Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie. Helen Waldstein Wilkes

Читать онлайн.
Название Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie
Автор произведения Helen Waldstein Wilkes
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788711448533



Скачать книгу

in den Mittelpunkt, einen bescheiden auftretenden Engländer, der über 600 tschechische Kinder – darunter auch Joseph Schlesinger, der den Film gedreht hat – retten konnte. In der vagen Hoffnung, dass er den Streifen vielleicht gesehen hatte, schrieb ich eine E-Mail an meinen einzigen kanadischen Verwandten, einen Großcousin meiner Mutter.

      Und tatsächlich: Herbert – heute über achtzig Jahre alt – hatte den Film gesehen. Noch erstaunlicher war allerdings, dass man unter den weinenden tschechischen Kindern, die aus den Fenstern ihren Eltern Lebewohl winkten, auch ihn sah. Ich habe Herberts E-Mail aufgehoben:

      Schlesinger ist großartig, und der Film ist fast wie wenn ein Märchen wahr wird. Einmal war ich wirklich zu Tränen gerührt. Und natürlich ist der Augenblick des Abschiednehmens von meinen Eltern am Bahnhof unseres kleinen Städtchens in mein Gedächtnis eingekerbt. Die ausgesprochenen und die verschluckten Dinge, die zurückgehaltenen Gedanken …

      Wieder war ich durch die Schmerzen eines anderen sprachlos. Ich konnte Herbert nicht bitten, diese Abfahrt von Prag noch einmal durchzumachen. Trotzdem wollte ich mehr wissen, und so besuchte ich einen Workshop, in dem Überlebende, die damals Kinder waren, ihre Geschichte erzählten.

      Besonders bewegte mich die Geschichte eines Mannes in meinem Alter. Seine Eltern hatten ihn in einen Zug nach England gesetzt, jedoch wurde dieser vom deutschen Einmarsch in die Niederlande gestoppt. Eine nette Familie nahm das Kind aus dem Zug auf. So wie mir meine Verwandten aus dem Gedächtnis geraten waren, vergaß auch er sehr schnell die Leute, die in seinen jungen Jahren einmal um ihn waren. Er fragte sich nie, warum seine Geschwister blonde Haare und blaue Augen hatten. Die Erinnerung an die andere Familie schwand. Kurz nach dem Krieg klopfte jemand an die Türe. Vor dem Jungen stand eine verstörte, fremde, ausgemergelte Frau, die behauptete, seine Mutter zu sein. Jahrzehnte später waren die Wunden des Mannes immer noch frisch.

      ***

      Auf die Zeilen von Emil Urbach folgt die Handschrift von Martha, der Schwester meines Vaters. In ihren zum Teil schon oben wiedergegebenen Worten ist deutlich die Angst zu spüren, dass der Abschied vielleicht ein endgültiger war.

      Als Ihr uns Samstag verlassen habt, war eine solche Traurigkeit in uns, dass wir uns ernstlich zusammen nehmen mussten, um vor allem die l. Eltern zu trösten.

      Und doch seid Ihr die »Auserwählten«, denn überglücklich sind heute die, die in die Ferne ziehen können. Gebe nur der l. Gott, dass Ihr gesund und wohlbehalten an Eurem Ziel ankommt. Beim Betreten der neuen Erde wünschen wir Euch alles nur erdenkliche Gute. Die Luft in Eurer neuen Heimat soll Euch Kraft geben, um wieder festen Fuss zu fassen und in friedlicher Arbeit sollt Ihr Euer Brot verdienen.

      Man begegnet in Marthas Worten einer unerwarteten Poesie und Erhabenheit. Wo hat dieses Mädchen vom Land mit einer nur minimalen Schulbildung diese Sprache erworben?

      Wie zum Ausgleich umgibt sich Martha mit Liebe, welche die ganze Familie zusammenhält. Sie spricht uns spielerisch mit Worten der Zärtlichkeit an. Meine Mutter nennt sie »Greterl« und meinen Vater »Ederle«. Ich bin das »Helli-Kind«. Zu meiner Überraschung entdeckte ich, dass ich auch einen Namen für meine Tante Martha hatte.

      Ich glaube am Besten wird es das liebe Helli Kindi haben. Sie wird sich überall gleich wohl und glücklich fühlen. Denkt sie noch an die »Matie«? Ich schicke ihr viele tausend Bussi.

      Ich hänge dem Wort »Matie« nach. Dieser kindliche Kosename sagt mir, dass Tante Martha offenbar jemand war, den ich liebte und der eine feste Größe in meinem Leben war. Wie kann es sein, dass ich überhaupt keine Erinnerung an sie habe? Ich bin bestürzt herauszufinden, dass ich bereits sprechen konnte, bevor wir Europa verließen. Nie hatte ich mir vorgestellt, wie ich damals mit meiner Tante redete, auf sie zulief und sie umarmte, ihr Parfüm roch und ihre Arme um mich spürte. Durch ihren Brief wandelt sich Martha für mich von einem bedeutungslosen Schatten zu einer fassbaren Wirklichkeit.

