Gommer Winter. Kaspar Wolfensberger

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Название Gommer Winter
Автор произведения Kaspar Wolfensberger
Жанр Языкознание
Серия Ein Fall für Kauz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311702184



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tote Frau zu identifizieren, fährt dann wieder nach Münster zurück – und wird in derselben Nacht noch mal nach Sitten zitiert, um eine Tote aus seiner Rennklasse zu identifizieren?! Was für eine Zumutung!«

      »Das war tatsächlich zu viel für ihn«, gab Ria betreten zu. »Aber die Sache war etwas anders.«

      Björn war in Tränen ausgebrochen, als der Rechtsmediziner das Leichentuch zurückschlug und seine tote Frau vor ihm lag. Dann fasste er sich wieder und kümmerte sich um die untröstlichen Schwiegereltern. Es war mittlerweile Nacht geworden, die drei beschlossen deshalb, nicht nach Münster zurückzufahren, sondern in Fabiennes und Björns Wohnung in Glis zu übernachten, um die Tote am nächsten Morgen nochmals besuchen zu können. Vielleicht ließen sich die Rechtsmediziner von Björns äußerlich gefasster Haltung täuschen. Und so fragte ihn am nächsten Morgen Bivinellis Assistentin, ob er auch die vermisste Langlaufschülerin identifizieren könne.

      »Ist sie denn wieder aufgetaucht?«, fragte er zurück.

      Irgendwie hatte er die Frage missverstanden. Es überstieg wohl seine Vorstellungskraft, dass er nochmals eine Tote identifizieren sollte. Er hatte am Vorabend selbst noch die Rettungskolonne alarmiert, als Sue gegen Abend nicht vom Training zurück war. Da wusste er noch nichts vom Tod seiner Frau.

      Mittlerweile hatte man ihn schon in einen benachbarten Raum geführt.

      »Nein, sie ist nicht aufgetaucht«, sagte die Assistentin. »Die Rettungskolonne hat sie gefunden. Am Baawaldschtuzz. Können Sie …«, und damit schlug sie das zweite Leichentuch zurück.

      Björn sah den Leichnam und erstarrte.

      »Kennen Sie die Frau?«

      »Ja, das ist Sue«, sagte er tonlos.

      Man führte ihn hinaus, setzte ihn im Korridor auf eine Bank, brachte ihm ein Glas Wasser und holte schließlich die Schwiegereltern. Aber auch die brachten kein Wort mehr aus ihm heraus. Björn stierte nur noch vor sich hin ins Leere.

      »Was ist jetzt mit ihm?«, fragte Thomas.

      »Er liegt im Spital«, sagte Ria. »Er steht unter Schock.«

      Mittwoch, 12. Dezember

      »Entschuldige«, sagte Zara mit gekränktem Gesichtsaus- druck, »aber hier ist gerade sehr viel los.« Sie legte den Finger auf eine ausgedruckte Teilnehmerliste und blickte zwischen dem Papier und dem Bildschirm hin und her. Nur ganz kurz sah sie Kauz an und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich kann mich im Augenblick nicht um dich kümmern. Die Leute spinnen. An normales Arbeiten ist überhaupt nicht zu denken.«

      »Das tut mir leid«, erwiderte Kauz. »Ist ja verständlich, nach allem, was passiert ist.«

      »Klar ist das schlimm«, gab sie zurück. »Aber deswegen gleich abreisen und das Kursgeld zurückverlangen! Das ist doch auch pietätlos. Und mich haben sie heute schon dreimal von der Arbeit weggeholt.«

      »Wer sie?«, fragte er.

      »Wer wohl? Die Polizei natürlich. Im Moment sind sie drüben im Hotel. Nicht nur Carlo, auch Matteo wird schon den ganzen Tag ausgequetscht.«

      Da Kauz nicht im Galenblick logierte, hatte er davon nichts mitbekommen.

      Der Tag hatte beklemmend begonnen. Schon am Vortag war unter den Langläufern das Gerücht umgegangen, man habe die Skilehrerin Fabienne Bacher tot unter einer Rottenbrücke gefunden. Weiter wurde gemunkelt, auch die Langläuferin Sue Brongg sei tot, sie sei am Baawaldschtuzz verunfallt. Kauz konnte sich vorstellen, wie die Gerüchteküche beim gestrigen Abendessen und heute beim Frühstück im Speisesaal des Galenblick weiterbrodelte. Denn anscheinend hatten weder die Kursleitung noch die Hoteldirektion über die Todesfälle informiert. Die Kursteilnehmer standen mit düsteren Mienen, verhalten tuschelnd im Freien, als Kauz morgens bei Steffen Sport eintraf. Die Skilehrer gesellten sich nicht wie sonst zu ihren Klassen, sondern stellten sich draußen vor der Schule auf. Kauz sah sofort, dass Björn immer noch fehlte.

