Gommer Winter. Kaspar Wolfensberger

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Название Gommer Winter
Автор произведения Kaspar Wolfensberger
Жанр Языкознание
Серия Ein Fall für Kauz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311702184



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auf dem Kameradisplay. Mit dem Galenstock im letzten Abendlicht und mit der Nebelbank in der Rottenebene war er recht zufrieden. Die Sturmstimmung talabwärts mit dem gerade noch sichtbaren, umwölkten Weisshorn hatte er gut eingefangen. Er löschte die Bilder, die ihm nicht gefielen, und sicherte einige, die ihm besonders gelungen schienen. Er ging auf dem Display weiter zurück und schaute sich auch die Bilder von der skurrilen, sommerlichen Winterlandschaft mit dem unnatürlichen weißen Band in der Talsohle an. Diese Bilder erfreuten zwar nicht das Herz, aber sie waren eine gelungene Dokumentation der Realität.

      Letzten Sommer, als er nach seiner unerwarteten Freistellung bei der Zürcher Kriminalpolizei Hals über Kopf ins Goms geflüchtet war, hatte er die fast in Vergessenheit geratene Freizeitbeschäftigung der digitalen Schwarz-Weiß-Fotografie wiederbelebt. Seither ging er im Goms kaum ohne Kamera ins Freie. Zum Langlaufen nahm er das sperrige Ding natürlich nicht mit, da begnügte er sich mit dem Fotografieren per Smartphone.

      Samstag, 8. Dezember

      Zwei Tage lang war es ordentlich kalt gewesen, die Sonne schien, und es lag knöchelhoch Schnee. Jetzt schlug es wieder um. Es schneite zwar den ganzen Tag, aber nur ganz sanft. Ein Temperaturanstieg war angesagt, bald würde der Niederschlag als Regen fallen, und dann war es mit der Winterpracht wohl wieder vorbei.

      Im Langlaufen machte Kauz rasche Fortschritte.

      »Prima, Kauz! Sehr gut! Du kannst es!«, rief ihm Claire zu. »Es ist wie Velofahren: So was verlernst du nie, wenn du es mal gekonnt hast.« Schonungsvoll benannte sie ab und an Mängel seiner Lauftechnik, die es zu korrigieren galt.

      Claire war eine der Üsserschwiizer Instruktorinnen, die Carlo für die Saison angeheuert hatte. Die Hälfte der Skilehrer an der Langlaufschule Steffen waren Gommer, die andere Hälfte stammte aus dem Unterland. Anders als Nik, der die Technik seiner Schüler trocken kommentierte, lobte Claire immerzu, wenn sie mit ihren Kursteilnehmern sprach. Kauz vermutete, dass sie im Hauptberuf Heilpädagogin war. Meist begann sie den Unterricht mit Aufwärmübungen, die an Ringelreihetänzchen erinnerten. Auch Ballzuwerfen zur Schulung von Gleichgewicht und Beweglichkeit sowie Merkspielchen, darauf angelegt, sich die Namen aller Teilnehmer einzuprägen, gehörten in ihr Programm. Kauz war leicht genervt davon. Aber er hatte in den zwei Tagen trotzdem eine Menge von Claire gelernt.

      »Ihr habt gaaanz tolle Fortschritte gemacht!«, lobte Claire am Schluss des zweistündigen Unterrichts überschwänglich. »Ich bin echt stolz auf euch! Morgen ist Kursende. Übt heute Nachmittag also fleißig weiter! Ihr seid die beste Klasse, die ich je hatte!« Sie klatschte der Klasse mit behandschuhten Händen Beifall.

      Als die Teilnehmer auseinandergegangen waren, blieb Kauz neben ihr stehen und fragte: »Weiß man etwas von Fabienne?«

      »Leider nicht«, murmelte Claire.

      Kauz spürte, dass sie gern mehr gesagt hätte, aber nicht recht wusste, ob sie durfte. Vor und nach dem Unterricht wurde bei den Skilehrern über das Thema Fabienne rege getuschelt. Es war durchgesickert, dass es zwischen Fabienne und Björn Zoff gegeben hatte und dass Fabienne im Zorn – einige wussten zu berichten: in tiefer Verzweiflung – davongelaufen sei. Es war nicht mehr auszuschließen, dass Fabienne nicht bloß schmollte, sondern dass ihr etwas zugestoßen war. Oder dass sie sich etwas angetan hatte.

      »Will Carlo nicht, dass ihr darüber sprecht?«, fragte Kauz.

      »Na ja«, wand sich Claire. »Er will halt nicht, dass man es an die große Glocke hängt.«

      »Verständlich«, meinte Kauz. »Wann hat man Fabienne denn das letzte Mal gesehen?«

      »Am Mittwochnachmittag. Auf dem Weg zum Bahnhof, heißt es.«

      »Ach so«, sagte Kauz, »vielleicht ist sie ja bloß weggefahren.« Aber er glaubte seinen Worten selbst nicht.

