Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie. Helen Waldstein Wilkes

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Название Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie
Автор произведения Helen Waldstein Wilkes
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788711448533



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ich noch ein Kind war –, kreisten seine Sorgen um die Gegenwart. Selten sprach er über seine Jahre als Erwachsener in Europa. Nun, da ich mit dem Lesen dieser Briefe begonnen habe, versuche ich, auch die Wurzeln für diese umfassende Traurigkeit zu ergründen, was mir bis dato in keiner Weise gelungen ist.

      Einen Hinweis auf diese Traurigkeit fand ich im ersten Brief von Emil Fränkel. Im Brief vom 2. April 1939 folgt seine Handschrift unmittelbar der seiner Frau Martha. Ich habe fast den Eindruck, Emils Worte in der Stille des Morgens zu hören.

      Meine Lieben,

      Sehnsüchtig warteten wir alle auf Eure erste Nachricht über Euere Reise und Ankunft in Antwerpen. Ich war gerade bei den l. Eltern als Donnerstag um 11 Uhr vormittags der Brief von Euch kam. Der Brief wurde von mir geöffnet und der l. Papa hat ihn uns vorgelesen.

      Wir waren alle überglücklich, von Euch gute Berichte bekommen zu haben und haben alle einen Wunsch, der l. Gott möge Euch bis zu Eurem Ziel weiter begleiten. Wenn mir noch so nach Euch bange ist, so tröste ich mich damit, dass Ihr in einigen Tagen an Ort und Stelle sein werdet, wo Ihr nach langer Zeit Eure Ruhe gefunden habt.

      Zu den l. Eltern komme ich zweimal täglich und besorge für sie alle Wege. Eure Möbel von der Wohnung sind bereits bei Bush und stehen neben den Sachen von der l. Anny, die gemeinsam expediert werden. Es ist ganz ausgeschlossen an die l. Anny die erwünschten Sachen zu schicken. Wie Euch die l. Martha bereits geschrieben hat, warten wir auf Euren Bericht um sich ein Bild zu machen, welche Aussichten für uns dort bestehen. Vorderhand ist gar keine Möglichkeit, eine Ausreise zu erlangen. Liebreich sollte schon diese Woche mit seiner Familie nach Erez ausreisen und ist der Transport auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Onkel Fritz meint, wir sollen uns alle für den nächsten Transport anmelden. Arnold würde sich uns anschliessen. So arbeiten meine Gedanken Tag und Nacht und ich weiss nicht wo ich früher sein soll.

      Zeile für Zeile sann ich über den Brief nach, um ihn zu verstehen. Da Emil der Erste war, der die Schatten am Horizont wahrgenommen und meinen Vater ermutigt hatte, nach Kanada zu gehen, erwartete ich von ihm, dass er mehr Details als die anderen wissen würde. Obwohl viele Fragen blieben, enttäuschte mich dieser Brief dennoch nicht.

      Sehnsüchtig warteten wir alle auf Eure erste Nachricht über Euere Reise und Ankunft in Antwerpen.

      Sehnsüchtig! Dieses so poetisch verwendete Wort ist ziemlich fehl am Platz. Ich muss mich daran erinnern, dass diese Worte ja nicht von einem Dichter niedergeschrieben wurden, sondern von einem praktisch veranlagten, auf dem Boden der Tatsachen stehenden Geschäftsmann.

      Ich gehe noch einmal Marthas Teil des Briefes durch und sehe, dass sie ein Postskriptum angefügt hat, welches sie unterstrichen hat: Emil ist sehr einsam!

      Wie selten vernimmt man heutzutage einen Mann, der bekennt, einsam zu sein? Marthas Worte sind der Beweis für die große Zuneigung zwischen diesen beiden Männern und somit für die Tiefe des Verlustes für meinen Vater. Emil war nicht nur sein Schwager, sondern auch sein Vertrauter und sein bester Freund.

      Ich war gerade bei den l. Eltern als Donnerstag um 11 Uhr vormittags der Brief von Euch kam.

      Den Morgen verbringt Emil immer gleich: Er besucht die Eltern meiner Mutter, Max und Resl. Ich weiß, dass nur Emils Versprechen, nach ihnen zu sehen, meine Mutter letztlich doch noch dazu bewegen konnte, nach Kanada zu gehen. Für mich gibt es bis heute nicht den leisesten Zweifel daran, dass meine Mutter fest davon ausging, ihre Eltern würden nachkommen. Weder die harte Realität noch mögliche Komplikationen konnten sie davon abhalten, das zu glauben, woran sie glauben musste. Da Emil ihr versichert hatte, nach Max und Resl zu schauen und ihnen auf schnellstem Wege eine Karte für die Überfahrt nach Kanada zu besorgen, verließ meine Mutter Europa, überzeugt davon, bald wieder mit den Eltern vereint zu sein.

      Zu den l. Eltern komme ich zweimal täglich und besorge für sie alle Wege.

