Ich bin dann mal nicht weg. Gernot Zimmermann

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Название Ich bin dann mal nicht weg
Автор произведения Gernot Zimmermann
Жанр Языкознание
Серия Wagner'sche Reihe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783703065477



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Stehenbleiben auf. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich muss aber gehorchen, sonst bestraft sie mich wieder mit dem Einzigen, was sie zu bieten hat – mit bösen Schmerzen. Allein schon bis zur Telefonzelle an der Ecke zum Grabenweg muss ich zwei weitere Male stehenbleiben, heute geht’s einfach nicht. Der Josef-Mayr-Nusser-Weg geht nach dem Grabenweg noch weiter und als er am Griesauweg endlich sein Ende findet, habe ich keinen Schritt ohne Schmerzen gehen können. Da passt es wie die Faust aufs Auge, dass ich kurz vor dem Ziel an einem Schrottplatz vorbeikommen – genauso abgewrackt fühle ich mich nämlich momentan auch.

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      Völlig ausgelaugt von den paar hundert Metern Gehen falle ich auf den Beifahrersitz und in dem Moment wird mir klar: Das ist kein Muskelkater mehr, ich habe was anderes. Hoffentlich keine Thrombose, da schmerzt nämlich auch oft als Erstes die linke Wade. Das habe ich von Dr. Google erfahren, aber weil ich kein ganzer Trottel bin, lasse ich mich natürlich von einem richtigen Doktor untersuchen. Ich kriege dann tatsächlich bereits am kommenden Montag einen Termin, um 15 Uhr werde ich bei Dr. Jörg Schnapka in der Museumstraße auf der Matte stehen. Das Projekt ist natürlich unterbrochen.

      Reim des Tages:

      Solltest du vor Schmerzen schon die Sterne sehen,

      dann musst du dringend zum Doktor gehen.

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       Dienstag, 23. Juni 2020

      Leider ist alles anders geworden. Vor fast sieben Wochen bin ich meine letzte Straße gegangen, es war die 113. auf meiner Liste. Fehlen also noch weit über 500 Straßen, Gassen, Plätze etc.

      Seit der Untersuchung durch Dr. Jörg Schnapka weiß ich, dass die Schmerzen in meiner Wade nichts mit Untrainiertheit oder Muskelkater zu tun haben. Kurz zusammengefasst: Das ständige Aua wird von der PAVK verursacht, das ist die „Periphere Arterielle Verschlusskrankheit“. In meinem Fall ist eine Arterie bereits so verstopft, dass der Blutfluss eingeschränkt ist und meine Wade permanent mit Sauerstoff unterversorgt wird. Und dann schreit sie. Im Volksmund nennt man die PAVK auch Schaufensterkrankheit (wo ich doch eh so ungern einkaufen gehe!) und das hat damit zu tun, dass sich die Betroffenen alle 100 oder 200 Meter ausrasten müssen, weil die Schmerzen beim Gehen zu groß sind. Und damit das nicht so auffällt, gehen sie gern in Innenstädten spazieren – bei einem Schaufensterbummel bleibt man schließlich auch immer wieder mal stehen … Meine Krankheit ist unheilbar, theoretisch könnte man zwar einen Stent einsetzen oder einen Bypass legen, aber solche Operationen verlaufen oft nicht nach Wunsch. Dr. Schnapka meint, an ein altes Gefäß kann man halt nur schlecht einen Bypass aus Goretex anschließen. Wenn ich meinen Arzt etwas besser kennengelernt habe, dann frage ich ihn, ob er mir das Ganze in einem kleinen Interview erklärt. Vor allem deshalb, damit ich als medizinischer Laie keinen Blödsinn verzapfe, was meine Krankheit betrifft. Mal schauen …

      Mein Geh-Radius liegt aktuell bei 170 Metern schmerzfrei, danach kann ich noch gut 30 bis 50 Meter unter immer heftiger werdenden Schmerzen weiterhumpeln. Danach ist Schluss, rien ne va plus, ich würde umfallen wie ein Sackerl Zement. So kann ich meine „Erstbegehung von Innsbruck“ natürlich nicht mehr fortsetzen, auch wenn ich versuchen möchte, so viele Straßen wie möglich trotzdem zu Fuß zu gehen. Viele Gassen sind ja so kurz, dass ich mit meinem Radius von plus/minus 200 Metern locker durchkommen sollte. Aber wie soll ich von der Hungerburg runterkommen? Die Höhenstraße ist 3,5 Kilometer lang. Oder wie soll ich die „Höll“ in der Gramartstraße bewältigen? Die hat eine 28-prozentige Steigung. Das geht einfach nicht mehr. Auch die Igler Straße, die Haller Straße oder die Kranebitter Alle nicht – von der Länge her ist das vollkommen illusorisch.

      Mit der Wagner’schen und dem Universitätsverlag Wagner ist jetzt ausgemacht, dass ich das Projekt trotzdem vollenden soll, die langen Straßen werde ich halt mit der Vespa abfahren. So komme ich auch in jede Gasse und Straße Innsbrucks, wenn auch nicht per pedes. Das ist unendlich schade, ich wäre so gerne weitermarschiert! Hat mich also mein Gefühl doch nicht getäuscht – ich hätte mein „Ich bin dann mal nicht weg“ schon vorigen Sommer durchziehen sollen. Ohne Corona, ohne PAVK – das Buch wäre längst am Markt. Aber – ich war nie ein Hatti-Wari-Typ, die Situation ist jetzt so, wie sie ist, und wird durch Jammern und Selbstbemitleidung keinen Deut besser. Die Motivation ist halt leider weg – mit der Vespa ist das keine richtige Herausforderung mehr, das kann mir ja jeder nachmachen.

