Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie. Helen Waldstein Wilkes

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Название Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie
Автор произведения Helen Waldstein Wilkes
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788711448533



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selten Zeit hatten, meine zahllosen Fragen zu beantworten. Wie wir uns verständigt haben, weiß ich nicht, denn zu dieser Zeit sprach ich noch kein Wort Englisch.

      Damit ich Englisch lernen konnte, haben mich meine Eltern ein Jahr früher als andere Kinder in die Schule geschickt. Die Schule bestand aus einem großen Raum, in dem eine einzige Lehrerin acht verschiedene Altersstufen unterrichtete.

      Bevor ich in die Schule gehen durfte, musste ich meinen Eltern versprechen, nie zu sagen, dass wir Juden sind. Sollte die Lehrerin nach meiner Religion fragen, so sollte ich antworten, wir seien »Tschechen«. Zu Hause wurde zuvor lange diskutiert, ob die Leute es einem abnehmen würden, dass es eine tschechische Kirche gäbe. Meine Familie war der Ansicht, dass die Kanadier so wenig über die Tschechei wussten, dass es ihnen nicht abwegig vorkommen würde.

      An meine ersten Schultage habe ich keinerlei Erinnerung. Wahrscheinlich habe ich sie verdrängt. Kinder sind oft grausam, wenn man ihnen kein Mitgefühl beigebracht hat. Diese Farmerskinder, die zum ersten Mal jemanden sahen, der kein Englisch sprach, betrachteten mich als ganz fremdartigen Vogel.

      Ich erinnere mich nur, dass sie mich verspottet haben. Alles, sogar mein Name, war lächerlich für sie. »Waldstein« war nicht weit weg von »Holstein«, und so hießen die schwarz-weißen Kühe, die viele nach der Schule melken mussten. Überdies hörte einmal jemand, wie meine Eltern mich »Helly« riefen, im Englischen nur mit dem Wort »Hölle« verwandt. Das blieb hängen. Helly, die Holstein-Kuh.

      Mein Mittagessen war ein weiterer Anlass für Gelächter. Jedes Mal öffnete ich widerwillig die rote Dose, um zu sehen, was für schmackhafte Sachen meine Mutter eingepackt hatte. Oft war es Zunge oder anderes preiswertes Fleisch auf dicken Scheiben von dunklem Brot. Die Kinder kicherten und machten Geräusche, wie wenn sie sich erbrechen müssten. Sie hatten immer Weißbrot, ganz dünne Scheiben, oft war sogar die Kruste abgeschnitten, und ihr Brot war jeden Tag in frisches Wachspapier eingepackt. Ich dagegen legte die ganze Woche das braune Fleischerpapier zwecks Wiederverwendung sorgfältig in meine Box zurück.

      Nur ganz selten war das Wetter warm genug, um draußen zu sein. Meist nahmen wir das Mittagessen an unseren Schultischen im Klassenzimmer zu uns, denn wir hatten ja nur diesen einzigen Raum. Dieser wurde den ganzen Winter mit einem Holzofen geheizt, immer hing der Geruch von nasser Wolle in der Luft. Der Holzofen schien nie auszugehen, und wenn ich frühmorgens durch die Schneewehen stapfte, freute ich mich oft auf seine Wärme. Wie früh haben unsere Lehrerinnen aufstehen müssen, um uns diesen Komfort zu bieten?

      Meine Lieblingslehrerin hieß Fräulein Martindale. Ich sehe sie noch vor mir, mit ihren lockigen Haaren, den warmen braunen Augen und ihrem freundlichen Lächeln. Obwohl ständig Schüler aller Altersstufen und mit unterschiedlichsten Fähigkeiten ihre Hilfe brauchten, fand Fräulein Martindale immer Zeit für mich.

      Als ich lesen gelernt hatte, bekam ich von ihr immer mehr Bücher. Dann gab sie mir Aufgaben von der nächsten Altersstufe, so dass ich bald zwei Jahre jünger als andere in meiner »Klasse« war. Bücher blieben ein Leben lang meine Freunde, aber damals isolierten mich meine Fortschritte noch weiter von den Altersgenossen.

      Nach der Schule lief ich schnell nach Hause und fragte als Erstes: »Wo ist Ludwig?« Dann aber sagte mir meine Mutter, wie sehr diese Frage meinen Vater kränkte, und das war natürlich nicht meine Absicht. Ich liebte meinen Vater.

      Doch mit Ludwig hatte ich viel mehr Spaß. Er nahm mich bei der Hand und machte mich mit allen Kühen namentlich bekannt. Nachmittags drehten wir zusammen eine Runde durch die Ställe, wo er jeder Kuh ihre Portion Futter zuteilte. Manchmal gelang es ihm, eine der halbwilden Katzen einzufangen und sie zu halten, während ich mein Gesicht in ihrem weichen Fell vergrub. Manchmal ging er die Milchkannen holen. Dazu hing er einen Steinschlitten an unser altes Pferd Dolly und hob mich auf Dollys breiten Rücken. Allerdings nur, wenn meine Mutter nicht in der Nähe war, denn diese begann meist gleich zu schreien: »Gib Acht, gib Acht, sie wird fallen, sie wird sich weh tun!« Und dann nahm er mich wieder herunter und setzte mich in sicherer Entfernung vom Pferd ab.

