Aufgreifen, begreifen, angreifen. Rudolf Walther

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Название Aufgreifen, begreifen, angreifen
Автор произведения Rudolf Walther
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895508



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den – unter Umständen – negativen Seiten des Zivilisationsprozesses zu verrechnen, nach der Devise: Passiere, was wolle, für »Kultur« und »Zivilisation« als Resultate bleibt der Saldo immer positiv, denn die Schattenseiten des Prozesses erscheinen nur als historische Reibungsverluste. Unüberbietbar hat das FAZ-Feuilleton (21.12.93) die verlogenen Prätentionen, die mit beiden Begriffen fest verschweißt sind, noch einmal aufgetischt: »Die Umweltproblematik ist zur Kulturfrage unserer Zivilisation, nicht nur der Industrienationen, geworden und damit zum Zentralbegriff einer neuen Kosmopolitik.«

      Vereinzelte Versuche, der Doppeldeutigkeit zu entgehen, indem man etwa den Zivilisationsbegriff für die negativen, den Kulturbegriff für die positiven Seiten des Prozesses wie der Resultate der »Zivilisation« reklamierte, setzen sich nicht durch. Heinrich Pestalozzi identifizierte das Ancien Régime 1797 als »Civilisationsverderben«, »Civilisation« mit »Tierheit« und »Cultur« mit »Menschlichkeit«. Auch der umgekehrte Normierungsversuch scheiterte: »Das Streben der Menschheit ist ihre Civilisation. Jeder Fortschritt, den ein Volk in seiner Civilisation macht, wird als eine teilweise Erfüllung seiner Lebensaufgabe betrachtet und geehrt; und nicht leicht achten wir ein Opfer für zu groß, wenn es der Förderung oder Ausbreitung menschlicher Civilisation dient« (Johann Caspar Bluntschli 1857).

      Solange das Fortschrittsmodell unbestritten blieb, galt auch das »Axiom der Vergleichbarkeit« (Jörg Fisch) und der Messbarkeit von »Kultur« und »Zivilisation« an einem einzigen, von Europa aus definierten Maßstab. Mit der Pluralisierung von Kulturen und Zivilisationen in der wissenschaftlichen Ethnologie, einsetzend mit Edward Burnett Tylor (1871), hat der Maßstab seine Selbstverständlichkeit und seine Geltung eingebüßt. Kulturen und Zivilisationen sind heute nicht mehr länger mit Hinweis auf den buchhalterisch bereinigten »Stand« von »Kultur« und »Zivilisation« einzuordnen, sondern nur – auf der Basis der Anerkennung universalistischer ethischer und rechtlicher Normen – untereinander zu vergleichen. Die Kriterien dafür sind in den doppeldeutigen und doppelbödigen Begriffen »Kultur« und »Zivilisation« im Singular gerade nicht zu fassen, sondern nur ethisch-politisch bzw. rechtlich; als normierende und normative Begriffe sind sie deshalb obsolet geworden.

      Dem versucht man wieder einmal zu entgehen, indem man den geschichtsphilosophisch positiv aufgeladenen Begriff »Zivilisation« negativ umpolt. Das Muster dafür liefert der seit dem Fin de siècle geläufige, abendländisch oder untergangssüchtig oder beides zugleich orchestrierte Kultur- und Zivilisationspessimismus – wilhelminischer Stammtisch-Nietzsche.

      Zygmunt Bauman diagnostizierte das »Jahrhundert der Lager« als Kulminationspunkt und legitimes Produkt »unserer modernen Zivilisation«. Günter Kunert räsonierte über »die Abschaffung der Kultur durch die Zivilisation« (DIE ZEIT 4.2.1994), als ob er das Abendland mit der Munition aus dem gymnasialen Gesinnungsaufsatz der 50er Jahre verteidigen müsste: »Wir haben doch mehr Geräte ... als je zuvor ... Man ist nicht mehr neugierig ... Obwohl wir ... mehr Freizeit haben, fehlt uns, um diese zu nutzen, die Muße ... Wir sind längst von Ungeduld infiziert.« Wer ist »wir«?

      Bauman und Kunert sehen den zivilisatorischen Zug bremsen- und führungslos auf einer einzigen abschüssigen Strecke davonrasen und vergessen darob die Vielfalt des Geländes, durch das sich der Zug seit der Aufklärung bewegt. An der bisherigen Geschichte gibt es gar nichts zu beschönigen, aber mit einem weichenlosen, schnurgeraden Schienenweg hat sie nichts zu tun – in ihren Abgründen wie in ihren besseren Momenten. »Die Kritik der instrumentellen Vernunft« (Max Horkheimer) und »Die Dialektik der Aufklärung« (Max Horkheimer/Th. W. Adorno) haben das unvermeidliche Pendeln aller bisherigen zivilisatorischen Bewegungen zwischen Kultur und Barbarei an den gesellschaftlichen Realitäten dargelegt; ein Pendeln, das »nicht auf einem Zuviel, sondern einem Zuwenig an Aufklärung« beruht, und »die Verstümmelungen, welche der Menschheit von der gegenwärtigen partikularistischen Rationalität angetan werden«, ebenso produziert wie Widerständiges und Kritik: »Residuen von Freiheit« und »Tendenzen zur realen Humanität«.

