Die Hegerkinder in der Lobau. Alois Theodor Sonnleitner

Читать онлайн.
Название Die Hegerkinder in der Lobau
Автор произведения Alois Theodor Sonnleitner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711570074



Скачать книгу

aufgezogen hätte. So wollte er mit dem Mesner verhandeln, um für Poldi völlige Straflosigkeit auszubedingen. Aber kaum hatte er die Holme berührt, als er zu seinen Kameraden zurückkehrte: „Der Oberlehrer kummt.“ Jetzt überfiel Hansi das Zittern; da schob ihn Franzel hinter den Poldi, er selbst aber neigte seinen Kopf dem Strengen entgegen und liess das Leiterchen wieder hinab. Der Oberlehrer, der zur Festigkeit der schmalen Leiter kein Vertrauen hatte, schmiegte sich so an das schwache Gerät, dass er sein Körpergewicht auf die Hände, Ellbogen und Füsse verteilte, und schob seine lange Gestalt ruhig und sachte in die Turmhaube empor, in deren Mitte er kaum aufrechtzustehen vermochte. Franzel begrüsste ihn mit den Worten: „Der Hansi kann nix dafür. Er wollt’ mir nur ’nunter helfen.“ Da glitt ein Lächeln über das Gesicht des wegen seiner Strenge Gefürchteten. „Darüber reden wir vielleicht später. Aber weil wir schon heroben sind, machen wir die Augen auf und schaun hinunter.“ Ein paar Minuten lang besah er vom Südfensterchen aus die Landschaft, dann begann er seine Erklärungen: „Schaut mit Ehrfurcht auf die Strassen, die Gärten, die Felder von Aspern. Es liegen hier weit umher viele tausende Österreicher begraben, es sind Deutsche, Tschechen, Slowenen, Polen, Kroaten und Ungarn, die in den denkwürdigen Maitagen des Jahres 1809 im gemeinsamen Abwehrkampfe gefallen sind, im siegreichen Kampf gegen den Franzosenkaiser Napoleon, vor dem ganz Europa gezittert hat. Und mancher Franzose schläft mit den ehemaligen Feinden Seite an Seite friedlich unter der Erde. Wenn am Strassenrand ein Laternenpfahl gesetzt wird oder ein Baum in einem Garten, stossen die Arbeiter mit ihren Spaten auf Menschenknochen. Und wenn beim Ackern der Pflug die Scholle wendet, bringt er verrostete Flintenläufe, Gewehrschlösser, Säbel, Bajonette, Gewehrund Kanonenkugeln ans Licht.“ — „In der Schul’ ist ein Kasten volldavon,“ schaltete Hansi ein, der die Angst vor dem Vater vergessen hatte. „Und beim Feitsinger Wirt drüben und beim unteren Wirt aa,“ ergänzte der Mesner-Poldi. „Schaut da hinüber, wo die Au am Enzersdorfer Donauarm den Einbug macht. Dort hat die Napoleonstrasse aufs Marchfeld herausgeführt aus der Lobau, wo Napoleon sein Hauptquartier und sein grosses Heerlager gehabt hat. Seit dem 13. Mai 1809 war er Herr von Wien; er hat damals in Schönbrunn residiert. Vom Schloss Kaiser-Ebersdorf aus, bei Schwechat drüben, hat er die Schiffsbrücke über die Donau geschlagen, so dass seine Armee herübermarschieren konnte auf die Lobauer Insel. Und am 20. Mai haben die Franzosen die Dörfer Aspern und Essling besetzt.“ Da unterbrach Franzel die Ausführungen des Oberlehrers. Er zeigte mit der Hand weit in die Ferne, wo jenseits der Donau-Auen in Wolkenhöhe ein mattes Blinken zu sehen war, das gedämpft wurde vom dünnen Nebelschleier: „Und dort is der Ötscher!“ Es klang wie ein Jubel der Wiedersehensfreude. —

      „Wenn’s auch nicht gerade der Ötscher ist, was da von weit her, von der steirischen Grenze zart herüberblinkt, ein hoher Berg ist’s wohl. Es ist der Schneeberg. Und links dahinter die Rax, deren Gipfel schon im Steirischen liegt. Mehr als 2000 Meter hoch, überragen beide Bergriesen den Anninger bei Baden, den Parapluieberg bei Perchtoldsdorf und andere Hügel des Wienerwaldes, die wir nicht sehen können, weil sie vom Wiener Kaab verschleiert sind.“ — „Am Schneeberg hab’ ich auch einen Onkel, den Losenheimer Gschaider,“ liess sich Franzel in freudiger Erregung vernehmen. Der Oberlehrer fuhr fort: „Aber viel schöner als vom Asperner Turm aus, der zu nah an den Auen steht, könnt ihr den Schneeberg sehen und die grünen Wellen der Wienerwaldberge, wenn ihr an einem hellen Tag von einer entfernteren Bodenwelle aus hinüberschaut, etwa von der Strasse aus, die hinüberführt von Aspern nach Hirschstetten. Von dort aus könnt ihr nicht nur die Rotunde im Prater sehn, die im Jahre 1873 zur grossen Weltausstellung fertig geworden ist, sondern auch den Stephansturm und unterhalb Wiens die Türme des Schlosses Kaiser-Ebersdorf, von dem aus Napoleon vor der Schlacht bei Aspern den Donau-Übergang seines Heeres nach der Insel Lobau bewerkstelligt hat.“

