Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie. Helen Waldstein Wilkes

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Название Das Schlimmste aber war der Judenstern - Das Schicksal meiner Familie
Автор произведения Helen Waldstein Wilkes
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788711448533



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Kragen noch heute, so düster und schmutzfarben braun im Vergleich zum giftgrünen Komplet meiner Mutter.

      Weil ihre Papiere sie als tschechische Bauern auswiesen, legten meine Eltern als Erstes die guten Kleider ab und bereiteten sich auf ihr neues Leben vor. Sie hatten der kanadischen Regierung zugesagt, mindestens fünf Jahre auf einer Farm zu arbeiten.

      Es war ein großer Sprung. Von ihrer Rolle als Dorfschönheit musste sich meine Mutter verabschieden und Kühe melken, Hühner rupfen und ausnehmen und Schweine füttern, eine Arbeit, die sie ganz abscheulich fand. Auch mein Vater musste sich von einem Leben, das die Erfüllung all seiner Träume war, verabschieden. Für das bäuerliche Leben war er völlig ungeeignet. Sein magerer Körper wurde nie kräftig genug, und seine Hände blieben ungeschickt. Das Schlimmste jedoch war sein Schamgefühl. Seine eigenen Ansprüche waren bescheiden, aber dass seine Gretl, die feine Braut, der er den Himmel auf Erden versprochen hatte, in solcher Erniedrigung leben musste, war für ihn eine tägliche Demütigung.

      Am Anfang haben wir alle zusammen auf der Ridge-Farm gewohnt, das Haus überfüllt mit Verwandten. Sobald wie möglich haben aber Ludwig und Edi, mein Vater, als Partner ihre eigene Farm gekauft. Die Hoffnung war natürlich, dass die Grünhut-Eltern und die ganze Familie Waldstein in nächster Zeit zu uns übersiedeln würden.

      Die Wren-Farm haben Edi und Ludwig ausgewählt, weil sie billig war. Zu dieser Zeit gab es genug Angebote, denn im Zuge der Wirtschaftskrise zogen viele Kanadier in die Städte und suchten dort nach einer gut bezahlten Arbeit in einer Fabrik, statt weiterhin ihre Äcker zu pflügen.

      Die Wren-Farm war besonders günstig, weil niemand diese 72 Hektar bewirtschaften wollte. Der Grund war uneben und schwer zu bearbeiten. Manche Felder waren immer nass und sumpfig, andere hatten mehr Steine als Erde. Die Zaunpfähle, sofern es welche gab, standen überall schief, und wenn Sturm aufkam, fürchteten wir den Einsturz der alten Scheune.

      Doch es war ein Anfang. Von einem Nachbarn kauften Ludwig und Edi eine Kuh. Am nächsten Morgen lag sie tot in unserem Stall. Sie kauften eine zweite Kuh und meine Mutter kochte die Rohmilch auf dem Holzofen in der Küche. Heute noch habe ich den Geruch warmer Milch in der Nase, und auf der Zunge spüre ich die Haut, die sich bildete, wenn die Milch in der Tasse abkühlte. Heute noch trinke ich nur schwarzen Kaffee und ekle mich vor dem Geruch von heißem Kakao.

      Es kamen mit der Zeit immer mehr Kühe in den Stall, und ich war gerne dort. Meine Mutter musste sie alle melken. Ich sehe sie noch vor mir, ängstlich hockte sie auf dem kleinen Melkschemel, die Hände am Euter. Ich höre das Geräusch der Milch, wenn sie in den Eimer spritzte. Wann immer meine Mutter aufstand, um die Milch aus dem Eimer in die große Kanne umzugießen, streckte sie sich, zupfte an ihrem roten Kopftuch und tat einen tiefen Seufzer.

      Derweil bestellten Ludwig und Edi die Felder. Sie kauften einen Gaul und spannten ihn vor den alten Pflug, den mein Vater mühselig führte. Ludwig war geschickt und reparierte nach und nach etliche defekte Arbeitsgeräte. Dazu sammelte er jedes Stück Schnur, Strick oder Bindfaden. Bei uns wurde nichts weggeworfen. Ich habe ihm stundenlang zugeschaut, wie er mit großer Geduld alles durchprobierte, bis er endlich wusste, wie es funktionierte. Ich habe auch sehr gern meinen Vater aufs Feld begleitet, besonders wenn er Mais säte. Dazu hatte er eine Art Stock mit einer Metallstange, auf die er trat, und jedes Mal kam ein Korn in die Erde.

      Meine Tante Anny übernahm eine andere Rolle: die Verbindung zur Außenwelt. Niemand von uns konnte ein Wort Englisch, aber Anny hatte genügend Courage, mit dem Wörterbuch in der Hand einen Anfang zu machen. Mit freundlichem Lächeln und lebhaften Gesten gelang es ihr allmählich, sich mit Nachbarn und Fremden zu verständigen. In Europa hatte Annys zwanglose Art wenig Beifall gefunden, aber jetzt betrachtete man sie als unternehmerisch denkende junge Frau. Sie entschloss sich, Hühner zu halten. Jede Woche stand sie mit einem Korb voller Eier am Rand der Landstraße und fuhr per Anhalter in die Stadt. Dort klopfte sie an jeder Haustür, bis das letzte Ei verkauft war.

