Geschichten aus Nian. Paul M. Belt

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Название Geschichten aus Nian
Автор произведения Paul M. Belt
Жанр Языкознание
Серия Nian Zyklus
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947086641



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Gebirgslandes, „uns allen sind in den vergangenen Riten seltsame Dinge mit Metall widerfahren. Soweit ich mitbekommen habe, erhielt irgendwann jeder von uns Besuch von einem hohen Laubreiter, der uns mitteilte, wir seien Träger einer alten Gabe und würden in Medriana gebraucht werden. Mit unseren jeweiligen Chefs schien das bereits geregelt zu sein, und da wir natürlich alle neugierig sind, was diese merkwürdige Fähigkeit zu bedeuten hat, haben wir uns bereit erklärt, hierherzukommen und uns beraten zu lassen. Sie sollen derjenige sein, der unser Erster ist und der uns alles erklären kann.“

      „Wie ich sehe, sind Sie gut informiert worden“, sagte Zeg. „Allerdings möchte ich gern von Ihnen allen ‚Zeg‘ genannt werden und nicht ‚Erster‘ oder ähnlich. – Rengat Mernek, ist für die Unterbringung dieser Männer gesorgt worden?“

      „Sie haben zunächst jeder ein Zimmer für eine Nacht in diesem Hotel. Über den weiteren Verbleib vor Ort entscheiden Sie. In jedem Fall übernimmt mein Klan die Kosten für Unterkunft und Verpflegung“, erwiderte Raul.

      „Gut, das ist sehr liebenswürdig, ich danke Ihnen! Dürfte ich Sie dann an dieser Stelle bitten, Lorn und mich mit den Männern allein zu lassen, damit ich mit der Prüfung beginnen kann?“

      Der Rengat verneigte sich tief und verließ das Hotel durch den Eingang. Die fünf Neuankömmlinge sahen sich ein wenig unsicher an. Was würde sie nun erwarten?

      Über den Pass

      „Junge, Junge, das geht auf die Beine“, schnaufte Herk, bevor er sich zu den beiden anderen Federern auf einen Felsvorsprung setzte. Schon seit dem frühen Morgen waren sie auf dem Weg zu der niedrigen Stelle im Trenngebirge, über welche in früheren Zeiten womöglich regelmäßig Menschen von der Mederebene auf die Westliche Ebene und zurück gelangt waren. Falls irgendwann einmal in den Berg gehauene Stufen vorhanden gewesen sein mochten, so waren sie nun kaum noch als solche zu erkennen; der steile Pfad von Gehlstadt aus aufwärts zum Kerstlinger Pass bestand größtenteils nur noch aus Geröll und zerklüfteten Felsen. Der Bewuchs dort am Osthang war ebenfalls kärglich, weshalb auch einem Federer nichts anderes übrig blieb, als zu klettern.

      Am Abend des Vortages hatten sie die Route ausgemacht, die sie zu dem verrufenen Bergübergang führen sollte. Schnell war klar geworden, dass ein Aufbruch noch am selben Tag sinnlos gewesen wäre. Herk hatte außerdem entschieden, für die Nacht eine Herberge zu suchen, da ein Aufenthalt im Freien den nötigen Kraftreserven für eine morgendliche Besteigung nicht zugutegekommen wäre. Selbst Malu als erfahrene Freilandübernachterin hatte dem zustimmen müssen. So hatten sich die drei ein kleines Apartment am Westrand der Stadt gemietet und waren am nächsten Tag direkt nach dem Frühstück aufgebrochen.

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      „Bald ist schon Mittag“, sagte Lutz, der ebenfalls ein ziemlich verschwitztes Gesicht hatte. „Ich muss schon sagen, ich hätte nicht gedacht, dass wir uns schon so verausgaben würden, bevor wir die Ebene auch nur betreten haben. Hoffentlich ist der Abstieg wenigstens etwas angenehmer.“

      Malu sagte nichts. Sie war anstrengende Märsche mit Gepäck gewohnt; das war es nicht, was ihr zu schaffen machte. Je mehr sich die kleine Gruppe jedoch dem Grat näherte, der den Pass darstellte, desto öfter musste sie von neuem an das alte Gedicht denken. Und so war es auch nicht verwunderlich, dass sie als Erste das merkwürdige Geräusch vernahm, nachdem die Federer ihren Aufstieg nach kurzer Rast wieder aufgenommen hatten.

      „Scht … Hört ihr das?“, fragte sie und hob die Hand.

      „Was meinst du, das Pfeifen des Windes in meinen Ohren oder mein Keuchen?“, fragte Herk.

      Malu verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Nein, so hör doch! Da ist es wieder!“

      Lutz und Herk sahen sich achselzuckend an. Es sollte noch eine Weile und viele anstrengende Schritte aufwärts dauern, bis auch Lutz ein auf- und abschwellendes Heulen vernahm. Es klang, als ob ein trauriger Riese seinem Kummer Luft machte: „Huuu … uuuuoooaaahhhh … aaaaooouuuhhh … uuuhhhuuuu …“

      „Jetzt hört ihr es aber, oder?“, wisperte Malu angstvoll. Längst waren ihre Augen geweitet und der Schweiß klebte ihr kalt auf der Haut.