      Ich versuche mir die Szene vorzustellen, die sich Emil jeden Tag darbot. Meine Großmutter wird ruhig in ihrem Sessel gesessen und Emils Klopfen an der Tür kaum wahrgenommen haben. In dem fehlgeleiteten Versuch, ihre Klimakteriumsbeschwerden zu lindern, hatten ihre Ärzte Anfang der dreißiger Jahre ihren Geist zerstört. Da meine Mutter große Angst davor hatte, auch ihre Wechseljahre könnten mit Komplikationen verbunden sein, erzählte sie mir diese Geschichte oft. Es war erst Mittag, als meine Großmutter ihre Schürze zum letzten Mal abnahm. Völlig erschöpft vom Kochen, Aufräumen, der Erziehung zweier Kinder sowie von der täglichen Buchhaltung und der Arbeit im Geschäft meines Großvaters, das den Lebensunterhalt der Familie sicherte, sank sie in den Sessel und sprach die unheilvollen Worte: »Ich kann nicht mehr. Ich bin zu müde. Ich kann einfach nicht mehr.« Man schickte sie in ein Sanatorium, um sie mit Elektroschocks zu behandeln. Danach war ihre Arbeitsfähigkeit, die man doch erhalten wollte, kaum noch vorhanden.

      Ich versuche mir meinen Großvater Max vorzustellen, wie er Emil die Tür öffnet und ihn hereinlässt. Selbst an einem Wochentag war Max wohl stets akkurat gekleidet – in einem Dreiteiler, der zu seinem Selbstbild als Paterfamilias passte. Der Empfang wird herzlich gewesen sein, aber vermutlich konnte er Emil noch nicht einmal eine Tasse Kaffee anbieten. Da seine Frau ihn nicht mehr bedienen konnte und seine Töchter im Ausland lebten, musste jemand anders diese Aufgabe übernehmen.

      Jedes Detail führt mich zu einer weiteren Frage. Wenn meine Großmutter ihre Dienste nicht mehr verrichten konnte, wer kochte dann? Bestimmt nicht Emil, denn Männer seiner Generation hatten nichts mit der Küche am Hut. Hatte Martha etwas zubereitet, das Emil mitbrachte? Eher unwahrscheinlich, da der Vater meiner Mutter zu den sehr wenigen praktizierenden deutschen Juden gehörte, die auf einer streng koscheren Kost bestanden. Er hätte Essen aus Marthas Küche verweigert.

      Abgesehen von diesen familiären Besonderheiten, wie sind mein Großvater und die anderen praktizierenden Juden damit zurechtgekommen, dass sie die Speisevorschriften verletzen mussten, die so sehr zum Fundament ihres Lebens gehörten? Waren solche Belange angesichts der Ereignisse rundherum kleiner geworden?

      Meine Großeltern Max und Resl waren von anderen völlig abhängig. Sie blieben bis 1937 in Deutschland, bis sie Anny endlich davon überzeugen konnte, in die Tschechoslowakei zu kommen. Ihr Besitz blieb in Deutschland so wie der von Emil in Österreich. Wie kam Emil damit zurecht? In Prag war er nur mit einem Touristenvisum und konnte keiner ordentlichen Arbeit nachgehen. Er muss sich ziemlich überflüssig vorgekommen sein. Nicht einmal, sondern zweimal am Tag besuchte er Max und Resl und erledigte für sie alle Besorgungen.

      Was waren das für Besorgungen, und was machte mein Großvater, während Emil sie erledigte? Max war erst Anfang fünfzig und gehörte noch nicht zum alten Eisen. Zuhause in Cham in Deutschland hatte er der örtlichen Jüdischen Gemeinde vorgestanden. Viele Jahre war er auch Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr von Cham gewesen – was doch nur ein gesunder, fitter Mann leisten kann.

      Als die Nazis 1933 in Deutschland an die Macht kamen, war meine Mutter noch nicht verheiratet und lebte zu Hause. Als die neuen Regelungen in Kraft traten, klopfte es an der Tür. Es war ein Nachbar, der ihrem Vater mitteilte, dass ein Jude nicht mehr bei der Feuerwehr sein könne, auch nicht als Freiwilliger. Leise öffnete daraufhin meine Großmutter das Nähkästchen, nahm ihre beste Schere und schnitt die Blechknöpfe von der Feuerwehruniform, damit Max sie nie mehr tragen konnte.

      Der Brief wurde von mir geöffnet und der l. Papa hat ihn uns vorgelesen.

      Ich bemerke mit Erstaunen, dass Papa Max den Brief laut vorliest, obwohl ihn Emil geöffnet hat. Der Brief könnte für die ganze Familie bestimmt gewesen sein, Emil gibt ihn aber dem älteren Mann. Emil unterstreicht hier wieder sein Gefühl der Einsamkeit.

      Wir waren alle überglücklich von Euch gute Berichte bekommen zu haben und haben alle einen Wunsch, der l. Gott möge Euch bis zu Eurem Ziel weiter begleiten. Wenn mir noch so nach Euch bange ist, so tröste ich mich damit, dass Ihr in einigen Tagen an Ort und Stelle sein werdet, wo Ihr nach langer Zeit Eure Ruhe gefunden habt.

      Emils Liste von zusätzlichen Verpflichtungen war lang. Er musste sich schon um meine Großeltern kümmern, jetzt wurde ihm auch noch aufgetragen, sowohl unser Hab und Gut als auch das der Schwester meiner Mutter zu verschicken.

      Eure