Ich bin dann mal nicht weg. Gernot Zimmermann

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Название Ich bin dann mal nicht weg
Автор произведения Gernot Zimmermann
Жанр Языкознание
Серия Wagner'sche Reihe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783703065477



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Corona-Lage hat sich brutal verschärft, Italien meldet schon über 3.000 Tote, die meisten Menschen sterben in der Lombardei. Das Virus breitet sich auch in Österreich aus, auch hierzulande gibt es bereits Tote. Die Regelungen bezüglich der Ausgangssperren sind ziemlich verwirrend, vorgestern wurden von der Regierung nur vier Gründe genannt, warum man das Haus verlassen darf – Spazierengehen war nicht dabei. In Innsbruck sind alle Promenaden sowie alle Sport- und Spielplätze behördlich gesperrt, die Polizei kontrolliert streng und es hagelt bereits saftige Strafen. Dann hat es wieder geheißen, mit einem Hund darf man spazieren gehen, ohne Hund dürfe man sich lediglich im nahen Umkreis seiner Wohnung die Füße vertreten. Und schließlich wurde gestern verkündet, dass man doch auf die Straße gehen darf, allerdings ist jegliche sportliche Betätigung verboten. Wegen der Verletzungsgefahr, denn Ärzte und Spitäler haben momentan anderes zu tun …

      Die Voll-Isolation ist also aufgehoben, das Wetter traumhaft und so steht einer Fortsetzung meiner Wanderung durch Innsbruck nichts mehr im Weg. Ilse begleitet mich heute zu Fuß, wir werden erneut direkt von der Haustür aus starten. Den Stadtteil Pradl habe ich ja schon als erledigt abgehakt, jetzt ist Amras dran.

      Wir beginnen unsere Tour mit der Geyrstraße (Letzter Amraser Bürgermeister, 1894–1957), sie ist de facto die Verlängerung der Kranewitterstraße. Wir spazieren Richtung Süden, natürlich können wir nicht über die vierspurige Amraser-See-Straße drüber gehen, dafür ist eine Unterführung vorgesehen. Körperlich geht es mir super, die drei Tage Pause haben mir gutgetan. So macht mir auch der kleine Anstieg nichts, der uns aus der Unterführung herausbringt. Genau an dieser Stelle war früher das Gasthaus „Seewirt“ angesiedelt, mit großem Gastgarten und einem noch größeren Campingplatz. Mit meinem Opa bin ich hier manchmal auf ein Kracherl eingekehrt, auch schon über 50 Jahre her. Heute steht hier ein langgezogener Wohnblock, der bis hinunter zu der Kreuzung reicht, wo man dann links zum Einkaufszentrum „DEZ“ zufahren könnte. Wir halten uns aber geradeaus, denn die Geyrstraße geht noch ein schönes Stück weiter. Zuerst führt mein Weg am Amraser Kindergarten vorbei, danach steigt die Geyrstraße ziemlich an und schau, es meldet sich doch glatt wieder meine linke Wade. Wurscht, nur 100 Meter weiter vorne beim Dorfbrunnen steht eine Bank, das schaffe ich locker. Beim Rasten schaue ich zur Metzgerei „Hölzl“ rüber, die gegenüber liegt. Hier war ich oft einkaufen, als in Amras wohnendes Kind sowieso, später habe ich immer wieder mal auf eine schnelle Fleischkäsesemmel vorbeigeschaut. Das Geschäft ist längst geschlossen und in ein reines Wohnhaus umgebaut worden.

      Amras hat sich aber noch einiges von seinem dörflichen Charakter erhalten können, es gibt noch mehrere Bauernhöfe in diesem Stadtteil und der eine oder andere wird bis heute bewirtschaftet. Ein Traktor auf der Straße ist hier kein seltener Anblick.

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      Nach dem feinen Break sehen wir das Ende der Geyrstraße schon vor uns, denn das Gasthaus „Bierwirt“ ist das letzte Haus. Seit gestern ist der „Bierwirt“ behördlich geschlossen, so wie alle anderen Gastgewerbe- und Handelsbetriebe in ganz Österreich auch. Schon ein völliger Wahnsinn, dieses Virus. Ewig kann das jedenfalls nicht so weitergehen, denn sonst werden die meisten der jetzt geschlossenen Betriebe nie wieder aufsperren. Andererseits ist das Corona-Virus wohl nur durch solch extreme Maßnahmen zu bekämpfen. Es muss auf jeden Fall weg, denn was es anrichten kann, sieht man ja in Italien. Die Leute halten sich jedenfalls gut an die Ausgangsbeschränkungen, es ist kaum wer auf den Straßen unterwegs. Einmal fährt eine Funkstreife an uns vorbei, wir gehören aber offenbar für jedermann sichtbar einem gemeinsamen Haushalt an, deshalb bleiben wir unbehelligt und können unsere Wanderung fortsetzen.