      An die Stelle fortschrittstrunkenen Vertrauens auf die Zivilisation ist insbesondere bei Bauman einfach deren pauschale Denunziation getreten. Fahrplanmäßige Schematismen ersetzen dialektisches Denken. Ein geschichtsphilosophisch konstruiertes »widerspruchsloses Gesamtsubjekt« hat das andere abgelöst und suggeriert erneut »simple Totalentwicklung« – dieses Mal abwärts. »Solche Vorstellungen gehören zur Fassade, den kurrenten Ideen von Universalgeschichte und Lebensstil.«

      Ein Gerücht schleicht durch Europa. Dem Gerücht nach sollen die Wörter »Geopolitik« oder »geopolitisch« Sachhaltiges aussagen. Gerüchte leben davon, dass sie sich unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit verbreiten. Sie sind Selbstläufer wie gemeine Dummheiten und Binsenwahrheiten. Im Falle der »Geopolitik« lautet die vom Gerücht zur Binsenwahrheit eingedickte Reduktionsformel: »Die Geopolitik ist nichts anderes als eine von den Zwängen der Geographie geforderte Politik« – so Pierre Béhar, Professor »für deutschsprachige Literatur und Kultur« sowie »zentraleuropäische Geopolitik«. Trotz des forschen Tons ist über »Zwänge der Geographie« wissenschaftlich nichts ausgemacht außer der Banalität, dass einem Inselstaat am Äquator Schiffe wichtiger sind als wintertaugliche Kettenfahrzeuge. Aber schon die Frage nach Art der Schiffe, die ein solcher Staat benötigt, findet in seiner geographischen Lage keine Antwort. Dass Politik in Raum und Zeit stattfindet und insofern eine geographische Grundlage und eine chronologische Dimension hat, ist eine logische Voraussetzung, die nichts dazu sagen kann, wie und in welchem Ausmaß geographische Lage und Chronologie (sowie erheblich wichtigere Faktoren!) eine bestimmte Politik zu einem bestimmten Zeitpunkt beeinflussen. »Geopolitische Erklärungen« sind deshalb notorisch erschlichen und von kaum unterbietbarer Schlichtheit. So offeriert der Militär-Geopolitiker Heinz Brill in seinem Ullstein-Buch »Geopolitik heute« für die Tatsache, dass die USA auf den Fall der Mauer gelassener reagierten als andere Staaten, die »geopolitische Erklärung«, dass die USA »kein unmittelbarer Nachbar Deutschlands« seien. Was nicht reines Gerücht bleibt, sondern das Niveau einer Binsenwahrheit erreicht, bewegt sich in Brills Buch zur »Geopolitik« in dieser Preislage. Eine andere Studie »zur Modellierung geopolitischer und geoökonomischer Prozesse« (Stefan Immerfall) kommt über Pleonasmen nicht hinaus: »Zentrumsbildung und Grenzziehung« haben demnach »oft« eine »geographische Dimension« – und Schimmel sind »oft« weiß. Nur wo Wissenschaft mit »integrativer Integrität« betrieben wird, ist auch die Bemerkung erlaubt, »mehr und mehr« werde »die Bedeutung von Raum und Zeit für soziale Geschehensabläufe wieder entdeckt.« Was wären denn »soziale Geschehensabläufe« außerhalb von Raum und Zeit? Einbildungen und Phantasmen. Raum und Zeit sind elementarste Voraussetzungen aller Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis.

      Was es dagegen mit der Konsistenz »geopolitischer Logik« nach der von der »taz« (7.6.95) beschworenen »Rückkehr der Geopolitik« auf sich hat, beschreibt Béhar: »Die geopolitischen Fakten sind zweifacher Art. Einige dieser Fakten sind zwingend«, andere »nur richtungsweisend«. Trefflich. Welche Art von Fakten wohin gehören, und nach welchen Kriterien sie abgegrenzt werden, verrät der Autor nicht. Er kann dies so wenig wie alle anderen, die von »Geopolitik« daherreden, als gäbe es diese als »Faktum«, als »Wissenschaft« oder als »Logik«. »Geopolitik« beruht nicht auf Fakten oder Logiken. Sie leitartikelt sich »Fakten« und »Logiken« zurecht und konstruiert beliebige Bezüge, die als »Kausalitäten« oder »Gründe« für politisch kontingente Ziele herhalten: »Die Demokratie hat einen geopolitischen Raum: den Nationalstaat« (so die »Geopolitiker« Lucio Caracciolo und Angelo Bolaffi). Drei Großbegriffe, aus denen zwei Anachronismen und ein Gemeinplatz destilliert werden. Erstens: Die Behauptung über den im Übrigen immer sehr lockeren und kurzfristigen Zusammenhang von Demokratie und »Nationalstaat« ändert nichts daran, dass einige Formen der Demokratie über zweitausend Jahre älter sind als der Frischling »Nationalstaat«. Zweitens: Wahrscheinlich ist, dass die Demokratie, wenn sie den Namen verdient, in Zukunft ohne den Anspruch auf »Nationalstaatlichkeit« auskommen muss, weil über das Kriterium nationaler Zugehörigkeit niedergelassene Ausländer immer von politischer Partizipation ausgeschlossen, aus dem Land getrieben oder getötet wurden. Der »geopolitische Raum« schließlich ist jenseits der Banalität, dass jeder Staat ein Territorium braucht, für