Geschichten aus Nian. Paul M. Belt

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Название Geschichten aus Nian
Автор произведения Paul M. Belt
Жанр Языкознание
Серия Nian Zyklus
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947086641



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dass sie einen Menschen von den Beinen reißen und durch das Loch schleudern kann. Daher kommt dann wohl auch das ‚saugende Maul‘ in diesem Gedicht.“

      Malu hatte sich wieder ein wenig gefangen, starrte aber immer noch voller Ärger auf das Felsloch. „Fragt sich nur noch, wer die ‚gierigen Helfer‘ sein sollen.“

      „Vielleicht habe ich darauf eine Antwort“, rief Herk, der ein paar Schritte weitergegangen war. „Schaut mal.“

      Als Lutz und Malu ihn erreichten, stockte ihnen der Atem. Nur zur Rechten und zur Linken von ihnen erhoben sich die Flanken der Berge weiter in den Himmel. Nach Westen jedoch bot sich den Federern ein prachtvoller Ausblick über die im Sonnenlicht leuchtende Westliche Ebene. Ganz eindeutig war hier die Kletterei vorbei, dies war der Kamm des Trenngebirges. Sie hatten den Kerstlinger Pass bestiegen!

      „Und wo sind nun die Helfer?“, fragte Malu, nachdem sie sich eine Mittelzeit später vom atemberaubenden Anblick des weiten Landes hatte lösen können.

      Herk zeigte mit dem Finger nach vorn. „Schau, wie sanft der Hang an dieser Seite des Gebirges abfällt. Der Wind muss hier in vielen Dekazyklen Erde, Kies und anderes Material angeweht oder von den Bergen abgetragen haben. Ich vermute, dass früher dunkle Gesellen von Westen her auf den Pass gestiegen sind und Wanderern oder Händlern aufgelauert haben, die den beschwerlichen Aufstieg mit ihrer Ware von Osten her auf sich nehmen mussten. Geschwächt wie sie waren, wurden diese dann leichte Beute der Räuber. Der eine oder andere konnte vermutlich fliehen. Und so ist dann das Gedicht entstanden.“

      „Klingt logisch“, meinte Malu. „Heute aber lohnt es sich nicht mehr, hier jemandem aufzulauern, da sowieso niemand mehr etwas mit der Westlichen Ebene zu tun haben will und dieser Pass von keinem Menschen mehr benutzt wird.“

      „Genau“, sagte Lutz. „Zumindest von keinem außer von drei Federern. Und genau jetzt wird es sich auszahlen, dass wir ebensolche sind!“

      „Warum das?“, fragte Malu überrascht.

      „Sieh doch, wie viele Pflanzen auf dieser Seite den Hang bewachsen! Fast überall steht Gras. Ich glaube, unser Abstieg wird nur einen Bruchteil der Zeit des Aufstiegs in Anspruch nehmen.“

      Tatsächlich, er hatte recht. Malu strahlte erst ihn, dann Herk an. „Dann können wir ja vielleicht noch heute mit der Suche beginnen!“

      „Zunächst mal sollten wir ganz allgemein Kontakt mit Menschen aufnehmen und schauen, ob sie wirklich so seltsam sind, wie die Gerüchte auf unserer Seite des Gebirges behaupten“, sagte Herk. „Dann müssen wir spontan entscheiden, was sich daraus für Folgen ergeben. Und wir sollten sehr vorsichtig sein. Vermutlich haben die meisten hier noch niemals einen Federer gesehen oder überhaupt etwas vom Federn gehört. Dass Menschen über den Pass kommen, kennt bestimmt auch kaum noch jemand. Wir könnten ihnen auf zweifache Weise fremdartig vorkommen und sie könnten sich überrumpelt fühlen.“

      „Das stimmt“, sagte Lutz. „Lass uns die Reise über das Gras weit genug vor dem ersten Ort in der Senke beenden und dann zu Fuß weitergehen.“

      Neues Unbehagen regte sich in Malu. Weiter als bis zum Pass hatte sie bisher gedanklich nicht geplant. Hoffentlich waren die Menschen hier nicht wirklich so unzivilisiert, wie manchmal erzählt wurde. Nun, noch vor dem Abend würden sie es wissen. Gemeinsam mit den beiden Männern flüsterte sie den ersten Grasbüschen ihren Wunsch zu und diese antworteten mit einem freudig-erstaunten Wispern. Federer in ihren Landen, die auf ihnen reisen wollten! Das hatten sie in ihrem Leben noch niemals erlebt. Fröhlich nahmen die Halme sie auf und schon federten drei Menschen mit ihren Tragsäcken wie auf Flügeln nianianischer Adler zu Tal.