      Carlo Steffen, für einmal selbst im Langläuferdress, trat vor die versammelten Kursteilnehmer und begann mit belegter Stimme:

      »Sportsfreunde. Ich habe leider eine traurige Nachricht. Nein, zwei unendlich traurige Nachrichten. Gestern wurde unsere Instruktorin Fabienne Bacher am Rotten tot aufgefunden. Ihr wisst, dass sie seit letztem Mittwoch vermisst war. Wir haben gehofft, dass sie wohlbehalten wieder auftauchen würde. Aber leider ist es anders gekommen. Was ihr zugestoßen ist, wissen wir noch nicht. Und –«, jetzt stockten seine Worte, »unsere Kursteilnehmerin Sue Brongg ist gestern auf der Loipe schwer verunfallt und an den Unfallfolgen gestorben. Man hat sie vergangene Nacht …«, er hob die Arme kurz an, ließ sie dann hilflos wieder fallen und schüttelte den Kopf, als könne er seine Nachricht selbst nicht glauben. Dann schluckte er und setzte erneut an: »Man hat sie gestern Nacht –«, seine Stimme drohte zu brechen, »am Baawaldschtuzz gefunden.«

      Carlo zog ein Taschentuch hervor, schnäuzte sich, fuhr mit der Hand über die Augen und sprach dann weiter: »Wir können alle nicht fassen, was geschehen ist. Es war Gottes Wille«, schloss er dann pathetisch.

      Kauz reagierte auf solche Floskeln allergisch. Dummes Zeug!, dachte er. Woher willst du das wissen?

      »Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Verstorbenen«, fuhr Carlo weiter. »Bei Björn, der seine Frau, und bei den Eltern Bacher, die ihre Tochter verloren haben. Und bei Sues Ehemann und ihrer Familie. Wir wollen …«, und damit schaute er in die Runde, drehte sich nach seinen Instruktoren und Mitarbeitern um, die sich zu seiner Rechten aufgereiht hatten, und fuhr dann fort: »Wir wollen zu Ehren der Verstorbenen eine Minute lang schweigen.«

      Carlo senkte den Kopf und legte die in dicken Handschuhen steckenden Hände zusammen. Einige taten es ihm gleich, ein paar nahmen die Skimütze vom Kopf, andere wischten sich über die Augen oder zückten ihr Taschentuch. Kauz schaute geradeaus auf die Reihe der Skilehrer und Mitarbeiter. Alle Instruktoren blickten zu Boden oder hielten die Augen geschlossen. Noldi bohrte in der Nase. Zara sah wie Kauz geradeaus. Für einen Moment kreuzten sich ihre Blicke.

      Als die nicht enden wollende Minute vorbei war, richtete sich Carlo auf und sagte zu den versammelten Langläufern:

      »Viele von euch, viele von uns, haben vielleicht keine große Lust darauf, jetzt am Training teilzunehmen. Es soll sich auch niemand gezwungen fühlen. Aber das Leben geht – für uns – weiter, und deshalb bitte ich euch: Geht langlaufen! Die beiden Verstorbenen hätten es bestimmt so gewollt. – Björn ist nicht da«, schloss er, »ich übernehme seine Klasse.«

      Damit bückte er sich nach seinen Skiern und ließ die Bindung zuschnappen. Er winkte der Rennklasse, die jetzt nur noch aus fünf Skatern bestand, ihm zu folgen, machte ein paar rasante Schlittschuhschritte und stieß sich dann erst mit den Stöcken ab. Die Skater schlossen sich Carlo an, und die Gruppe verschwand im Nebel.

      Nik versuchte seiner Klasse noch den letzten Schliff im klassischen Stil zu verpassen. Doch er hatte nur die halbe Aufmerksamkeit seiner Schüler.

      »Wie kann so etwas passieren?«, fragte ein junger Teilnehmer, als Nik mit ihnen auf einem Loipenstück Schussfahrt, Bremsen und Stoppen übte. »Ich meine, ein tödlicher Unfall durch einen Sturz beim Langlaufen? Ich kann mir das kaum vorstellen.«

      »Kennst du den Baawaldschtuzz?«, fragte Nik zurück.

      Der Mann schüttelte den Kopf. Mittlerweile hatten sich auch die übrigen Läufer um Nik geschart.

      »So viel kann ich dir sagen: Wenn der vereist ist, dann ziehen auch die besten Läufer ihre Latten aus und steigen zu Fuß neben der Loipe ab, statt auf ihr runterzusausen. Ich weiß wirklich nicht, was in Sue gefahren ist, dass sie dieses Risiko einging.«

      Dann wiederholte er seine Warnung für steilere Abfahrten: Es solle ja keinem einfallen, mit den Skistöcken abzubremsen, wenn das Tempo zu hoch werde. Es könne zu sehr schlimmen Verletzungen führen, wenn jemand sich dabei den Stock in den Bauch ramme.

      »Aber bei Sue soll es eine offene