex cathedra auf das Flottenbauprogramm – und damit auf einen Krieg gegen England – einschworen. Ein zentraler Begriff Ratzels ist jener des »Lebensraums«, den er von Oscar Peschel übernommen hat, der ihn 1860 bei der Besprechung von Darwins »On the Origin of Species« (1859) verwendete. Ratzel definierte den Begriff an keiner Stelle, sondern beschwor ihn nur in Analogien und Analogieschlüssen. Nachhaltig wirkte der Vergleich mit Beobachtungen von der pazifischen Insel Laysan, wo sich aus Mangel an »Nistplätzen der Seevögel ... das Recht der Besitzenden mit grausamer Folgerichtigkeit« durchsetze. Die »Volk-ohne-Raum-Propaganda« konnte hier nahtlos anschließen.
Als Begründer der Geopolitik und Erfinder des Neologismus gilt der schwedische Geograph Rudolf Kjellén, dessen Arbeiten zwischen 1901 und 1916 erschienen. Aber erst die deutsche Übersetzung von 1917 (»Der Staat als Lebensform«) fand breitere Beachtung. Der gelegentlich als Begründer der Geopolitik genannte britische Geograph Halford J. Mackinder (1861-1947) gebrauchte den Begriff in seinem 1904 erschienen Aufsatz »Der geographische Angelpunkt der Geschichte« ebenso wenig wie der amerikanische Marineschriftsteller Alfred T. Mahan. Dem ersten ging es um britische Seeherrschaft, und der zweite dachte nur sandkastenmäßig-militärisch.
Kjelléns »Der Staat als Lebensform« umfasst fünf Kapitel zu Ethnopolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Herrschaftspolitik und Geopolitik. Letztere umschreibt er als »die Lehre vom Staat als geographischem Organismus oder Erscheinung im Raume: also der Staat als Land, Territorium, Gebiet oder ... Reich.« Es ist bezeichnend für die geopolitische Mode zwischen 1917 und 1945, dass keiner ihrer Anhänger auch nur bescheidene Anstrengungen unternommen hat, den Gegenstandsbereich und die Methoden der von vielen (nicht von allen) als Wissenschaft verstandenen Geopolitik zu bestimmen. Bei Kjellén wird der Staat von seiner elementarsten Voraussetzung her gefasst, von seiner Territorialität, aus der der Rest abgeleitet wird. Für ihn wiegen denn auch Gebietsverluste schwerer als der Verlust von Menschenleben.
Nirgends fand Geopolitik so viel Beachtung wie bei deutschen Konservativen und Nationalsozialisten. Beiden war sie ein Hebel zur Revision der Pariser Friedensverträge von 1919/20. Die schillerndste Figur war Karl Haushofer (1869-1946), Mitglied der NSDAP, mit einer Frau jüdischer Herkunft verheiratet, befreundet mit Rudolf Hess und intimer Feind von Goebbels, der ihn nach 1939 kaltstellte. Auch wenn man den direkten Einfluss der Geopolitiker auf die Herrschaft der Nazis nicht überschätzen darf, so hat sich doch das Unternehmen, das sich zwischen 1924 und 1944 um die »Zeitschrift für Geopolitik« gruppierte und den Nazis die Stichwörter lieferte, nachdrücklich diskreditiert: Vom Kampf gegen Weimar über den Antisemitismus bis zum »Drang nach dem Osten« ist hier »geopolitisch« alles zur Propaganda aufbereitet worden. Das kritisch gemeinte Wort vom deutschen »Drang nach dem Osten« prägte der Pole Julian Klaczko 1849; Geopolitiker und Nazis drehten es um und machten es zur Fanfare. Daran ändert nichts, dass Haushofer selbst gegen den Krieg mit der Sowjetunion war. »Das Gesetz der wachsenden Räume« formulierte Fritz Hesse schon 1924. 