Geschichten aus Nian. Paul M. Belt

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Название Geschichten aus Nian
Автор произведения Paul M. Belt
Жанр Языкознание
Серия Nian Zyklus
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947086641



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Wollen wir das vielleicht ein wenig leiser besprechen und am besten auch anderswo?“ Er deutete mit den Augen auf den wartenden Wagen. „Wir fahren jetzt zurück zum Stadtrand, federn ein wenig in die Wildnis und dann reden wir bitte dort weiter, ja?“

      Lutz war völlig konsterniert. Er kannte Malu ja nun schon eine Weile, aber solch blanke Furcht hatte er noch nie in ihrem Blick gesehen, selbst dann nicht, als sie von ihrer Zeit im Waisenheim erzählt hatte. Das musste ja ein furchtbarer Ort sein, dieser Pass – aber woher wollte sie das wissen? Zusammen stiegen die drei erneut in den Wagen ein. Herk saß wieder vorn und bat darum, zurück nach Gehlstadt zum nördlichen Stadtrand gefahren zu werden. Der Fahrer rollte mit den Augen und wendete. Er hatte es ja gleich gewusst. Na, nun würde ihm die kleine Unterhaltung dieser seltsamen Leute eine halbe Silbermünze extra in die Kasse spülen. Auf dem Rücksitz drückte sich Malu zitternd an Lutz, der seinen linken Arm um sie legte. Was um alles in der Welt war nur fähig, diesem robusten und erfahrenen Mädchen solche Angst einzujagen?

      Nachdem Herk den Fahrer bezahlt und dieser seiner Wege gefahren war, sammelten sich die drei Federer und bedankten sich beim Gras am Straßenrand für die nun folgende Reise. Freudig nahmen die Halme sie auf und transportierten sie ein paar Mittelmaße hinein in den Graswald bis zu einem Feldrain. Dort rollten alle drei mit ihren Tragsäcken aus und setzten sich auf zwei Felsen, die dort wie natürliche Wächter das Feld vom Graswald trennten.

      „Dürfte ich jetzt eventuell weiterschreien, Herk?“ Malu hatte augenscheinlich ihren Sarkasmus wiederentdeckt. Lutz fand, dass dies ein gutes Zeichen war, und fügte seinerseits hinzu: „Ich würde auch gern wissen, was an diesem Vorschlag so durchgerädert sein soll. Ihr scheint mehr zu wissen als ich.“

      „Malu hat recht“, begann Herk. „Die Route über diesen Pass ist gefährlich. Seit vielen Zyklen hat niemand mehr die Reise dort entlang gewagt, zumindest ist nichts davon bekannt geworden. Auch Reiter überqueren das Trenngebirge zwischen Mederebene und Westlicher Ebene nicht, sie reiten nordwärts und wählen gewöhnlich den Weg über Wesenburg – so sie denn überhaupt einen Grund haben, nach Westen vorzustoßen.“

      „Niemand geht dort entlang!“ Malu zitterte wieder. „Hier kennt jedes Kind das Gedicht vom Kerstlinger Grusling und seinen Helfern! Keine zwanzig Lasttiere bekommen mich dorthin!“

      „Was für ein Gedicht?“, wollte Lutz nun wissen.

      „Soll ich es wirklich vortragen? Ich will Malu nicht noch mehr Angst einjagen, als sie sowieso schon hat“, brummte Herk. Doch da hatte Malu bereits mit zitternder Stimme zu sprechen begonnen:

      „Gedenke, gedenke und niemals verschenke

      Am Kerstlinger Passe deine Kraft

      Denn so du erreichest den Kamm vor der Senke

      womöglich du denkest, du hast es geschafft

      Mitnichten! Schon greift’s nach dem zitternden Bein

      mit Heulen und schrecklich Gejaule

      der Grusling des Passes fährt aus dem Gestein

      und packt dich mit saugendem Maule

      Herunter in die Tiefe wird fahren

      des Wanderers müdes Gebein

      so sehr er sich mühet das Leben zu wahren

      wird’s doch ein gut Ende nicht sein

      Denn so er entkommet dem finsteren Grabe

      im Felsbett gar einsam allein

      so wird er der gierigen Helfer Habe

      als Sklave in Ketten und Stein“

      Die letzten Worte hatte das Mädchen kaum aussprechen können. Fest schmiegte sie sich an Lutz, der nun endlich wissen wollte, woher Malu dies alles wusste. Er fragte sie danach, woraufhin sie mit erstickter Stimme flüsterte: „Habe ich es dir gar nicht erzählt? Ich stamme aus dieser Gegend. Meine Stiefeltern haben hier früher mit mir gelebt, bis es nicht mehr ging.“

      Nun zog Lutz die Augenbrauen hoch und sah Herk an. „Solche grausamen Geschichten gehen hier um? Und dennoch schlägst du vor, es dort entlang zu probieren? Warum?“