      Schon am Mittwochabend war ein Streifenwagen der Walliser Kantonspolizei vor Steffen Sport vorgefahren. Zwar war alles diskret abgelaufen, aber dennoch bekamen einige mit, dass tags darauf der Skischulleiter Carlo Steffen, die Kursadministratorin Zara und der Skilehrer Björn von der Polizei befragt wurden. Die Gerüchteküche brodelte demzufolge, wenn auch auf kleiner Flamme.

      Kauz nahm sich Claires Empfehlung, weiter zu üben, zu Herzen und lief nach dem Unterricht auf den Skiern nach Münster zurück. Er nahm einen Imbiss und machte sich für die Hundeloipe bereit. Die war jenseits von Reckingen angelegt, und so nahm er den Zug. Auf dem Rückweg ging er mit Max in der Langlaufschule Steffen vorbei, um sich für einen weiteren Kurs einzuschreiben. Er wollte seine frisch gemachten Fortschritte vertiefen.

      »Okay, Kauz«, sagte Zara, als er im Kursbüro an der Theke stand. »Wenn du nahtlos anschließen willst, dann wäre das ein Dreitages-Kurs, Beginn am Montag. Oder willst du eine ganze Woche buchen?«

      »Drei weitere Tage, fürs Erste«, sagte Kauz und versuchte, Zara wenigstens zu einem Blickwechsel zu bewegen. Doch sie sah konstant auf den Bildschirm oder blätterte in ihren Papieren.

      »Viel zu tun?«, fragte er.

      »Ja«, antwortete sie knapp und hämmerte auf die Tastatur. »Die Kurse sind recht busy«, ergänzte sie, vielleicht um nicht unhöflich zu sein. »Du wirst sehen, die Klassen sind nächste Woche eher größer.«

      »Sind dann auch mehr Instruktoren da?«

      »Nein«, erwiderte sie. »Das nicht, außer …«

      »Außer Fabienne taucht wieder auf, meinst du?«

      Zara nickte und beschäftigte sich wieder mit ihren Papieren.

      »Weiß man …?«

      »Nein«, unterbrach sie ihn, ohne aufzusehen. »Aber Carlo gibt heute vor dem Abendessen ein kurzes Communiqué heraus.«

      »Ein Communiqué? Schriftlich?«

      »Nein, er sagt einfach ein paar Worte zu den Teilnehmern, die im Galenblick logieren. Damit die Gerüchte nicht überkochen. Und damit man Björn in Ruhe lässt.«

      »Verstehe. Aber ich wohne nicht hier im Hotel.«

      »Ach so, stimmt. Na dann«, sagte sie, die Augen fest auf den Bildschirm geheftet.

      Zicke!, dachte Kauz.

      Doch noch ehe er sich abwandte, sah sie plötzlich doch noch auf, blickte ihn aus ihren braunen, etwas eng stehenden Augen intensiv an, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und fügte, dann aber ohne den Hauch eines Lächelns, hinzu: »Mach’s gut.«

      Sonntag, 9. Dezember

      In der Nacht vom Samstag auf den Sonntag fiel mehr Schnee, der nach und nach in Regen überging. Am Sonntagnachmittag, die Temperatur war mittlerweile auf über zehn Wärmegrade gestiegen, regnete es in Strömen. Im Unterland blies der Fön. Der Schnee verwandelte sich in unappetitlichen Matsch. Schneepflüge waren unterwegs, schoben den Matsch beiseite, damit das Regenwasser von den Straßen abfließen konnte und nicht die Keller der Wohnhäuser überschwemmte. Die Bäume, die vor zwei Tagen noch wunderschön verschneit dagestanden hatten, waren nun wieder schäbig und braun anzusehen.

      Der Langlaufkurs konnte am Sonntagvormittag nur noch schlecht und recht beendet werden. Eilig lösten sich die Klassen nach der letzten Unterrichtsstunde auf. Niemand hatte Lust, noch lange im Regen herumzustehen. Wer an diesem Tag abreiste, verabschiedete sich von Claire und den anderen Teilnehmern mit dem Versprechen, nächstes Jahr wiederzukommen. Diejenigen, die noch etwas länger blieben, wünschten sich gegenseitig besseres Wetter.

      Ein Tag zum Vergessen!, dachte Kauz, als er nach dem Unterricht, die Skier geschultert, durch die Lange Gasse watete. Vor seinem Speicher stand der Schneematsch knöcheltief. Er ließ Max aus dem Speicher, holte die Schneeschaufel aus dem gegenüberliegenden Ziegenstall und schob den Matsch beiseite, damit das Wasser abfließen konnte. Indem er Max mit der Hand Regenwasser ins Gesicht spritzte, brachte er den Hund dazu, sich draußen energisch zu schütteln. Sonst hätte der das in der Küche getan, und diese Dusche wollte Kauz sich und dem Mobiliar ersparen.

      Er holte den Schlüssel