1933 deklarierte sich die Geopolitik freiwillig als »nationale Staatswissenschaft«, ganz nach Haushofers Motto: »Die Geopolitik will Rüstzeug zum politischen Handeln liefern und Wegweiser im politischen Leben sein.« Umso peinlicher berührt es, wenn neuerdings akademische Gesellenarbeiten versuchen, Geopolitik und Geopolitiker von ihrer Kollaboration mit den Nazis reinzuwaschen. Haushofer hat es abgelehnt, der Forderung seines Kollegen Richard Hennig nachzukommen, Geopolitik eindeutig von Rassenpolitik abzugrenzen. Er räumte nur den Vorrang des »Rechts des Bodens« ein und sprach von »Blut und Boden als Widerlagern« des »gewaltigen Bogens« (4.6.1935), den die Politik nach 1933 geschlagen habe. Die 1994 erschienene Dissertation Frank Ebelings sieht dagegen in der Geopolitik einen Beitrag zur »Stabilisierung ... der Weimarer Republik«. Er schreibt Haushofer »skeptischen Realismus« zu und verniedlicht dessen Unterstützung für Hitlers Außenpolitik als »Ausdruck des Willens einer Idee, über die nationalen Grenzen hinaus ordnungsgebend tätig zu werden.« Mit dem »Denken der Welt« und »Größe« (Michel Korinman) hat die abgeschmackte Scharlatanerie, die zwischen 1917 und 1945 in Deutschland als Geopolitik auftrat, nichts zu tun. Deren trostlose Geschichte kann es nicht gewesen sein, die die Geopolitik in Frankreich, Italien und in der BRD wiederbelebt hat.
Die Gründe dafür liegen in den drei Ländern unterschiedlich, wenn es auch Gemeinsamkeiten gibt und Frankreich den Vorreiter spielt. Man kann das in jeder großen Pariser Buchhandlung überprüfen. Dort füllt die Abteilung »Géopolitique« sechs Laufmeter, gefolgt von einem Meter »Polémologie« (Kriegeskunde), an die sich die Abteilung »Menschenrechte/Humanitäres« mit kaum einem halben Meter Bücher anschließt. Geopolitik hat Konjunktur, und ein »Dictionnaire de géopolitique« ordnet alle Gemeinplätze handlich auf über 1000 Seiten. Seit neuestem ist Geopolitik in Paris ein universitärer Studiengang. Dass es dazu kam, ist das Verdienst des Geographen Yves Lacoste. Der erklärt sich den Wiederaufstieg der Pseudowissenschaft Geopolitik disziplingerecht schlicht: Als es 1979 zum Krieg zwischen den drei kommunistischen Staaten Vietnam, Kambodscha und China kam, fehlte den Journalisten eine Erklärung, denn das Ost-West-Raster versagte. Die Journalisten schauten auf die Karte, sahen das Mekong-Delta und verschrieben sich »geopolitischen Erklärungen« – eine journalistische Improvisation steht also am Beginn der Renaissance der Geopolitik in Frankreich.
Diese Renaissance fiel zusammen mit dem Auftreten der »Neuen Philosophie« in Frankreich. Ebenso theatralisch wie hypermoralisch grundiert, verabschiedeten sich damals Teile der Pariser 68er-Intelligenz von ihrem konfusen Bistro-Maoismus. Lacoste selbst gehörte nicht zu dieser Generation, aber zu einer Fraktion von »Tiers-Mondistes« (Dritte-Welt-Fans), denen die Verbrechen Pol Pots und anderer Diktatoren ihr Weltbild zerstörten. Denjenigen, denen früher das Herz für den Klassenkampf im Weltmaßstab und für »die Verdammten dieser Erde« schlug, erschien jetzt über Nacht »die Geographie als Handlungsmittel« (moyen d’action). Als »militante Geographen« wandten sie sich zunächst gegen »die Geographie der Professoren« (Yves Lacoste).