Название | Aufgreifen, begreifen, angreifen |
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Автор произведения | Rudolf Walther |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783941895508 |
Über die Frage, ob nun die Brücke, die Fresken, das Volk oder alle drei zusammen »die Identität der Nation« bildeten, können sich Heinrich und das Pferd nicht einigen. Das Pferd ist der Meinung, wer die Frage beantworten könne, arbeite »an der Identität selber mit« und erwerbe sich eben damit den Anspruch, auf der Heldenwand abgebildet zu werden. Am Ende des Disputs stellt das Pferd resignierend fest, dass sich »die Leute auf dieser Brücke« zwar ursprünglich um »ihre Identität« mit den gemalten Vorfahren und deren Heldentaten bemühten, sich aber bald damit abfanden, dass nur »durch allerlei Gemünztes zu erreichen und zu sichern« sei, was man im und zum Leben brauche.
»Identität« wird also bei Keller gleich mehrfach ironisch gebrochen: Sie ist ein Traumgebilde, von einem Pferd verkündet, das zugeben muss, dass die »Identitätsherrlichkeit« an den herrschenden Realitäten zu Schanden wird. Das »politische Rendez-vous des Volkslebens« auf der Brücke ist nur schöner Schein, der sich als kommerzieller Alltag entpuppt: Der bunte Kreislauf des Lebens wird als Kapitalumlauf entlarvt.
Keller benützt das Bild der Brücke in einer zeitlichen Perspektive als Verbindung der Vergangenheit und Zukunft eines Volkes. Der Germanist Gerhard Kaiser unternahm den Versuch, sie als »Identitätsbrücke der Nation« zu interpretieren. Dieser Versuch umgeht den von Keller ausdrücklich erwähnten Widerspruch, wonach die Brücke außerhalb des Traumes nicht dreierlei zu gleich sein kann – zwei Ufer und deren Verbindung. Aber auch das in zeitlicher Perspektive verwendete Bild von der Brücke ist problematisch: Zwischen der Herkunft eines Volkes aus dem Dunkel heroischer Geschichten und Legenden und seiner prinzipiell uneinsehbaren Zukunft gibt es keine gerade Verbindung, keine »Identitätsbrücke« vulgo »Nation«. Das herbei geträumte Ideal der »Identitätsbrücke«, die das in der gesellschaftlichen Realität durch unterschiedliche Interessen und Mentalitäten gespaltene Volk vereinheitlichen soll, erweist sich als Krücke zwischen Traum und Wirklichkeit. Die vermeintliche Brücke hat keinen Ort in der Realität und führt nirgendwohin.
Postscriptum II (2011): Die Identität von Hängebrücken, Leuten und Nationen
In der zweiten Fassung des Romans (1879/80) hat Keller den Abschnitt umgeschrieben und politisch entschieden verschärft. Aus der Brücke wurde eine »Hängebrücke« über »ein endloses Meer von großen Baumwipfeln«. Von der Hängebrücke erfährt man gar nicht, was sie verbindet. In der »dunklen Tiefe« sieht Heinrich lediglich seine Mutter, die »eine kleine Herde Silberfasanen« hütet, und er hört sie sagen: »Mein Sohn, mein Sohn, wann kommt er bald, geht durch den Wald?« Danach sieht sich Heinrich plötzlich auf einem Berg und blickt auf eine Stadt, in der er Türme »von der fabelhaften Bauart« und schöne Mädchen entdeckt. Sein Pferd, den »Goldfuchs neben mir«, sieht Heinrich »einen halsbrecherischen Weg« hinuntersteigen und plötzlich »fing das Pferd an zu sprechen«. Als Ross und Reiter vor einer »mit zahlreichen Malereien« bedeckten Wand stehen, auf der »Vergangenheit und Zukunft nur ein Ding« zu sein scheinen, gerät Heinrich ins Grübeln. Er fragte den Goldfuchs, so heißt sein Pferd, was das Gemälde bedeute, und das Pferd antwortet: »Dies nennt man die nationale Identität der Nation.« Und Heinrich erwidert dem Pferd: »Ei, du bist ein sehr gelehrsamer Gaul! Der Hafer muss dich wirklich stechen!« »Erinnere dich«, sagte der Goldfuchs darauf, »auf wem Du reitest! Bin ich nicht aus Gold entstanden? Gold aber ist Reichtum und Reichtum ist Einsicht.«
»Nun sage mir, du weiser Salomon, begann ich nach einer Weile von neuem: »Heißt eigentlich die Brücke die Identität oder die Leute, so darauf sind? Welches von beiden nennst du so?«
»Beide zusammen sind die Identität, sonst spräche man ja nicht davon!«
»Der Nation?«
»Der Nation versteht sich!«
»Also ist die Brücke auch eine Nation?«
Auf den Selbstwiderspruch angesprochen, gesteht das Pferd: »Wisse, wer diese heikle Frage zu beantworten und den Widerspruch zu lösen versteht, der ist ein Meister und arbeitet an der Identität selber mit. (…) Übrigens erinnere dich, dass ich nur ein von dir geträumtes Pferd bin und also unser ganzes Gespräch eine Ausgeburt und Grübelei deines eigenen Gehirns ist.«
Der Disput zwischen Heinrich und dem Goldfuchs endet damit, dass Heinrich messerscharf schließt, dass »das Geheimnis deiner ganzen Identitätsfrage das gemünzte Gold« ist, dass »Gemünztes« also den Kern der nationalen Identität darstellt und so »Privatsachen mit den öffentlichen Dingen« im Handstreich »identisch« werden – freilich nur dort, wo der Pferdeverstand herrscht.