      Matie. Das Wort berührt mich sehr tief. Obwohl ich mich an Marthas Anwesenheit nicht erinnern kann, bin ich erstaunt, wie ihre Abwesenheit auf mich wirkt.

      Leider werden die Tage immer ernster, man zerbricht sich Tag und Nacht den Kopf, man möchte am liebsten morgen schon fort. Wird man dieser neuen Nervenprobe standhalten, es erwartet uns viel. Wenn es nötig sein wird, muss man, das heißt, wenn man kann. Und nach Erez gehen? Aber was wird mit den Kindern? Die Lage kennt Ihr ja zur Genüge. Sie wird nur täglich trauriger. Die blauen Karten sind momentan gar nicht zu haben.

      Liebes Ederle, ich brauche Dir unsere übergroße Bitte nicht wiederholen. Jedoch, sollte die Sache ganz aussichtslos sein, dann schreibe uns bald möglichst, was uns sehr schmerzen würde. Vielleicht gönnt uns doch das Glück noch gemeinschaftlich schöne Stunden. Wir haben ja gemeinsame Jugendstunden verbracht. Vielleicht werden sie in unserem sogenannten Alter auch sein?

      Ich bin verblüfft, wie besorgt sie ist. Ihre Angst ist mit Händen zu greifen. Sie versucht erst gar nicht, meinen Vater zu beschwichtigen, dass alles in Ordnung sei; vor ihrer Offenheit kann niemand die Augen verschließen. Es gibt viel in Marthas Brief, was mich umtreibt. Zunächst die Auswanderung nach Palästina. Warum ist das keine Lösung, die auf der Hand liegt? Und warum geht sie davon aus, dass sie die Kinder zurücklassen müsste? Wieder einmal suche ich die Bibliothek auf, um die Umstände von 1939 verstehen zu können.

      Ich wusste, dass Israel erst 1948 gegründet wurde. Und seine Entstehung war das Ergebnis der Anstrengungen der Nationen der Welt. Ich wusste, Israel wurde nicht ohne Kämpfe gegründet – aber die Details waren verblasst. Ich verstand nicht, warum die Fränkels nicht einfach das nächste Schiff über das Mittelmeer nach Palästina bestiegen.

      Jetzt fand ich heraus, dass der Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg das britische Mandat anerkannt und unterschrieben hatte, welches Großbritannien die Herrschaft über Palästina garantierte. Zwischen 1920 und 1948 setzte Großbritannien der jüdischen Einwanderung nach Palästina enge Grenzen. Je größer der Druck derer wurde, die Nazi-Deutschland entkommen wollten, desto strenger handhabten die Briten die restriktive Einwanderung.

      Um dieses Nadelöhr zu umgehen, organisierten einige zionistische Gruppen illegale Transporte – vor allem mit leistungsfähigen Menschen, die imstande sein würden, das Land zu bewirtschaften und für seine Freiheit zu kämpfen. Dieses Wissen gab mir die Antwort auf ein Übersetzungsproblem, welches sich in einem späteren Abschnitt des Briefes ergab. Marthas Mann verwendet das Wort »Transport«, im Deutschen ein Fremdwort. Das einzige Mal, dass meine Eltern das Wort nach dem Krieg verwendeten, war in Bezug auf die Züge, welche die Leute in die Konzentrationslager gebracht hatten. Ich befürchtete, das Wort im Brief falsch verstanden zu haben.

      Weitere Antworten fand ich in einem Buch Arthur Koestlers, der eine Parallele zog zwischen den verschlossenen Waggons, welche die Juden in den Tod brachten, und den Schiffen, die nach Palästina unterwegs waren. Er nannte sie »kleine Todesschiffe«:

      »Die Geschichte Palästinas von Mai 1939 bis zum Ende des Krieges ist im Grunde die Geschichte der Juden, die versuchten, ihre Haut zu retten, und die Bemühungen der Mandatsmacht [Großbritannien], dies durch eine Einwanderungssperre zu verhindern. […]

      Es ist wichtig …, im Gedächtnis zu behalten, dass diejenigen Juden in unmittelbarer Lebensgefahr waren, die in den von den Deutschen besetzten Gebieten lebten. Die Flucht eben dieser Menschen war für ›ungesetzlich‹ erklärt worden. […]

      Die praktische Folge dieser Politik war […], dass in Palästina mehr als eine halbe Million Juden mit offenen Armen auf ihre gequälten Verwandten warteten. […]

      Schmutzige und seeuntüchtige kleine Frachtschiffe kamen über das Mittelmeer und das Schwarze Meer und trieben auf offener See, während sie vergeblich auf die Erlaubnis warteten, ihre menschliche Fracht abzuladen. Hunger, Durst, Krankheit und unsägliche Lebensbedingungen herrschten auf diesen schwimmenden Särgen.

      Im März und April 1939 erreichten drei mit Juden beladene Flüchtlingsschiffe Palästina und bekamen keine Landeerlaubnis.

      Im Unterhaus fragte Noel-Baker den Kolonialsekretär Malcolm MacDonald, was mit diesen Menschen geschehe. MacDonald sagte, dass man sie dorthin zurückschicke, wo sie hergekommen seien.