      Abends saß ich gern bei Ludwig und sah zu, wie er Äpfel schälte. Die papierdünne Schale sank in einer langen, ununterbrochenen Spirale auf den Teller. Nachbarn mit einem Obstgarten hatten uns gesagt, dass wir so viel Fallobst aufsammeln dürften, wie wir wollten, und wir hatten genug für die langen Winterabende.

      Ludwig kannte unzählige Rätsel und Witze, Geschichten und Lieder, und er schien nie zu sehr in Gedanken vertieft, um mit mir zu sprechen. Manchmal lehrte er mich tschechische Zungenbrecher. Ganze Zeilen ohne jeden Vokal, wie das bekannte »Strč prst skrz krk«, »Steck deinen Finger durch den Hals«, oder meine Lieblingszeile »Trsta trstetz tria tribernek«, »Dreitausenddreihundertdreiunddreißig rote Feuerwehrwagen«. Ludwig konnte lachen, bis ich mitlachte.

      In meinen Augen war Ludwig mit seinem dichten roten Haar, den großen grünen Augen und dem Grübchen in der Mitte des Kinns ein ganz fescher Mann.

      Anny und Ludwig hatten beide mehr Geduld als meine Eltern. Sie waren lebenslustiger und verstanden es, mich aufzumuntern. Ich erinnere mich noch an das Liedchen, das Anny sang, wenn mir die Tränen über die Backen kullerten:

      Dudel udel ei

      Sagt mei’ Wei’

      S’Heferl ist zerbrochen

      Hab kei’ Salz

      Hab kei’ Schmalz

      Wie soll ich da kochen?

      Ohne die Hilfe dieser zwei erstaunlichen Menschen hätten meine Eltern das Leben auf der Farm nie bewältigen können. Ludwig brachte alles in Ordnung und er war zugleich der Kitt, der alles zusammenhielt. Was kaputt war, konnte er reparieren. Noch heute hebe ich vieles auf, teilweise aus Sparsamkeit, aber teilweise auch im Gedenken an Ludwig, der alles wieder zusammenfügte, ganz gleich ob Mensch oder Maschine.

      Ludwig und mein Vater verstanden sich gut, aber die Reibereien zwischen meiner Mutter und meiner Tante nahmen kein Ende. Alte Rivalitäten, lächerliche Kämpfe aus ihrer Kinderzeit kamen wieder hoch, doch Ludwig gelang es, die Wogen zu glätten.

      Oft habe ich darüber nachgedacht, woher Ludwigs Ausgeglichenheit kam. Er war kein sehr gebildeter Mensch, und doch hatte er eine Weisheit, die ich umso bemerkenswerter finde, als es mir selbst oft schwerfällt, die Dinge richtig einzuschätzen. Es ging oft das Gerücht, dass Anny mit anderen Männern »Verhältnisse« hätte. War es wirklich so? Oder war der Grund für dieses Gerede nur Neid und Eifersucht von Leuten, die insgeheim Annys offene Ausstrahlung und ihre positive Wirkung auf andere Menschen bewunderten? Neue Bekannte, sowohl Frauen wie Männer, hatten sofort das Gefühl, dass Anny sie mochte. Sie besaß die Fähigkeit, anderen Menschen entgegenzukommen und ihre Herzen zu öffnen.

      Ludwig wiederum verstand es, den Mund zu halten. Nach seinem Tode beklagte Anny, das sei der einzige von Ludwigs Ratschlägen gewesen, den sie nie habe befolgen können. Ludwig war auch in der Lage, das Gute in anderen Menschen zu erkennen und zu fördern. So wie er mich ermutigte, auf dem Pferd zu sitzen, so half er später auch anderen. Als in Kanada noch kaum jemand von den Rechten der Ureinwohner sprach, stellte Ludwig bereits Leute vom regionalen Eingeborenenreservat als Arbeiter an. Oft gab es Zwischenfälle und allerlei Probleme bei der Arbeit, aber Ludwig tat stets, was er für richtig hielt. Er unterstützte die Männer und ihre Familien auch weiterhin und viele von ihnen wurden seine Freunde.

      Viele Menschen nahmen an Ludwigs Beerdigung teil. Ein paar jedoch fehlten. Es waren die, denen Ludwig nie verzeihen konnte, dass sie damals gleichgültig reagierten, als andere um Einlass nach Kanada flehten. Manche davon waren selber Juden, jedoch besorgter um ihr eigenes Fortkommen in dem neuen Land als um andere, die noch in Europa festsaßen und direkt von den Nazis bedroht waren.

      Anny war immer die Frau der Tat, eine, die das Leben bei den Hörnern packte und nicht nachgab, bis die Dinge sich änderten. So wie sie beim Englischlernen und beim Eierverkauf Vorkämpferin war, so hat sie auch sonst neue Wege beschritten. Merkwürdigerweise grollte meine Mutter Anny umso mehr, je mehr diese leistete. Kleinliche Beschwerden, nur hinter vorgehaltener Hand geäußert. Obwohl Annys Essen mir immer gut schmeckte und die Rezepte meist aus demselben Kochbuch stammten, das auch meine Mutter benutzte, behauptete