Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie. Helen Waldstein Wilkes

Читать онлайн.
Название Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie
Автор произведения Helen Waldstein Wilkes
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788711448533



Скачать книгу

›Die Verantwortung bleibt bei denen, die die illegale Einwanderung organisiert haben.‹« 2

      Ich wusste nicht, dass Dachau und andere Konzentrationslager schon vor dem Krieg eingerichtet worden waren und dass die Alliierten sehr wohl über diese Lager Bescheid wussten. Ich dachte, diese Horrorgeschichten seien erst nach der Befreiung bekannt geworden. Vielleicht war das etwas, woran zu glauben für mich notwendig war.

      Als ich die Geschichtsbücher schloss und wieder zu Marthas Brief zurückkehrte, wurde mir erst so richtig bewusst, wie haarscharf mein Vater entkommen war.

      Die Lage kennt Ihr ja zur Genüge. Sie wird nur täglich trauriger. Die blauen Karten sind momentan gar nicht zu haben.

      Ich rief Mimi mit neuen Fragen an. Sie bestätigte meine Vermutungen. Die blauen Karten waren Ausreisevisa, welche sowohl von der Bank als auch von der Gestapo bestätigt werden mussten. Es muss eine solche blaue Karte gewesen sein, die mein Vater zusammen mit seinen anderen Dokumenten zur Bank getragen hatte. An jenem Morgen, als ihm ein verschlafener Bankbeamter das letzte Ausreisevisum gab, welches in Prag ausgestellt wurde.

      Kein Wunder, dass Martha von ihrer Notlage überwältigt war. Sie flehte meinen Vater um Hilfe an und unterstrich die Worte »übergroße Bitte« zweimal. Sie wechselte zu anderen Themen, aber die Vorspiegelungen eines normalen Lebens werden schnell zerstört.

      Gestern waren wir mit Onkel Fritz bei Vally. Es ist überall dasselbe Thema.

      Nur wenn Martha über ihre Kinder spricht, lichten sich die Schatten. Die Kleinen bringen flüchtige Strahlen des Glücks.

      Unsere liebe Dorothy ist sehr goldig, aber seit dieser Woche kniet sie sich im Wagen auf, sodass man sie sofort anschnallen musste, damit sie nicht heraus fliegt. Man wird ihr ein Betterl aufstellen müssen. Ilserl ist sehr brav.

      Das »Betterl« scheint symbolisch zu sein. Wenn sie wirklich eines aufstellen, heißt das, dass sie jetzt noch nicht weggehen. Dieses Bett bringt mich zu einer anderen Frage. Wie und wo lebte diese vierköpfige Familie? Sie müssen wohl alles im von den Nazis kontrollierten Österreich gelassen und sich von Linz nach Prag aufgemacht haben. Dort wurden sie offenbar von Arnold und Vera aufgenommen. Ich gehe alles noch einmal durch, aber die ersten Briefe bringen keine Anhaltspunkte dafür.

      Der kurze Satz »Ilserl ist sehr brav« beschäftigt mich. Es ist eine weitere Verbindung zwischen mir und meiner neun Jahre alten Cousine, da ich ja auch ein braves Kind genannt wurde. Aufgewachsen in einem Land, in dem Selbstbehauptung und der Aufstand gegen die Eltern die Norm zu sein scheinen, hatte ich damit zu kämpfen, so anders als meine Gleichaltrigen zu sein. Als Erwachsene habe ich gelernt, dass diese Art von »Bravsein« eine Sache für Kinder ist, deren Familie dem Tod ins Gesicht geschaut hat. Kann man sich Anne Frank als Mädchen vorstellen, das sich schlecht benimmt? Steht das Leben auf dem Spiel, lernen Kinder sehr schnell, »brav« zu sein.

      Es vergingen viele Tage, bis ich wieder einen von Marthas Briefen in die Hand nahm. Mir war alles recht, um dies auf die lange Bank zu schieben. Sie hatte einen Nerv getroffen, aber ich wollte nicht zu diesem tiefen Gefühl vordringen, welches ihre Worte auslösten.

      Jedoch, sollte die Sache ganz aussichtslos sein, dann schreibe uns bald möglichst, was uns sehr schmerzen würde. Vielleicht gönnt uns doch das Glück noch gemeinschaftlich schöne Stunden. Wir haben ja gemeinsame Jugendstunden verbracht. Vielleicht werden sie in unserem sogenannten Alter auch sein.

      Wie schwer muss es Martha ums Herz gewesen sein, als sie diese Worte verfasste. Von meiner eigenen Kindheit habe ich behalten, dass ein solches Gefühl die Norm ist. Meine Eltern schienen immer unter einer dunklen Wolke zu wandeln und ihre Gespräche kreisten immer um Probleme. Enttäuschte Menschen. »Das Leben ist nicht leicht« war ein Satz, den meine Mutter stets auf den Lippen trug.

      Aber meine Eltern versuchten, mich glücklich zu machen. Ohne dass sie dies für sich selbst getan hätten, kauften sie mir zu jedem Geburtstag ein besonderes Geschenk. Meine erste Uhr, einen Ring mit einem kleinen grünen Stein als Geburtsstein. Ich wusste, dass diese Geschenke der Ausdruck ihrer Liebe waren – so wurde von mir erwartet, sie auch glücklich zu machen.