      „Ja, jetzt höre ich etwas“, sagte Lutz so ruhig wie möglich. Denn wenn er ehrlich war, dann war dies ein Klang, der auch einem gestandenen Mann das Blut in den Adern erstarren lassen konnte.

      „Es ist der Grusling“, ächzte Malu. „Er hat uns gewittert! Wenn wir weitergehen, wird er uns ansaugen und …“

      „So ein ausgemachter Blödsinn!“, entfuhr es Herk. „Pass mal auf, Malu! Wenn das ein Grusling ist, dann werde ich jetzt vorgehen und ihm mit diesem Knüppel hier eins überziehen, dass er aus einem anderem Grund heulen wird als jetzt!“ Wild schwang er den Stock, den er bisher als Wanderstab genutzt hatte, über seinem Kopf. Der Anblick des kleinen, stämmigen Mannes, der nun auch noch die Augen aufriss und wüst die Zähne fletschte, war so grotesk, dass Malu nicht anders konnte als laut loszulachen.

      Auch Lutz konnte nicht an sich halten. „Wuahahaa! Herk der Geisterjäger! Das nenne ich mal eine gelungene Aktion! Na, dann werde ich mich auch mal bewaffnen und dem Burschen notfalls mal ein paar Klunker in seinen geifernden Rachen schmeißen!“ Mit gespielt wutverzerrtem Gesicht hob er ein paar große Steine auf und sagte zu Malu: „Los, schnapp dir auch ein paar! Und dann wollen wir doch mal sehen, ob wir ihm nicht das Maul stopfen können!“

      Das Lachen wirkte befreiend auf Malu. Es war aber auch zu komisch, wie die beiden friedfertigsten Erwachsenen, die sie kannte, sich angesichts dieses unheimlichen Jaulens in zwei kampflustige Urmenschen zu verwandeln schienen! Sie hob ebenfalls zwei Steine auf und folgte den beiden Männern weiter den Pass hinauf. Lauter und lauter wurde das Heulen, bis es ihnen dermaßen in den Ohren dröhnte, dass sie kaum ihr eigenes Wort verstehen konnten.

      Auf einmal blieb Lutz, der zwei Schritte vorausgegangen war, stehen. Mit markerschütterndem Kriegsgebrüll schleuderte er einen der mitgebrachten Wackersteine von sich und nahm gleich den nächsten in die Hand. „Komm hierher, Herk, gib ihm eins auf die Rübe! Uuuuaaaaahh!“ Schon flog der nächste Stein. Malu erstarrte, teils vor Entsetzen, teils vor Bewunderung. Wie konnte es ein einzelner nur mit Steinen bewaffneter Mensch mit einem Monster aufnehmen, welches solch grässliches, überlautes Heulen von sich zu geben vermochte? Nun rannte auch noch Herk hinter Lutz her und begann, wie ein Berserker mit dem Stock um sich zu schlagen! Wie gelähmt starrte Malu die unwirkliche Szene an. Lange jedoch blieb sie dort nicht stehen. Was fiel ihr nur ein, hier vor Angst erstarrt ihren Freunden zuzusehen, wie sie einen übermächtigen Gegner allein bekämpften? Monster oder nicht, jetzt war der Grusling dran! Ein gellendes Kreischen entfuhr ihrer Kehle, als sie ebenfalls aufwärts stürzte und den Arm mit einem Stein hob, um diesen dem Geist in den Rachen zu werfen.

      Als sie die beiden Männer erreichte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Herk hatte aufgehört, mit dem Stock auf den Boden einzudreschen und Lutz hatte gerade seinen letzten Stein in ein riesiges gähnendes Loch in der schrägen Felswand an der Seite des Grats geworfen. Polternd rollte dieser den dahinter befindlichen Steilhang hinab. Das jammernde Heulen ertönte noch immer, jedoch als Malu nun sah, woher es stammte, fühlte sie auf einmal keine Angst mehr. Stattdessen kroch dunkelrote Wut ihre Wirbelsäule empor. Als diese ihren Kopf erreichte, brüllte es aus ihr heraus: „Du blödes, unendlich mistiges Drecksloch! Deinetwegen habe ich mich also Zyklen lang vor diesem Ort gefürchtet! Na warte! Nimm das!! Und das!!“ Außer sich vor Zorn schleuderte sie ihre beiden Wackersteine durch das gewaltige Loch hindurch. Sie kollerten ebenso wie Lutz’ Wurfgeschosse knirschend den Hang dahinter herab.

      Eine Weile lang war nichts zu hören außer dem lauten Jammern des Windes, der sich in dem Loch fing. Jedes Mal, wenn eine Bö die Felswand erreichte, wurde das Heulen lauter und höher und die drei Federer mussten ihr Gewicht verlagern, denn die wechselnde Luftströmung war wirklich sehr kräftig.

      „Kein Wunder, dass hier eine solch gruselige Legende entstanden ist“, sagte Lutz schließlich mit seiner tiefen Stimme. „Wir