Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie. Helen Waldstein Wilkes

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Название Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie
Автор произведения Helen Waldstein Wilkes
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788711448533



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in Antwerpen erfuhren und wie uns allen viel leichter wurde. Wir begleiten Euch in all den Tagen mit unseren Gedanken auf Eurer großen Reise und sprechen stets von Euch. Und ich schreibe Euch auch gleich am ersten freien Tag, damit Ihr gleich nach der Ankunft meine Zeilen erhaltet und Euch ein Gruß von der Heimat etwas Trost bringen soll, in Eurer neuen und so ungewohnten Umgebung.

      Hoffentlich gelingt es Euch bald, Euch einzuleben, dem neuen Milieu anzupassen und das neue Ungewohnte nicht zu sehr zu empfinden. Eure l. Angehörigen werden es gewiss an nichts fehlen lassen, um Euch den Übergang erträglich zu gestalten, die Gegensätze mildern, und Euch manche von den Unannehmlichkeiten ersparen, die sie selbst mitzumachen gezwungen waren.

      Für uns ist es ein sehr beruhigendes Bewusstsein und unsere stärkste seelische Stütze, Euch und den l. Otto in gesicherter Existenz zu wissen, denn wir bauen ja auch unsere Zukunft auf Euch.

      Ich bitte Dich in diesem Sinne sofort an die l. Bella zu schreiben und die Sache so weit es nur geht, zu beschleunigen. Es wäre mir doch eine gewisse Beruhigung, wenn ich und die l. Vera schon diese Aussicht oder Sicherheit hätten.

      Gestern nachm. waren wir bei Elsa. Wir waren die einzigen Gäste und so war es recht ruhig im Gegensatz zu voriger Woche. Wir sprachen viel von Euch und Emil berichtete von Euren Briefen. Für Deine Bemühung mit der Tovona habe vielen Dank l. Edi. Leider kam schon inzwischen ablehnende Antwort, da die dortigen Vorschriften es nicht zulassen.

      Eine andere Handschrift – die von Arnolds Frau Vera – folgt. Als Ärztin hat Vera einen fotografisch präzisen Blick und hält so den Moment unserer Abreise fest:

      Ich sehe Euch noch so vor mir, wie Ihr aus dem Coupéfenster saht, vor Euch das blonde Lockenköpferl der kleinen Helli, die so lustig und herzig war und lachte, als ob es keinen Abschied auf der Welt gäbe. Hoffentlich hat das Kind mit seinem unbewussten Optimismus recht.

      Dort, wo Arnold und Vera zu schreiben aufhören, füllt die geschliffene Sprache von Else, der Schwester meines Vaters, die Seiten.

      Meine Lieben, nun sind es schon acht Tage seit wir Euch Lebewohl sagten und Ihr habt Euch inzwischen ein großes Stück von uns entfernt. Wir denken jede Stunde an Euch und verfolgen im Geiste jedes Stück Eurer Reise. Es ist gerade Sonntag nachmittag, der erste ohne Euch. Ich glaube jeden Moment, dass die Türe aufgeht und Ihr hereinkommt und höre Helli sagen, Tante Else, ich will ein Fettenbrot.

      Aunty Elsa, Tante Else. Ich versuchte es sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch, ließ die Worte auf mich wirken, aber sie riefen keine bekannten Gefühle hervor. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich einmal regelmäßig durch die Tür gestürmt bin und den Namen meiner geliebten Tante gerufen habe.

      Weniger erstaunt mich, dass mein unersättlicher Appetit noch weiter zurück in die Vergangenheit zu gehen scheint, als ich gedacht habe. Meine Mutter hat mir oft von unserer Überfahrt erzählt. Während sie und mein Vater unter Deck in den überfüllten Kabinen kaum Luft bekamen, lief ich auf dem Schiff herum und erzählte völlig fremden Leuten, dass ich hungrig sei. Noch heute bereitet es mir Schwierigkeiten, nicht gleich, wenn ich nach Hause komme, in die Küche zu marschieren. Auch wenn mein Appetit sich nicht verändert hat, sind die Lebensmittel wenigstens andere. Ausgelassenes Gänsefett gehört heute nicht mehr zu meinen Leibspeisen. In der Welt meiner Mutter waren die bevorzugten Leckerbissen Gänsefett, Entenfett und Hühnerfett – und zwar genau in dieser Reihenfolge. Meine Mutter liebte es, mit der Hand die dicke, cremige Schicht Fett unter der Geflügelhaut herauszuziehen. Dann ließ sie es langsam in der Bratpfanne aus und gab noch etwas Zwiebel dazu, um den Geschmack zu verfeinern. Erst wenn es ausgekühlt und wieder hart war, durfte ich es auf eine dicke Scheibe Roggenbrot streichen.

