Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie. Helen Waldstein Wilkes

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Название Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie
Автор произведения Helen Waldstein Wilkes
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788711448533



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werden. Es ist ganz ausgeschlossen an die l. Anny die erwünschten Sachen zu schicken.

      Was dachte sich Emil, als man ihm solche Wünsche mitteilte? All seinen Besitz hatte er in Österreich zurückgelassen. Wovon lebte er? Wie traf er Entscheidungen, wo alles um ihn herum sich aufzulösen begann?

      Wie Euch die l. Martha bereits geschrieben hat, warten wir auf Euren Bericht, um sich ein Bild zu machen, welche Aussichten für uns dort bestehen. Vorderhand ist gar keine Möglichkeit, eine Ausreise zu erlangen.

      Für eine lange Zeit saß ich wie blind mit dem Brief auf meinem Schoß. »Vorderhand ist gar keine Möglichkeit, eine Ausreise zu erlangen.«

      Diese Worte sind so unfassbar endgültig. Nur eine Woche nach unserer Abreise wurde die Situation hoffnungslos. Wie knapp waren wir entkommen!

      4. Kapitel

      Ein Neubeginn

      Wieso hat Kanada uns hereingelassen? In Kanada wie anderswo waren Juden unerwünscht.

      Ich glaube, dass diejenige, die uns geholfen hat, ins Grab ging, ohne unseren Dank zu erhalten. Es war meine Tante Anny. Am Tag ihrer Beerdigung ging ich früh zum Markt und kaufte dort alle gelben Rosen, die es gab. Später legte ich sie auf ihren Sarg. Es war eine ganz kleine Trauergemeinde, die an diesem kalten, verregneten Tag am Grab stand: ein paar Nachbarn und Bekannte, aber fast keine Freunde oder Familienmitglieder. Ihre einzige Schwester war nicht dabei.

      Familiengeschichten sind kompliziert, besonders wenn alte Wunden nicht verheilt sind. Meine Tante starb kinderlos, aber jahrelang wurde vermutet, ich sei ihre Tochter. Sie hat immer fröhlich gelächelt, wenn man ihr sagte: »Es ist in Ordnung. Wir Kanadier sind ja modern. Ein uneheliches Kind ist heutzutage keine Schande mehr. Wir wissen, dass du nur so tust, als sei Helen das Kind deiner Schwester. Helen ist dir so ähnlich. Und schau mal, Ludwig liebt sie ja genauso sehr wie du.«

      Es wäre nicht schwer gewesen, diese Vorstellung als Wirklichkeit anzunehmen. Meine Mutter war immer »das brave Mädchen« in der Familie und meine Tante war immer »die Draufgängerin«. Auf einem Jugendfoto sieht man Anny sogar auf einem Motorrad sitzen. Es war immer Anny, die sich alles traute, die oft auch einen Schritt ins Verbotene wagte.

      Anny und meine Mutter erzählten gern von ihrer Kindheit und Jugend. Oft lachten sie über das frisch gezapfte Bier, das mein Großvater Max ab und zu trank. Da er am liebsten zu Hause im Kreis seiner Familie blieb, hat Anny es gern für ihn geholt. Den Schaum hat sie immer auf dem Heimweg abgeschleckt, und nie gab sie Antwort, wenn der Vater sich beschwerte, dass der Gastwirt immer weniger voll einschenkte.

      Später gab es öfter größeren Krach zu Hause. Während eines Besuchs in der Stadt ließ sich Anny ihre langen Haare abschneiden und kam mit einem Bubikopf zurück. Als Nächstes setzte sie durch, dass sie nach Regensburg ziehen durfte, wo sie eine Ausbildung zur Röntgen-Assistentin absolvierte und sich in einen Arzt verliebte.

      Diese Liebe war heiß und innig, aber sie währte nicht lang. Es war das Jahr 1933, und Hitler war schon an der Macht. Anny war Jüdin, der Arzt »Arier«. Er entschied sich für seine persönliche Sicherheit.

      Gebrochenen Herzens wurde Anny Zuschauerin des Glücks, das ihrer Schwester beschieden war: Gretl als geliebte Braut, jungfräulich und elegant wie eine Prinzessin in ihrer langen weißen Schleppe. Gretl als schwangere Frau, stolz auf ihre Weiblichkeit. Gretl als Mutter eines gesunden Kindes. Die kleine Helly, 1936 geboren.

      Anny machte sich nichts vor. Ihre Schwester und ihre Eltern dachten vielleicht an nichts anderes als das Kind, aber Anny sah, was in Deutschland vorging. Sie wusste, dass sie etwas tun musste. Das Wichtigste war, sich und die Eltern aus Deutschland herauszubringen. Das hatte Vorrang.

      Die Tschechoslowakei war das beste Ziel. Ein Großteil der Einwohner sprach Deutsch. Das war schon ein großer Vorteil. Zweitens war das Land eine Demokratie mit der Unterstützung des Völkerbundes. Und vor allem war Gretl schon dort. In ihrem tiefblauen Abendkleid hatte sie einem Einwohner den Kopf verdreht und war jetzt Hausfrau in Strobnitz – einem kleinen Dorf unweit der österreichischen Grenze.