      Trotzdem setzen wir mein Projekt fort, das Wetter ist perfekt und Ilse bringt mich in die Roßau hinunter. In diesem Stadtteil fehlen mir nur noch wenige Adressen und spontan beschließe ich, die alle noch zu Fuß zu gehen. Dann habe ich wenigstens die ersten drei Stadtteile Innsbrucks „ordnungsgemäß“ erledigt. Die Vespa kommt dann ab morgen zum Einsatz.

      Beim Kreisverkehr neben der Jet-Tankstelle steige ich aus, der Griesauweg (alte Grundbuchbezeichnung) ist heute als Erstes dran. Ich habe mir ein Fitnessarmband gekauft und teste gleich aus, wie viele Schritte ich schmerzfrei gehen kann. Es sind selten über 230. Das werden bei meinem Schrittmaß gerade mal 170 Meter sein. Zach! Ilse muss mich am Griesauweg dreimal einsteigen lassen, aber dann ist die letzte längere Straße der Roßau erledigt. Auch hier reiht sich Firma an Firma und als ich beim Autohaus Denzel vorbeikomme, schaue ich, ob er mal wieder einen McLaren-Sportwagen in der Auslage stehen hat. Leider nicht, aber wie als Kompensation fährt ein weißer Audi R8 an mir vorbei, mein Lieblings-Supersportwagen.

      Als Nächstes nehmen wir uns die Dr.-Adolf-Hörhager-Straße (Innsbrucker Politiker, 1884–1940) vor, sie verbindet die Roßaugasse mit der Trientlgasse und ist 200 Meter lang. Und wie ich diese kurze Straße so entlangspaziere, trifft mich nach gut 150 Metern plötzlich ein Blitz der Erkenntnis: Wenn ich mich nach meinen 170 bis 200 Metern ins Auto setze, dort eine halbe Minute raste, dann beginnen die nächsten 170 schmerzfreien Meter. Und wieder und wieder und wieder. Immer wieder von vorne. Zwar muss ich mich pro Kilometer fünf- bis sechsmal ausrasten, aber dann bin ich immerhin einen Kilometer weit gekommen. Ob das auch 50 Mal hintereinander möglich wäre? Dann könnte ich ja zehn Kilometer und mehr am Tag schaffen, na das wär’ was …

      Ich teste das gleich weiter aus und lasse mich zur Eduard-Bodem-Gasse (Pionier des Flugrettungswesens, 1910–1977) führen. An der Ecke zum Grabenweg gehe ich los und komme gleich einmal bei dem Gebäude vorbei, wo sich früher die Redaktion des Tiroler Nachrichtenmagazins ECHO befunden hat. Ich war als Journalist und Redakteur fast zehn Jahre lang mit an Bord, bis das Monatsmagazin leider eingestellt worden ist. Im Gebäude daneben bin ich auch drei Jahre lang aus- und eingegangen, denn da war das Tirol TV untergebracht und ich war dort Fernsehredakteur. Überhaupt ist das eine richtige Medien-Ecke hier, denn auch das Innsbrucker Stadtblatt hat in der Eduard-Bodem-Gasse seine Redaktionsräumlichkeiten. Die ich auch von innen kenne, denn beim Stadtblatt war ich als Fotoreporter beschäftigt, mein erster Job im Journalismus überhaupt.

      Beim Durchmarsch der Eduard-Bodem-Gasse komme ich dann beim Helga-Krismer-Platz (Mitbegründerin des Technologieparks Roßau, 1940–1993) vorbei. Von dem höre ich heute das erste Mal, der dürfte noch nicht lange so heißen. Aber schön, dass ich gleich eine weitere Adresse aus meiner Liste streichen kann. Die Eduard-Bodem-Gasse reicht eh nur bis zur Valiergasse vor, ich bin ohne Pause durchgekommen. Ilse wartet genau an der Ecke, ich steige ins Auto ein und lass meine Frau schon nach 300 Metern wieder anhalten. Schließlich wollen wir nicht an der Etrichgasse (Flugzeugkonstrukteur, 1879–1967) vorbeifahren. Auch diese Straße verbindet die Valiergasse mit dem Grabenweg, also liegt auch sie innerhalb meiner Geh-Weite. Die kurze Pause während der Herfahrt hat meinen „Waden-Akku“ so weit aufgeladen, dass ich die Gasse ohne Pause bewältigen kann. Auch wenn die letzten 30 Meter hart waren. Langsam kriege ich ein Gefühl dafür, wie lange ich jeweils pausieren muss. Länger als eine halbe Minute brauche ich nicht, allerdings nur dann, wenn ich sitzen kann. Im Stehen erhole ich mich erstens langsamer und zweitens schlechter. Da gehen nach einer Pause kaum mehr als 100 Meter schmerzfrei.

      Die nächste Adresse geht mitten in der Etrichgasse in Richtung Westen ab und nennt sich Stadlweg (eventuell ein alter Flurname). Gleich links steht die große Tennishalle und