      Es ist mir noch immer nicht ganz ins Bewusstsein gedrungen, dass Ihr schon wirklich fort seid, und doch müssen wir alle von Glück reden, dass es so rasch und günstig gegangen ist, denn jetzt würde es bestimmt viel schwieriger oder vielleicht sogar unmöglich sein, da keine Ausreisebewilligungen zu haben sind. Unsere Marianne hat jetzt auf einmal große Lust bekommen, nach England zu gehen. Doch wird es sehr schwer möglich sein, dass sie hinkommt, da der Andrang sehr groß ist. Der l. Emil hat sich diese Woche mit ihr einige Stunden lang anstellen müssen, dass sie nur eine Nummer bekommt und in zwei Wochen soll sie erst eine nähere Information bekommen. Ich kann mich mit dem Gedanken noch nicht vertraut machen, dass sie schon in die Fremde gehen soll, aber je früher es der Fall wäre, desto besser für sie. Es ist ja leider jetzt das Los so vieler Eltern. Ich hoffe halt immer, dass wir doch noch einige Jahre werden alle beisammen bleiben können. Das Schicksal scheint es anders zu bestimmen.

      Auch wenn sie es verstecken wollte, die Aussicht, Marianne nach England schicken zu müssen, lastete schwer auf Else. Ich erinnere mich daran, wie es mit meinen eigenen Töchtern war, die mit etwa zehn Jahren zwar schon sehr selbstständig waren, aber dennoch vielerlei Unterstützung brauchten, um erwachsen zu werden. Wie sehr hätte es mir widerstrebt, sie in dieser entscheidenden Phase ihres Lebens jemand anderem anzuvertrauen.

      Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich den Mut einer Löwin besäße, wenn ich meine Kinder verteidigen müsste. Zugleich habe ich mich gefragt, wie schlimm die Situation sein muss, damit ich meine Kinder ins Ausland schicke, um sie von Fremden aufziehen zu lassen. Ich war nicht imstande, mir das vorzustellen. Andere Schrecknisse kann ich mir leicht vorstellen, und die sind auch nicht weit weg von mir. Die Angst vor Verfolgung ist immer gegenwärtig.

      Bei der Geburt jedes Kindes kaufte ich goldene Münzen in der Absicht, sie in den Saum ihrer Bekleidung einzunähen, sollten wir jemals fliehen müssen. Für den Fall, dass meine Kinder von mir getrennt werden, wollte ich, dass diejenigen, die sie finden würden, auf jeden Fall ausreichend Mittel hätten, um sie durchzubringen. Noch heute entzündet jede Weltkrise die Flammen meiner Paranoia. Alte Ängste mögen begraben sein, aber sie verschwinden nicht. Das Gold habe ich noch.

      Als nächstes Familienmitglied trägt Dr. Emil Urbach, der Ehemann von Else, zum Brief vom 2. April bei. Er richtet seine Worte nur an meinen Vater, sie sind eine Mischung aus sinnvollen Empfehlungen und ungeschminkten Fakten:

      Lieber Edi, ich habe mich sehr gefreut, dass es Euch unterwegs verhältnismäßig gut ergangen ist und hoffe, dass Ihr auch gutes Seewetter haben werdet. Es wäre notwendig, dass Du an Deinem jetzigen Wirkungsorte eine sehr ausgiebige Kost einnimmst, damit Du Kräfte für das Farmen sammelst.

      Emil gibt keinen Hinweis, dass er nach Kanada kommen möchte, aber er trifft Vorsorge, seine Tochter nach England zu schicken, um sie dort in Sicherheit zu bringen.

      Bei uns hat sich vorderhand nichts geändert. Wir beabsichtigen die l. Marianne nach England zu einer Familie zu schicken, haben sie jetzt deswegen registrieren lassen. Ob und unter welchen Bedingungen es geschehen solle, erfahren wir Freitag, den 14. d. M.

      Es waren die Worte Emils, die mich an Kindertransport denken ließen, ein Wort, an das ich mich noch dunkel erinnern konnte. Jetzt begann ich mich eingehender mit dieser Rettungsaktion zu beschäftigen.

      Zwischen 1938 und 1940 lockerte Großbritannien seine Einwanderungspolitik, um mindestens 7500 jüdische Kinder aus Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei ins Land zu lassen. Auch wenn der britische Altruismus ein wenig von seinem Glanz verliert, weil er an schwer erfüllbare Bedingungen geknüpft war – private Organisationen und Bürger mussten nicht nur für den Unterhalt und die Ausbildung dieser Kinder aufkommen, sondern auch für ihre etwaige Auswanderung aus Großbritannien –, so kann doch festgehalten werden, dass Großbritannien immerhin nicht untätig blieb.

      Kanada und die USA dagegen entschieden sich gegen solche Hilfsmaßnahmen. 1940 informierte der kanadische Botschafter in Washington den Premierminister, dass die amerikanische Regierung gegen die Aufnahme jüdischer Kinder in Kanada sei, aus Angst, diese könnten eines Tages doch versuchen, in die USA einzuwandern. Aber auch wenn es die Türen für jüdische Kinder verschloss, gab Kanada Kindern, die in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien oder in Skandinavien geboren waren, vorübergehendes bzw. immerwährendes Aufenthaltsrecht.1 Es war ein großer Schock für mich, erkennen zu müssen, dass der Antisemitismus auch in Kanada und den USA so tief verwurzelt war.

      Mit den Zeilen Emil Urbachs noch frisch in meinem Gedächtnis schaute