Gommer Winter. Kaspar Wolfensberger

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Название Gommer Winter
Автор произведения Kaspar Wolfensberger
Жанр Языкознание
Серия Ein Fall für Kauz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311702184



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Stichverletzung am Fuß, am Bein, vielleicht auch in der Leiste, das könnte ich mir noch vorstellen. Aber an der Brust?«

      Nik hob kurz die Hände, auch er wusste hier keine Antwort.

      »Kanntest du sie?«, fragte jemand Nik.

      »Sue? Ich weiß, wie sie aussieht. Und dass sie eine Top-Langläuferin ist. Aber näher kenne ich sie nicht.«

      »Und Fabienne?«

      »Schoo. Sie ist ja eine Gommerin. Im Goms kennt jeder jeden.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ä flotti Meggä.«

      Das war, aus Gommer Mund, höchste Anerkennung. Flott war im Goms gebräuchlich, wenn man den Charakter oder die äußere Erscheinung einer Person würdigen wollte.

      »Meggä?«, fragte jemand.

      »Mädchen«, erklärte Nik. »Ein flottes, ein tolles Mädchen.«

      »Fabienne ist doch kein Mädchen«, protestierte eine Unterländerin. »Sie ist – sie war, meine ich – eine Frau. Eine junge Frau, meinetwegen. Aber doch kein Mädchen!« Es war nicht das erste Mal, dass sich diese Kursteilnehmerin für politische Korrektheit einsetzte.

      Nik sah der Üsserschwiizeri ins Gesicht.

      »Än änds flotti Meggä«, wiederholte er seelenruhig, nicht mal eine Spur von Rechthaberei in der Stimme.

      Das hat gesessen, dachte Kauz, denn die Frau wagte nun nicht mehr Nik zu kritisieren. Der Mann gefällt mir. Än änds flottä Kärli.

      Als der Kurs gegen Mittag vorbei war, wollte Kauz von Nik wissen, ob er nach den eben abgelaufenen drei Kurstagen nochmals vier weitere buchen könne.

      »Du hast jetzt sieben Tage Unterricht hinter dir. Jetzt ist Praxis angesagt. Üben, üben, üben. Langlaufen, von Oberwald nach Niederwald und zurück«, grinste er. Und wenn er unbedingt einen weiteren Kurs nehmen wolle, so solle er eher Skaten lernen.

      »Skaten?«, erwiderte Kauz. »Ich weiß nicht. Ich glaube, das ist dann doch nichts für mich.«

      Nachmittags um drei hatte Kauz seine Runden auf der Hundeloipe hinter sich. Er stand im Kursbüro der Langlaufschule und wartete, bis Zara Zeit für ihn hatte. Das konnte noch dauern, also ging er die paar Schritte ins Hotel hinüber und setzte sich in einen bequemen Sessel im Eingangsbereich.

      Gleich stand eine junge Kellnerin vor ihm und fragte nach seinen Wünschen.

      »Oh«, sagte Kauz, »sitze ich da im Restaurationsbereich?«

      »Nein, nein«, meinte die Frau zuvorkommend, »hier besteht kein Konsumationszwang. Sie dürfen gern einfach hier sitzen. Ich dachte nur …«

      »Danke«, sagte Kauz.

      Der Galenblick machte auf ihn, nach dieser kurzen Begegnung mit einer aufmerksamen und freundlichen Mitarbeiterin, einen ausgesprochen guten Eindruck.

      Matteo Steffen, der Hoteldirektor, tauchte an der Rezeption auf und begrüßte einen neuen Gast. Doch zeigte er nicht das übliche Hoteldirektorlächeln, sondern drückte dem Gast, der um die vierzig sein mochte, lange die Hand. Er fasste ihn gleichzeitig mit der Linken am Oberarm wie einen alten Bekannten und sah ihm bekümmert ins Gesicht.

      »Es tut mir aufrichtig leid, Franz. Dass du unter so traurigen …«, hörte Kauz ihn leise sagen. Doch schon hatte Matteo den Mann, der eine Nickelbrille à la John Lennon trug und irgendwie verstört wirkte, von der Rezeption weggezogen. Allem Anschein nach führte er ihn höchstpersönlich auf sein Zimmer.

      Das muss Sue Bronggs Mann sein, dachte Kauz. Oder sonst ein Angehöriger.

      »Darf ich?«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.

      »Alain!«, rief Kauz. Ihm war klar, dass Kriminalinspektor Gsponer beruflich hier war. Aber er freute sich trotzdem, seinen Freund zu sehen. »Sicher. Setz dich. Kaffee?«

      »Gern. Einen starken. Hab aber nur eine Viertelstunde.«

      Kauz winkte der Kellnerin und bestellte zwei Espresso, für Gsponer einen Doppio. Anders als Kauz es nach Zaras leicht genervten Bemerkungen erwartet hatte, herrschte an der Rezeption im Augenblick Flaute. Gsponer blickte trotzdem um sich; es saß niemand in ihrer Nähe.