      Anny fehlte nur ein tschechischer Mann. Sie vertraute sich einer Verwandten an, die ihr Anliegen weitergab, und bald war die Ehestiftung gelungen. Ludwig Ekstein war bereit, Anny Grünhut zur Frau zu nehmen.

      Ludwig war ein etwas älterer Mann mit besten Beziehungen und Empfehlungen. Er war wohlhabender Grundbesitzer und genoss als Viehhändler einen ausgezeichneten Ruf. Es war ein Gewerbe, in dem sich viele übel beleumundete Gesellen tummelten, aber Ludwig war eine rühmliche Ausnahme: ein Mann, der Wort hielt.

      Anny hatte es mit der Liebe versucht, aber dieser Weg hatte nur Unglück gebracht. Jetzt wollte sie den Weg der Vernunft gehen. Schnell wurde geheiratet, Anny in Hut und Kostüm mit gelben Rosen im Arm. Sie übersiedelte ins Ekstein’sche Haus in Bischofteinitz (in der Nähe von Pilsen) und setzte sofort um, was sie geplant hatte: Sie brachte ihre Eltern aus Deutschland heraus. Das war 1937.

      Aber schon 1938 zeichnete sich ab, dass die Tschechoslowakei alles andere als eine sichere Zufluchtsstätte war. Als in diesem Jahr der »Anschluss« Österreichs stattfand, sagten einige von Ludwigs Verwandten: »Wir sind die Nächsten. Der Hitler wird auch die Tschechoslowakei übernehmen.«

      Angesichts der vielen Hunderttausend Juden, die aus Deutschland, aus Österreich und aus der Tschechoslowakei flüchten wollten, schloss Kanada seine Grenzen. Ein am 29. November 1938 vom Auswärtigen Amt und vom Ministerium für Bodenschätze und Bergbau erstelltes Memorandum an Premierminister Mackenzie King offenbarte die bittere Wahrheit: »Wir wollen nicht zu viele Juden hereinlassen, aber unter den gegebenen Umständen wollen wir es nicht offen aussprechen.«

      In Prag und anderen Großstädten konnten sich Menschen, die nach Kanada auswandern wollten, nur bei den Bahngesellschaften erkundigen. Die »Canadian National« und die »Canadian Pacific« waren auf der Suche nach Übersiedlern. Ludwigs Verwandte luden einen Vertreter der Canadian Pacific ein, sie zu Hause zu besuchen. Ihr Fleiß und Wohlstand machte auf den Vertreter einen guten Eindruck. Auf seine Empfehlung hin durfte die Familie in Kanada Grundstücke kaufen.

      Hat niemand in Ottawa gewusst, dass Ludwig und seine Cousins Juden waren? War C. F. Blair, der Leiter der dem Bergbauministerium unterstellten Zuwanderungsbehörde krank oder im Urlaub, als die Gesuche in Ottawa eingingen?

      Ich habe etlichen Historikern diese Frage gestellt. Sie sagen alle dasselbe: »Da hat jemand geschlafen.« Höchstwahrscheinlich hatte die Immigrationsbehörde keine Ahnung, dass der Anführer der tschechischen Gruppe Jude war. Ludwigs Cousin war das Gegenteil jenes Klischeejuden mit dunklen Haaren, Buckel und Hakennase, den damals die kanadischen und europäischen Zeitungen zeigten. Karl Abeles war groß und blond und fesch. Ab und zu besuchte er unsere Farm, und ich erinnere mich an einen kräftigen, lustigen Mann, der heutzutage im Fernsehen Werbung für eine Biermarke machen könnte.

      Im November 1938 kamen Anny und Ludwig auf die Ridge-Farm in der Nähe von Mount Hope, einem Dorf südlich von Hamilton in Ontario. Sie haben sofort für meine Eltern und mich als Immigranten gebürgt.

      Und so sind wir am 16. April 1939 in St. John, New Brunswick, an Land gegangen. Von dort sind wir per Zug nach Montreal gefahren, wo Mimi auf uns wartete. Diese Familienfreundin war ein hübsches junges Mädchen. Ihre Eltern hatten sie mit ihrer Tante (einer Cousine von Ludwig) und ihrem Onkel nach Kanada geschickt. Mimi war damals in Montreal, um mit einem Herrn James Colley von der Canadian Pacific zu sprechen. Man hatte ihr gesagt, dass Herr Colley über Wohl und Wehe eines jeden europäischen Juden entscheiden könne. Mimi gab die Hoffnung nicht auf, dass sie – trotz aller bürokratischen Hürden – durch eine persönlich vorgebrachte Bitte ihre Eltern retten könne.

      Als ich Mimi fragte, wie sie uns erkannt hätte, lachte sie: »Das war nicht schwer. Man sah euch die Fremdheit an. Ein dürrer Mann in einem zu großen Anzug, eine elegante Frau in einem Kostüm mit passendem Hut und Kragenmantel, die ein kleines Kind fest an der Hand hielt – dich, in einem gelbgrauen, baumwollsamtenen Mantel mit braunem Kragen. Ihr saht so benebbicht aus.«

      Obwohl der jüdische Ausdruck »benebbicht«– als Beschreibung für einen Menschen,