      Und das tat ich. Ich war immer ein gutes Mädchen. Es gelang mir, sie mit meinen Erfolgen stolz zu machen. Die Schule war ein gangbarer Weg, um dieses Ziel zu erreichen. Ich hatte gute Noten, während ich meine sozialen Kämpfe und die Tatsache, eine totale Außenseiterin zu sein, verbarg. Für einen Teenager ohne Samstagabendverabredungen war das eine große Herausforderung – aber in den ersten Jahren waren meine Eltern leicht zu täuschen.

      Ihre Kindheit in Europa war so anders gewesen als meine in Kanada. Mein Vater war Teil einer riesigen, lebendigen Familie. Meine Mutter lebte mit einer fast gleichaltrigen Schwester und einem Schwarm von Freunden in einer kleinen Stadt in Bayern. Ich wuchs als Einzelkind auf, isoliert auf einem Bauernhof in Ontario, wo ich eine einklassige Schule besuchte. Meine ersten Schuljahre waren so traumatisch, dass ich sie fast völlig aus meinem Gedächtnis gestrichen habe. Meine Schulkameraden machten mir nämlich klar, dass sie mich nie in ihre Gemeinschaft aufnehmen würden.

      Meine erste Sünde war, dass ich kein Englisch sprach, in einer Schule, wo wir »Rule Britannia! Britannia rule the waves!« lernten. Meine zweite Sünde war, dass ich Deutsch sprach – die Sprache des Feindes. Meine dritte Sünde war, dass ich Jüdin war – damals noch ein hässliches Wort.

      Viele Jahre lang gab ich mir selbst die Schuld, eine sozial Ausgestoßene zu sein. Nachdem wir den Bauernhof verlassen hatten, bemühte ich mich um jüdische Freunde, aber diese Beziehungen hielten nie so richtig. Die jungen Juden, die ich Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre traf, waren entweder sehr materialistisch ausgerichtet oder lebten in einer Pro-Israel-Welt, von der ich nichts wusste. Ich kam überhaupt nicht mit ihnen zurecht, weder mit denjenigen, die für eine in der Ferne liegende Heimat kämpfen wollten, noch mit denen, die nichts anderes interessierte als die Frage, was sie zur nächsten Party anziehen werden.

      Eine Zeit lang dachte ich, wenn mich Nicht-Juden einmal als Person kennenlernten, dann würde die Tatsache, als Jüdin geboren zu sein, nicht mehr wichtig sein. Das Leben lehrte mich aber etwas anderes. Die Mädchen in meiner High School bildeten eine Art »Studentinnen-Verbindung«, von der allein ich ausgeschlossen blieb. Die wenigen jungen Männer, die sich mit mir trafen, nahmen bald wieder Abstand, nachdem ihre Eltern »Helen wer?« fragten und meinen Nachnamen hörten.

      Langsam begann ich meine Eltern ein bisschen zu verstehen und ich erkannte die tiefen Wunden, die ihnen eine unwirtliche, abweisende Welt zugefügt hatte. Ich verbrachte viel Zeit damit, mir vorzustellen, wie es wohl für sie gewesen war. Wie konnten sie jemals wieder jemandem vertrauen, nachdem sich ihre früheren Klassenkameraden und Freunde, mit denen sie Fußball oder Himmel und Hölle gespielt hatten, gegen sie gewandt hatten? Welche neue Bedeutung schrieben sie dem Wort »Nachbar« zu, als sie die Menschen aus der Nachbarschaft dabei beobachten mussten, wie sie sich hinter zugezogenen Vorhängen versteckten oder auf der Straße die Augen von ihnen abwandten? Ich für meinen Teil wollte beides: Ich hatte das Bedürfnis, jemandem zu vertrauen, und war dennoch nicht bereit, mich auf andere einzulassen, wohl wissend, dass dieser beständige Argwohn an der Seele nagt.

      Wenn ich so zurückdenke, fanden meine Eltern nie wirklich Anschluss an echte Kanadier – wie sie diese nannten –, weder in den Jahren auf dem Bauernhof noch in der Stadt. Alle Besucher, die zu uns auf eine Tasse Tee oder zum Essen kamen, sprachen mit dem gleichen deutschen Akzent, der sie von den anderen unterschied, egal wie flüssig ihr Englisch war.

      Ich glaube nicht, dass meine Eltern jemals das Gefühl des Fremdseins, des »Andersseins«, welches ihnen von der Welt auferlegt wurde, verloren. Sie sagten von sich selbst oft, »Ausländer« und »Greenhorn«, zu sein – und da waren deutliche Anführungszeichen zu hören, wenn sie diese Worte benutzten. Während meine Mutter die »Kunst der sauren Trauben« – nicht zu begehren, was nicht erreichbar war – ganz gut beherrschte, war mein Vater etwas komplexer veranlagt.

      Nur schwer konnte ich mir vorstellen, dass mein Vater einst eine unbekümmerte Seele war, der im Kreis ihrer Familie in Europa Ukulele zupfte oder Klavier spielte. Ich erlebte ihn als einen ruhigen, nachdenklichen, sensiblen Menschen, dem die Einsamkeit zusetzte.

      Obwohl