      Es gab viele Rückschläge, aber mit der Zeit lieferte die Farm doch einen besseren Ertrag. Zu den Eiern kamen frisch geschlachtete Hühner. Beim Rupfen der Hühner durfte ich helfen. Die Sache mit den Hühnern war nicht so einfach. Erst musste man unter die Federn greifen, um abzuschätzen, wie dick die Henne war, und dann erst kam der große Spaß: Das Huhn musste gefangen werden. Da gab es lautes Kreischen, während alle Hühner von einem Ende des Stalls zum anderen liefen. Inzwischen hatte sich natürlich die auserkorene Henne unter ihre Artgenossinnen gemischt und war unseren suchenden Augen entschwunden.

      Das Schlachten selbst erledigte Ludwig. Mit einem scharfen, spitzen Messer stach er den Hühnern in den Schnabel. Mir erklärte er, dies sei schonender, als ihnen den Kopf abzuhauen, denn danach lief eine Henne oft kopflos weiter herum und Blut spritzte in alle Richtungen.

      Zunächst musste man die tote Henne in heißes Wasser eintauchen. Das Wasser musste heiß genug sein, um die Federn weich zu machen, aber es durfte nicht zu heiß sein, denn sonst verbrühte man ihnen die Haut. Dann wurden die Hühner an den Beinen auf eine hohe Stange gehängt und jetzt durfte ich helfen, sie zu rupfen. Ich gab sehr Acht, ihre zarte Haut auch bei den längsten Federn nicht zu verletzen.

      Den letzten Teil des Putzens erledigte meine Mutter. Zuerst nahm sie das Huhn mit in die Küche, wo sie den Deckel vom Holzofen hob und über der offenen Flamme die ganz feinen, fast unsichtbaren Haare absengte. Dann erst schlitzte sie die Henne vor dem Bürzel auf und steckte die Hand tief in den Bauch des Tiers hinein. Sie zog die Eingeweide heraus, Gedärm, Leber, Magen, alles glibberig ineinander verschlungen. Manchmal zog sie Eier ohne Schale heraus, die warf sie in eine Schüssel mit den kleinen Klumpen Fett, die sie von den Gedärmen für unsere Mahlzeiten abzog. Größere Klumpen Fett wurden sorgfältig gewaschen und mit Herz, Magen und Leber in die saubere Körperhöhle der Henne gelegt, auf dass die Hausfrau, die sie später erwarb, ihre Freude daran haben möge.

      Auch die Äcker lieferten mit der Zeit guten Ertrag. Auf manchen Feldern wuchs Weizen. Man schnitt ihn, band ihn zu Garben und stellte die Bündel zu jenen zeltähnlichen Gebilden zusammen, die als Sujet bei Malern so beliebt waren. Mir kam das Bündeln und Aufstellen endlos vor und ich verbrachte unzählige Stunden unter kleinen fast schattenlosen Bäumen am Rand der Felder, während meine Mutter und Anny den Männern halfen. Dazu trugen beide Frauen hohe Gummistiefel trotz der brennenden Sonne, weil sie vor Schlangen Angst hatten. Diese Arbeit war immer nervenaufreibend, denn Regen hätte in dem Moment die ganze Ernte vernichtet.

      Erst wenn der Weizen richtig trocken war, konnte man ihn auf einen Wagen laden und zur Dreschmaschine bringen. Das war ein riesiges Ungeheuer. Man musste diese Maschine samt Fahrer weit im Voraus buchen, was immer schwierig war. Bei einer zu frühen Buchung riskierte man, dass der Weizen noch nicht richtig trocken war, bei einer zu späten drohte plötzlicher Regen und Sturm alles kaputt zu machen. Weiterhin musste nicht nur der Fahrer verfügbar sein, sondern man musste sich auch mit allen Nachbarn absprechen, denn das Dreschen war zu der damaligen Zeit nur gemeinschaftlich möglich.

      Bei uns im Hause herrschte am Dreschtag immer große Aufregung. Wenn die Nachbarn sich bereit erklärt hatten, zu helfen, fingen die Frauen an, die Mittagsmahlzeit zu planen. Die Planung stürzte meine Mutter und Anny in panikähnliche Zustände. Im ersten Jahr hatten sie zum Dreschen europäisch gekocht und das Beste aufgetischt, was sie zu bieten hatten: Kraut, Knödel mit Schweinebraten und Kuchen als Nachspeise. Die Nachbarn kamen zu Tisch, sahen, was es gab, schoben die Teller weg und gingen nach Hause. Sie hatten richtiges Roastbeef mit Kartoffelpüree und Soße und zweierlei gekochtem Gemüse erwartet. Und das Ärgste für Anny und Gretl war, dass sie zum Nachtisch »pie« wollten.

      Auch wenn die zwei Frauen späterhin lernten, »kanadisch« zu kochen, blieb ihnen die hohe Kunst des »pie«-Machens zeitlebens ein Rätsel. Beide besaßen Kochbücher, in denen sie handgeschriebene oder ausgeschnittene Rezepte für »pie« aufbewahrten. Es half nichts. Ihre »pie«-Kruste blieb steinhart. Es ist ihnen nie gelungen, den krossen Mürbeteig für diesen Kuchen herzustellen. Den kanadischen Hausfrauen hingegen scheint das in die Wiege gelegt zu sein. Nur mit der Hilfe von Frau Bates, einer lieben Nachbarin, die uns ihre »pies« ofenfertig brachte, konnten Anny und Gretl beim Dreschen eine zufriedenstellende Nachspeise auf den Tisch stellen.

      Frau Bates war wirklich eine nette Frau.