      „Zum einen“, erwiderte Herk ruhig, „ist dies ein sehr altes Gedicht. Von der Sprache her würde ich sagen, mehrere Dekazyklen. Zu diesen Zeiten wurden viele Schauermärchen und ähnlicher Unfug geschrieben, um beispielsweise Kinder von gefährlichen Abenteuern abzuhalten. Oder Trugkerle wollten sich mit solchen Spukgeschichten vor allzu neugierigen Zeitgenossen schützen, um in Ruhe ihren dunklen Geschäften nachgehen zu können. Dummerweise geht solcher Blödsinn dann manchmal in den Volksmund über und verweilt im Gedächtnis der Menschen, obwohl die zugehörige Begebenheit längst der Vergangenheit angehört. Kurz gesagt, ich glaube nicht an diesen Stuss. Zum anderen schlage ich dies nicht leichtfertig vor. Auch ohne solche Mären zum Bangemachen ist der Weg über das Trenngebirge mit Sicherheit deutlich mühsamer als durch Wesenburg. Leider gibt es ansonsten nur zwei Alternativen: warten, bis der Weg über die Landenge wieder freigegeben wird, oder aufgeben.“

      Lutz zog die Stirn in Falten. Nach allem, was er über die Westliche Ebene gehört hatte, war mit Schwierigkeiten zu rechnen gewesen. Dass sich aber nun bereits welche ergaben, ohne dass sie auch nur in die Nähe der Ebene gekommen waren, erleichterte ihr Vorhaben keinesfalls. Hier auf dem Feld bleiben und einen Reiseabend verschenken, das konnten sie sich aber so oder so nicht leisten. „Ich möchte gern, dass Malu entscheidet, wie wir weiter vorgehen“, sagte er daher.

      Malu schaute ihn aus verquollenen Augen überrascht an. „Ich?“, stammelte sie. „Warum ich?“

      „Weil es das Größte ist, was ein Mensch tun kann, wenn er sich aus welchen Gründen auch immer seinem inneren Schatten, seinen Ängsten, stellt, um ein Werk der Liebe zu vollbringen. Herk und mich scheint dieses Gedicht nicht so zu beeindrucken wie dich – er glaubt nicht daran und für mich hat es auch keine tiefe Bedeutung, das Ganze erscheint mir eher wie eine dumme Spukgeschichte. Der Punkt ist aber: Es ist unwichtig, ob etwas davon wahr ist oder nicht. Es geht darum, inwieweit man bereit ist, seiner inneren Furcht ins Angesicht zu sehen und sie zu überwinden, egal ob andere sie nachvollziehen können oder nicht.“

      Darüber musste Malu erst einmal nachdenken. Schweigen senkte sich über den Feldrand, nur das leise Rascheln der Gräser im Wind war zu hören. Nach ein paar Mittelzeiten sprang die Federin plötzlich unvermittelt auf, stellte sich mit in die Hüften gestemmten Armen und schief gelegtem Kopf vor Lutz hin und sagte in herausforderndem Ton: „Sag mal, wie zum Worger machst du es eigentlich, immer im richtigen Moment solche neunmalschlauen Reden zu schwingen? Mann, wenn ich dieser Grusling da auf dem Pass wäre, dir möchte ich da oben nicht begegnen!“ Dann fiel sie dem überraschten Mann um den Hals, der daraufhin Herk in dessen ebenso verdattertes Gesicht blickte.

      Eine Zeit lang war es nun wieder still, bis schließlich Herk leise sagte: „Ich glaube, wir haben hier einen wirklich sehr, sehr mutigen Menschen bei uns.“

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      Brennergemeinschaft

      Zeg rieb sich verwundert die Augen. Was hatte denn diese rot blinkende Lampe an seinem Nachttisch zu bedeuten? Die hatte doch vorher nicht geleuchtet? Nachdenklich ließ sich der Brenner auf seinem bequemen Bett nieder.

      In der letzten Zeit hatten sich die Ereignisse geradezu überschlagen. Erst wenige Tage zuvor war Zeg überhastet in die Brennstätte C gerufen worden und hatte erleben dürfen, dass der dort arbeitende Lorn Gerland, der aus dem nördlichen Mittelland stammte, ebenfalls ein Brenner war. Er hatte ihm daraufhin nach Feierabend die Grundlagen des Brennens erklärt, die er selbst erst vor kurzem gelernt hatte. Lorn hatte nicht nur sehr schnell begriffen, worin seine Gabe bestand, sondern auch, dass er in ihm seinen Ersten vor sich hatte. Als Zeg dann nach dem üblichen Besuch bei seiner Familie am Wochenbeginn in der Brennstätte zur Arbeit erschienen war, hatte Lars, der Schichtmeister, ihm mitgeteilt, dass er zusammen mit Lorn von der Geschäftsführung für eine Woche von der Arbeit freigestellt worden sei und umgehend