Gommer Winter. Kaspar Wolfensberger

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Название Gommer Winter
Автор произведения Kaspar Wolfensberger
Жанр Языкознание
Серия Ein Fall für Kauz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311702184



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irgendwann wieder in Niederwald zu wohnen, aber einstweilen war daran nicht zu denken.

      Als Ria gegangen war, räumte Thomas die Küche auf, staubsaugte die Wohnung und putzte anschließend das Badezimmer. Dann zog er seine Langlaufsachen an, fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage, in welcher der für ihn umgebaute Familienwagen stand, hievte sich ins geräumige Auto – sein Paraplegikerschlitten war schon darin verstaut – und fuhr los.

      Es war kurz nach Mittag, als er auf dem Parkplatz von Steffen Sport ankam. Er stellte den Wagen auf einem für Paraplegiker reservierten Parkplatz gleich neben der Loipe ab. Ein Paar, das sich eben für den Langlauf bereitmachte, half ihm, aus dem Auto in den Schlitten umzusteigen. Sie schoben ihn auf die Loipe, und Thomas stieß sich mit kräftigen Stockstößen Richtung Münster.

      Es herrschte kein ideales Langlaufwetter. Der Himmel war bedeckt, kein Sonnenstrahl drang durch die Wolkendecke, und nach Schneefall sah es auch nicht aus. Die Wettervorhersagen hatten wieder einmal danebengelegen. Doch die Loipen waren gut präpariert, und wenn man die steilen Stellen mied, gab es keine Probleme mit Vereisungen. In der Rottenebene schaute Thomas zur Enggä Briggä hinüber. Es hätte ihn gereizt, sich dort umzusehen, aber das war natürlich ausgeschlossen. In seinem Schlitten musste er sich strikt in der Spur der klassischen Loipe halten, sonst gab es für ihn kein Vorwärtskommen. Der Aufstieg nach Münster, für Langläufer mit gesunden Beinen keine große Sache, forderte ihn sehr. Knapp unterhalb des Dorfrands führte die Loipe wieder zum Rotten hinunter. Thomas fuhr weiter, über Geschinen hinaus Richtung Ulrichen. Beim Loipentreff, einer alten Militärbaracke, vor der ein paar Holztische und Bänke aufgestellt waren, machte er Halt und gesellte sich zu den Hartgesottenen, die im Freien Pause machten, statt sich in die geheizte Baracke zu setzen. Es waren drei einheimische Langläufer, zwei junge und ein älterer. Thomas kannte sie, und sie kannten ihn. Doch wurde bei der Begrüßung kein großes Aufheben gemacht.

      »Salü«, sagte Thomas und sah kurz in die Runde.

      »Salü«, erwiderte einer. Auch wer sich kannte, nannte bei der Begrüßung kaum je den Namen des andern. Salü, das musste genügen. Sprach man jedoch von einem, klatschte man über einen, dann konnte dessen Name gar nicht oft genug fallen.

      »Soll ich dir etwas zu trinken holen?«, fragte ein anderer.

      »Nein, danke, ich habe was dabei«, sagte Thomas und griff nach seiner Thermosflasche, die er im Schlitten verstaut hatte.

      »Geets güät?«, fragte der erste.

      »Güät«, bestätigte Thomas. »Und sälber?«

      »Jaja. Güät«, lautete die Antwort, und damit war der Austausch von Höflichkeiten beendet.

      »Chaalt hittä, gäll?«, meinte ein dritter.

       »Äs geet. Chennti cheltär sii.«

       »Weischt dü äppäs?«

       »Was meenscht?«

       »Ä, va denä zwei tootä Fröwwä.«

      Ob er etwas von den zwei toten Frauen wisse, war die Frage. Da er der Ehemann der obersten Polizistin im Goms war, müsste er doch mehr wissen …

      »Was denn für Frauen?«, stellte sich Thomas dumm. Er wisse nur, dass Ria die halbe Nacht auf gewesen war.

      Es wüssten doch alle, dass die vermisste Fabienne Bacher tot aufgefunden worden sei. Unten, bei der Enggä Briggä. Nicht erfroren, sondern verblutet. Das habe der Imwinkelried Ruedi gesagt, der beim Loipendienst arbeite.