      »Spurensicherung?«, fragte Kauz mit Flüsterstimme, als die Tässchen vor ihnen standen.

      Gsponer nickte.

      »Hier im Hotel? Im Gästezimmer?«

      Gsponer nickte abermals. »Schon erledigt«, fügte er hinzu.

      »Befragungen?«

      Gsponer nickte zum dritten Mal. »Sind im Gang«, sagte er, die Hand vor dem Mund. »Was ich dich fragen wollte«, sprach er weiter, jetzt noch leiser: »Darf ich mir deine Kamera ausleihen?«

      »Sicher.«

      Man geht also von Mord aus, dachte Kauz. Vielleicht hofft man, dass meine Bilder trotz allem helfen, den Täter zu finden.

      »Sind es zwei Fälle oder einer?«

      »Zwei«, murmelte Gsponer. »Wollen wir an die frische Luft? Hier drinnen ist es mir zu …«

      »Klar«, sagte Kauz und legte das Geld neben die leeren Tässchen.

      »Hör zu, Kauz«, sagte Gsponer, als sie draußen waren, und steckte sich sofort eine Zigarette zwischen die Lippen. Sie gingen durch den Schnee, weg vom Sporthaus Steffen und vom Hotel Galenblick, bis keine unbefugten Ohren mehr in Hörweite waren. »Diesmal kann ich dich nicht ins Vertrauen ziehen«, eröffnete er ihm, das Streichholz noch in der Hand, »beim besten Willen nicht. Aber weil du uns mit der Entdeckung der ersten Leiche und mit deinen Bildern wohl auf die richtige Spur gebracht hast, wenigstens so viel: Bivinelli hat die Autopsie der Leichen in Bern angeordnet. Die Todesursache – in beiden Fällen die gleiche – steht mittlerweile fest: eine Kombination von Verbluten und Ersticken am eigenen Blut. Die zwei Leichen weisen fast identische Verletzungen auf. Das hat Bivinelli schon bei der Leichenschau festgestellt, und sein Befund wurde durch die Autopsie in Bern bestätigt. Suizid kommt nicht infrage. Und ob im Fall Baawaldschtuzz ein Unfall passiert ist, steht noch nicht fest. Die Untersuchungen, 3D-Rekonstruktionen und so weiter, du weißt schon, sind noch nicht abgeschlossen. Die Forensiker tüfteln noch daran herum, wie die tödlichen Verletzungen zustande kamen oder zugefügt wurden. Das kann noch dauern. Das war’s«, lachte er und fuhr sich mit einer Reißverschlussbewegung über den Mund.

      »Schon gut«, schmunzelte Kauz. »Ich frage ja gar nicht weiter.«

      Gsponer begann zu schlottern. Allen Vorhersagen zum Trotz, die für diesen Tag Sonnenschein versprochen hatten, war es schon den ganzen Tag bedeckt, windig und kalt gewesen. Gsponer blieb stehen, hielt sich den wie immer offen getragenen Kragen seiner Wildlederjacke samt Schafwollfutter mit beiden Händen zu und betrachtete die durchnässten Spitzen seiner schicken Wildlederstiefel. »Vielleicht noch das«, fügte er, wie zu sich selbst redend, an: »Wir müssen wohl von einem Beziehungsdelikt ausgehen. Andere Hypothesen verfolgen wir natürlich weiter. Es scheint da ein Dreieck zu geben«, nuschelte er.

      »Dreieck? Zwischen …?«

      Gsponer überhört das und fuhr fort: »Wir konzentrieren uns vorerst auf das Umfeld der Langlaufschule Steffen. Zieh daraus bitte keine voreiligen Schlüsse. Aber das eine Opfer war Instruktorin, das andere offenbar eine Stammkundin der Schule und des Hotels. Bloß dumm, dass viele Kursteilnehmer, die diese und letzte Woche da waren, abgereist sind. Wir konnten nicht alle befragen. Das verzögert die Ermittlungen. Das von der Langlaufschule sage ich, weil ich weiß, dass du seit einer Woche hier ein und aus gehst. Wie gesagt, Kauz, du wirst diesmal nicht einbezogen. Tut mir leid.«

      »Mir nicht«, sagte Kauz gleichmütig.

      »Ach ja?«, machte Gsponer und sah seinen Freund von der Seite an. »Aber trotzdem: die Langlaufschule Steffen. Wenn dir da irgendetwas auffällt oder zu Ohren kommt, lass es mich bitte wissen.«

      »Ist doch klar«, sagte Kauz.