      Wir halten uns nach dem „Bierwirt“ rechts, gehen die 100 Meter lange und leicht ansteigende Straße hinauf bis zum Winkelfeldsteig (Flurname). Der ist zu Beginn noch links und rechts von Häusern gesäumt, später geht er in einen reinen Feldweg über. Im Garten eines dieser Häuser, auf der rechten Seite, habe ich als Kind ein großes Schiff stehen gesehen. Das hat sich jemand selber gebaut, irgendwann war es weg. Ich hoffe sehr, dass mir da nicht Traum und Wirklichkeit durcheinanderkommen, denn ich habe ein bisserl recherchiert, aber nichts rausgekriegt. Vielleicht weiß ja ein Leser mehr über dieses Schiff am Winkelfeldsteig …

      Normalerweise ist das hier ein vielbegangener Spazierweg, noch dazu bei diesem schönen Wetter. Heute begegnen wir nur einer einzelnen Familie, später kommen uns noch zwei Jogger entgegen. Kurz nach dem Übergang von Asphaltstraße zu Feldweg steigt linkerhand eine steile Böschung zur Autobahn hinauf. Auf diesem „Mini-Berg“ bin ich unzählige Male Ski fahren und rodeln gewesen, wir wohnten ja nur einen Steinwurf (na ja, eher drei Steinwürfe) entfernt in der Philippine-Welser-Straße (Landesfürstin, 1527–1580). Und die machen wir gleich im Anschluss, schließlich verläuft sie parallel zum Winkelfeldsteig. Wir beginnen an der Kreuzung mit der Amraser Straße und natürlich gibt es für mich hier keinen Meter, der nicht mit Erinnerungen gepflastert ist. Gleich einmal am Anfang der Straße liegt rechts die Kirche der Mormonen und da wurden wir als Kinder von unserem Vater in die „Sonntagsschule“ geschickt! Er hatte Besuch von zwei Mormonen bekommen, viele können sich an die paarweise in Anzug und Krawatte durch Innsbruck radelnden, jungen, meist amerikanischen Männer erinnern. Und er konnte dem verlockenden Angebot nicht widerstehen, dass die Mormonen aus seinen Buben anständige Menschen machen würden. Also pilgerten wir halt hin zur „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“, so nennen sich die Mormonen in der Langfassung. Der Spaß währte nur kurz, nach der zweiten Session sind wir nicht mehr hingegangen, für derlei Agitation waren wir völlig unempfänglich. Vater war es dann auch egal, das Thema Mormonen wurde nie mehr erwähnt.

      Seit wenigen Jahren geht man ja in der ersten Hälfte der Philippine-Welser-Straße den Gleisen der 3er-Linie entlang, die neue Endhaltestelle liegt genau gegenüber der Raika. Gleich dahinter haben wir unsere Wohnung gehabt und vieles in der Gegend schaut noch so aus wie früher. Ab dem ehemaligen Café „Trappschlössl“ sind alle Häuser in der Straße unverändert geblieben, seit ich vor 50 Jahren hier als Kind gewohnt habe. Gut, das kleine Lebensmittelgeschäft der Familie Anranter gibt es nicht mehr, aber das hat schon sehr lange zugesperrt. Über den Anranter – man ist damals „zum Anranter“ gegangen – könnte ich auch seitenlang schreiben, geht nicht, also müssen es Stichworte tun: aufschreiben lassen, Bomben-Semmel, Wurstsemmel mit Katzenwurst.

      Wir gehen weiter, kommen am Gasthaus „Kapeller“ vorbei, das war einmal eines der besten Gourmet-Restaurants Innsbrucks, zumindest aber das teuerste. Ich war nie dort. Dann sind wir eh schon bei der Amraser Kirche, in der ich ein paar Mal ministriert habe. Das ist kein sonderlich ergiebiges Kapitel, also überspringe ich es. Nur so viel – ich bin nicht mal zum Klingeln oder Weihrauchbehälter-Schwenken gekommen.

      Schon sind wir mit der Philippine-Welser-Straße fertig, drehen um und gehen die paar Meter zur Kirche zurück. Links davon geht der Kirchsteig (nomen est omen) weg, mein ehemaliger Schulweg. Hier habe ich die ersten drei Klassen der Volksschule besucht und ich bin meinen Lehrern noch lange in Erinnerung geblieben. Aber nicht als Rabauke, sondern als erster Erstklässler, der in der Pause Zeitung gelesen hat. Erklärung: Mein Bruder Robert wurde ein Jahr vor mir eingeschult, er hat fleißig seine Hausaufgaben gemacht und ich habe brav zugeschaut. So lernte ich spielerisch das Lesen, konnte bald darauf auch die Druckschrift entziffern und ab da bestand eine Zeitung für mich nicht nur mehr aus Bildern. Mein Vater war so stolz auf mich, dass ich bei Verwandten und Bekannten aus der Zeitung vorlesen musste. Durch das viele Lob wurde mir langsam klar, dass das offenbar etwas Besonderes ist. Und so ist es gekommen, dass ich mir manchmal am Schulweg eine Zeitung aus dem Müll gefischt habe und demonstrativ in der Klasse gelesen habe. Einer meiner Lehrer hat sich jedenfalls auch 30 Jahre später noch kopfschüttelnd daran erinnern können.

      So, jetzt sind wir mit dem Kirchsteig schon durch, aber noch nicht mit ihm fertig. Wir gehen ihn nämlich gleich noch einmal retour und danach die Philippine-Welser-Straße in Richtung Westen. Ein Stück nach der Raika drehen wir nach Norden und sind somit in der Wallpachgasse (Innsbrucker Lyriker, 1866–1946) angekommen. Hier hat Ilse als Kind und Jugendliche ein paar Jahre lang gewohnt, übrigens schräg gegenüber von unserem Wohnblock. Wir hätten uns von unseren Fenstern aus zuwinken können!

      Die kurze Wallpachgasse ist schnell durchschritten und