      Die drei kamen jetzt richtig in Fahrt mit dem Doorffä. Der Imwinkelried Ruedi habe in der Nacht vom Sonntag die Polizisten auf seinem Schneemobil zur Brücke gefahren. Er habe gehört, die Frau sei an Hals und Brust verletzt gewesen und wohl verblutet. Das Verrückte sei, dass auch die andere tote Frau, eine Langläuferin aus der Üsserschwiiz, die man vergangene Nacht am Baawaldschtuzz tot aufgefunden habe, eine Verletzung in der Brustregion aufgewiesen habe und daran verblutet sei. Auch das habe der Imwinkelried Ruedi gesagt, der habe nämlich auch gestern Nacht mit der Rettungskolonne ausrücken müssen. »Das gibt’s doch nicht!«, habe der Rechtsmediziner gerufen, »schon wieder so eine Verletzung!«, so etwas habe er noch nie erlebt. Ob er, Thomas, sagen könne, ob eine der Frauen oder vielleicht beide ermordet wurden?

      »Keine Ahnung«, sagte Thomas. »Ich wusste nicht einmal etwas von diesen Verletzungen. Nur, dass man zwei tote Frauen gefunden hat, das wusste ich.«

      Heute Abend weiß ich mehr, dachte er, und machte sich auf den Heimweg.

      »Ade!«, rief er den andern zu und fuhr wieder los.

      Wieder zu Hause, erfuhr er am Abend tatsächlich mehr: Laut Gerichtsmediziner seien Unfälle zwar nicht ausgeschlossen, aber genauso viel deute darauf hin, dass die Frauen umgebracht wurden.

      »Hat Alain Gsponer gesagt«, so lautete Rias Rapport, als die kleine Emma endlich im Bett war.

      Mama Ritz hatte für die kleine Familie das Abendessen zubereitet. Sie setzte sich aber nicht mit ihnen an den Tisch. Die Hälfte der Mahlzeit trug sie in einem Geschirr ins Obergeschoss. Ihr nicht ganz pflegeleichter Ehemann bestand darauf, gemeinsam mit ihr zu essen, und außerdem sollte die junge Familie auch ein Eigenleben haben.

      »Tee?«, fragte Ria und setzte schon das Wasser auf.

      »Ja«, sagte Thomas, »aber keinen Verveine.«

      »Weiß ich doch«, sagte sie, goss sich selber einen Verveine- und ihm einen Abendkräutertee auf. »Dafür mit Honig, oder?«

      Sie ging zur Sitzgruppe hinüber, stellte die Tassen aufs Beistelltischchen, ließ sich aufs Sofa fallen und fläzte sich hin.

      Thomas rollte neben sie.

      »Und was ist mit dem Chüzz?«, fragte er.

      »Der hat die Leiche von Fabienne Bacher bei der Enggä Briggä gefunden.« Sie erzählte ihm die Geschichte von seinen Schwarz-Weiß-Fotos. »Hätte er sie nicht entdeckt, so hätten wir jetzt nur eine Tote – und würden wahrscheinlich von einem spektakulären Unfall ausgehen. Aber gleich zwei Frauen mit offenen Verletzungen an Hals und Brust und beide in der Kälte verblutet oder am eigenen Blut erstickt, das war für den Rechtsmediziner und auch für den Kriminalinspektor eine zu seltsame Duplizität der Ereignisse.«

      Den Terminus, den Kauz gebraucht hatte, hatte sie gegoogelt.

      »Eine was?«, fragte Thomas.

      »Duplizität der Ereignisse.«

      »Ach so«, lachte Thomas. »Du meinst, wenn etwas gleich zweimal passiert?«

      »Zwei gleiche oder ähnliche, eher außergewöhnliche Ereignisse, gleichzeitig oder kurz hintereinander«, dozierte Ria.

      »Eben. Und wie geht’s jetzt weiter?«

      »Ermittelt wird in alle Richtungen: Unfall, bei Fabienne auch Suizid, und Mord. Die Leichen wurden heute auf die Rechtsmedizin nach Bern gebracht. Die untersuchen nicht nur die Todesursache, sondern auch die Natur der Verletzungen. Die Forensiker finden schon raus, ob die selbst beigebracht wurden, ob sie von einem Sturz in den eigenen Stock oder einem Ast herrühren oder ob sie von einem Dritten zugefügt wurden.«

      »Klar finden die das raus«, meinte Thomas, der Computertüftler. »Mit 3D-Röntgen- und Computeraufnahmen von der Leiche, von den Verletzungen, von den Holzstöcken oder Ästen. Aber sag mal, wissen die Angehörigen Bescheid?«

      »Die von Fabienne schon.«

      Björn und die Eltern Bacher hatten die Tote noch am späten Montagabend auf der Rechtsmedizin in Sitten identifizieren müssen. Kurz danach wurde die Leiche von Sue Brongg gebracht. Doch wer sollte die identifizieren? Den Teilnehmern ihrer Rennklasse konnte man das wohl kaum zumuten. Sue war die letzten zehn Tage allein im Hotel Galenblick einquartiert gewesen. Björn, ihr Klassenlehrer, kannte sie von allen am besten, er trainierte sie schon die längste Zeit, ihn musste man