      Er wandte sich zum Westfensterchen, dessen verrosteten Riegel er kräftig wegstiess. Dem andringenden Winde entgegen, zeigte er hinüber zum Bisamberg. „Dort oben stand Erzherzog Karl, der nach der Niederlage bei Regensburg sein Heer über Böhmen hergeführt hatte, um den bisher unbesiegten Franzosenkaiser zu besiegen. Und drüber der Donau seht ihr das Kahlengebirg. Denkt von jetzt 200 Jahr zurück: 1683. Damals belagerten die Türken die Wienerstadt. Da kam der Polenkőnig Johann Sobieski mit seinen Reiterscharen den Österreichern zu Hilfe gegen die übermächtigen Eroberer. Vom Kahlengebirg aus fiel er die Türken an und jagte sie in die Flucht.“ — Der Oberlehrer öffnete nun das Ostfenster: „Seht euch die Asperner Strasse an, die nach Essling führt. Da sind im Jahr 1809 die Österreicher von Norden her auf die Franzosen gestossen. Um jedes Haus, um die Kirche, um den Friedhof wurde gekämpft, über Leichen und Verwundete tobte der mörderische Kampf. Napoleon verlor die Schlacht, flüchtete in die Lobau und zurück über die Donau. Da drüben seht ihr den Esslinger Schüttkasten, den alten Kornspeicher, in dem die Franzosen sich tapfer verteidigt hatten und den sie erst verliessen, als Napoleons Heer die Lobau räumen musste.“ Vom Nordfenster aus zeigte der Oberlehrer den Kindern das weite, ebene Marchfeld. „Wenn ihr genau schaut, erkennt ihr noch die langgezogenen feuchten Mulden, an denen hohe Pappeln und Weidenbäume Auen bilden. Das sind ehemalige Donauarme; da ist in alten Zeiten die Donau geflossen in krummen Wasserläufen und dort hat sie auch später, als das Land mit Ortschaften besiedelt war, bei Überschwemmungen ihre Wassermassen gewälzt und das Eis getrieben, weit hinüber bis nach Breitenlee und Markgraf-Neusiedel, wo bei Deutsch-Wagram der Lössboden1 einen natürlichen Wall bildet, der die Fluten abdrängte. Von dort steigt das Weingelände an, auf Bockfliess zu.“

      Erst durch die Vertiefung und Verbreiterung des einen, des „regulierten“ Strombettes sind die Wassermassen vom Marchfeld abgelenkt worden.

      Der Mesner-Poldi war zum Westfenster zurückgekehrt und zeigte nach rechts: „Herr Oberlehrer, auf der Stadlauer Seiten sieht man auch noch Franzosenschanzen.“ —

      „Das glauben die Leut’ nur,“ versetzte der Angerufene, „Franzosenschanzen sind nur in der Lobau und am Enzersdorfer Donauarm. Die anderen Schanzen aber zwischen Floridsdorf und Aspern sind aus dem 66er Jahr. Damals hatte Preussen, das mit Italien verbündet war, unter Führung des Königs Wilhelm I. gegen Österreich Krieg geführt, dessen Heer Erzherzog Albrecht befehligte.“

      Nach der Niederlage der Österreicher bei Königgrätz rückten die Preussen über Böhmen und Mähren gegen Wien vor.

      Trotz der in der preussischen Armee ausgebrochenen Cholera waren die Preussen 660.000 Mann stark. Als die Feinde bis Lundenburg, Oberhollabrunn, Nikolsburg und Pressburg vorgedrungen waren, warfen die Österreicher bei Floridsdorf, Hirschstetten und Aspern Schanzen auf. Aber der Nikolsburger Waffenstillstand und der Prager Friede machten dem Bruderkriege zwischen Preussen und Österreich ein Ende. Damals hatte Preussen allen deutschen Staaten seine Überlegenheit bewiesen und so den Grund gelegt zur Vereinigung der deutschen Länder im grossen Deutschen Reich.“

      Der Oberlehrer hatte sich in Eifer geredet, als spräche er nicht vor drei Knaben, sondern vor der ganzen Klasse. Der lebhafte Luftzug, der in dem kleinen Gemach herrschte, machte ihn frösteln. Er schloss alle Guckfenster bis auf das südliche, stieg als erster über die Leiter hinunter und half den Jungen beim Abstieg.

      In halber Turmhöhe machte der Mesner-Poldi auf den schmalen Gang aufmerksam, der auf den Dachboden der Kirche hinüberführte. Und der Oberlehrer liess sich bewegen, auch dort einzudringen. Da sahen sie über der vielbuckligen Kirchenwölbung den aus wuchtigen Balken gefügten Dachstuhl und darüber das vielfach durchlöcherte Schindeldach. „Vater,“ fragte Hansi, „sind die Löcher noch vom Franzosenkrieg her?“ „Nein, mein Lieber, die sind von den Spechten und Spechtmeisen; die suchen nach Würmern im Holz. Das Dach haben die Melker Stiftsherren aufsetzen lassen, weils im Neunerjahr abgebrannt war. Die Kirche gehört nämlich heut noch dem Melker Benediktinerstift aus der Zeit her, wo die östlichen Marchfelder Lehen1 den Passauer und Freisinger Bischöfen und die westlichen den Melker- und Schottenäbten gehörten. Der Kirchturm aber ist Eigentum der Asperner Gemeinde. Da zahlt sie die Ausbesserungen.

      Wohlbehalten langten alle vier vor dem Asperner Löwen an. Sie hatten nicht nur einen Blick auf die friedliche Gegend getan, sondern auch weit zurückgeschaut in vergangene Zeiten voll Angst und Kampf und Blutvergiessen. Als der Oberlehrer am nächsten Tage in der Klasse mit Hilfe der drei Knaben die Aussicht vom Asperner Kirchturm besprach, baten alle Kinder, er möge sie auch auf den Turm führen.