3 »Nationale« Selbstbestimmung – der Stimmungsmacher im Schlachthaus
Der Rekurs auf die Geschichte ist ein beliebtes Element bei der Begründung von Rechtspositionen. Der Haken dabei: Der Weg ist nach hinten hin offen und endet im Stockdunkeln, und jedes alte Recht hat ein älteres hinter sich. Einfacher ist es deshalb, durch Gewalt geschaffene Tatsachen nachträglich mit juristischen Girlanden zu versehen. Auch dieses Verfahren hat einen Nachteil. Es verbürgt keinerlei Dauer. Am vermeintlich selbstverständlichen »nationalen« Selbstbestimmungsrecht ist das nachvollziehbar.
Historiker, Juristen, Philosophen, Politiker und Lexikographen sprachen im 19. Jahrhundert quer durch das politische Spektrum nicht vom »nationalen Selbstbestimmungsrecht« oder vom »Selbstbestimmungsrecht der Völker« wie z. B. die UNO-Resolution Nr. 545 vom 5.2.1952, sondern vom »Nationalitätenprinzip.« Dieses war mit einer Reihe von Sicherungen verbunden. Das repräsentative »Deutsche Staatswörterbuch« von Bluntschli/Brater zum Beispiel zählte drei Einschränkungen auf, von denen jede das ebenso anachronistische wie oberflächliche Gerede vom »nationalen Selbstbestimmungsrecht« oder vom genuinen Zusammenhang von Nationen und Demokratie Lügen straft, selbst wenn sich die konservativen Lexikographen ihrerseits in haltlosen Annahmen über die »historische Rechtsordnung« und die »naturgemäße Entwicklung« verstrickten: »1. Jede Nation, welche eine ihr eigentümliche Staatsidee und zugleich die Kraft und das Bedürfnis hat, dieselbe zu verwirklichen, ist berechtigt, einen nationalen Staat zu bilden; aber sie ist bei diesem Bestreben verpflichtet, die historische Rechtsordnung insoweit zu respektieren, als dieselbe nicht ihre naturgemäße Entwicklung widerrechtlich hindert. 2. Die Herstellung eines nationalen Staates erfordert keineswegs die Vereinigung aller nationalen Bestandteile zu einem Staatsganzen, sondern nur ein so starkes Zusammenwirken nationaler Elemente, dass das der Nation eigene Staatenbild zu sicherer und ausreichender Erscheinung gelangt. 3. Die höchste Staatenbildung beschränkt sich nicht auf eine einzelne Nationalität, sondern verbindet verschiedene nationale Elemente zu einer gemeinsamen menschlichen Ordnung.«1 Mit der letzten Einschränkung stellen sich die Autoren, die man sich gerne in nationalen Kategorien befangene Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts vorstellt, als jenen zeitgenössischen Politologen überlegen heraus, denen zum Konkurs der Sowjetunion nichts Besseres einfällt als der Rat, zur vermeintlich normalen nationalstaatlichen Territorialisierung zurückzukehren. Der Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl war ebenso konservativ wie hellsichtig (eine Mischung von intellektuellen Fähigkeiten, die den Konservativen des 20. Jahrhunderts weitgehend abhanden gekommen ist), hielt »eine neue Konstituierung des europäischen Staatenbestandes nach den Nationalitäten« schon 1856 für »unausführbar und chimärisch, da die Nationalitäten auch in den Wohnsitzen nicht geschieden bleiben ... und man so die eine nicht befreien kann, ohne die andere zu unterdrücken.«2 Der Ruf nach vermeintlicher nationalstaatlicher Normalität ist immer der Ruf nach einem imaginären »Zurück«, weil es eine solche Homogenität, die sich als Normalität drapiert, praktisch nirgendwo und niemals gegeben hat; wo sie ansatzweise existiert hat, aber längst anachronistisch geworden ist, wäre Homogenität nur mit grenzenloser Gewalt wiederherstellbar. Weil es den Ideen von Homogenität, Reinheit und Einheit immer und überall an Realität gebrach, verbanden sie sich je nach den Umständen mit Religion, Rasse oder Nationalität und gewannen so bereits zu Beginn der nationalen Bewegung alle Charakteristika der pathologischen Wunschvorstellung, das Fremde und Andere zu assimilieren, zu vertreiben oder