      Prüfung

      „In Ordnung, Kollegen“, begann Zeg das Gespräch, nachdem alle sieben Männer in einem Nebenraum des Hotelrestaurants an einem großen Tisch Platz genommen und ihre bestellten Getränke erhalten hatten. „Beginnen möchte ich gern damit, dass jeder von euch erzählt, woran er gemerkt hat, dass irgendetwas mit ihm anders ist. Mich interessiert ebenfalls, auf welche Weise die Lindenreiter davon erfahren haben, falls das bekannt ist. – Ist das Du für euch eigentlich akzeptabel?“

      Ein zustimmendes Brummen erhob sich und Merl ergriff das Wort: „Logisch, Zeg. Wenn ihr beiden wirklich Steinhauer seid, wäre alles andere ja Quatsch, oder?“

      „Lorn ist Brennstättenarbeiter, er hat seine Gabe dort entdeckt. Und mir erging es in der Tat genauso. Ich erzähle euch gern später davon. Nun aber zu euch. Merl, fängst du an?“

      Der nun folgende Bericht des Steinhauers aus dem Hulz schloss ebenfalls seine drei von dort mit angereisten Kumpel ein. Sie alle waren unter Tage in der Gönzlarer Mine von ausströmendem Grubengas überrascht worden. Die Schlagwetter hatten sich entzündet, bevor sie irgendjemandem hatten auffallen können, mehrere Tonnen Gestein waren daraufhin aus der Firste gebrochen und hatten die Abbaustrecke etwa ein halbes Mittelmaß hinter den Männern verschlossen. Nachdem sie wieder zu sich gekommen waren, war allen schnell klar geworden, dass eine Rettung mit den üblichen Mitteln sehr schwierig und zeitkritisch und daher vermutlich zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. In dieser Situation hatten sich die vier Bergmänner an den Händen gefasst und ein altes Lied angestimmt. Überraschenderweise hatten sie festgestellt, sich nicht nur plötzlich gegenseitig als leuchtende Wesen mit rotem Halo wahrnehmen zu können, sondern dass sie gleichzeitig den Eindruck hatten, den herabgestürzten Erzmassen das Eisen entziehen und das Gestein auf diese Weise porös machen zu können. Alle hatten eine blecherne Stimme gehört, und als sie eine knappe Langzeit später wieder aus einer Art Ohnmacht erwacht waren, hatten ihre Retter bereits das die Strecke versperrende weiche, tuffartige Gestein abtragen und sie herausholen können. Für alle Bergleute war dies unerklärlich gewesen und schon bald war in der Gegend des Bergwerks nur noch vom „Gönzlarer Wunder“ gesprochen worden. Daraufhin hatte es nicht lange gedauert, bis ein Rengat der Lindenreiter mit ein paar Begleitern erschienen war und ihnen Tickets für die Anreise nach Medriana in die Hand gedrückt hatte.

      Auch Jörks Erzählung ähnelte verblüffend derjenigen der Steinhauer aus dem Hulz. Er war ebenfalls zusammen mit ein paar Kumpeln einem Grubenunglück anheimgefallen und kurz danach bewusstlos geworden. Als er wieder zu sich gekommen war, hatten ihm die anderen Bergmänner mit blassen Gesichtern erzählt, dass ein Lauffeuer aus seinen Händen das herausgebrochene Gestein weichgeschmolzen habe; hinterher hätten sie es mühelos mit ihren Abbauhämmern zertrümmern und ihn und sich zum Schacht retten können.

      Nachdem auch dieser Bericht geendet hatte, fassten Zeg und dann Lorn in knappen Worten die Erlebnisse zusammen, die zur Entdeckung ihrer Gabe geführt hatten. Zum Schluss ergriff der Erste Brenner wieder das Wort und sagte: „Eure Schilderungen klingen allesamt schlüssig und decken sich weitgehend mit meinen Erfahrungen. Was ihr allerdings noch nicht wisst, ist, wie man es anstellt, beim Einsatz unserer Gabe nicht umzukippen. Genau darauf beruht die vorhin genannte Prüfung: Ich werde euch noch heute Nacht die Grundlagen der Verbindung eurer Energie mit derjenigen der Erde erläutern. Danach werden wir ein paar kleine Übungen machen. Sobald diese erfolgreich absolviert werden konnten, werde ich einen Ausblick auf das geben, was ihr sonst noch mit der Kraft anstellen könnt, die dort in euch schlummert. Richtet euch also bitte auf eine kurze Nacht ein. Denn wie ich den Ersten der Lindenreiter kenne, möchte er bereits morgen von mir einige Ergebnisse erhalten.“

      „Sag mal, Zeg“, begann Wers, „dieser Erste oder Älteste oder wie auch immer – offenbar arbeitest du für ihn und wir sollen das augenscheinlich auch tun. Warum?“

      „Das werde ich euch gern später erläutern, nachdem ihr die Übungen durchgeführt habt. Zunächst nur so viel dazu: Es ist nicht nur eine absolute Ehre für uns alle, etwas für die Lindenreiter zu tun, sondern es ist sogar absolut notwendig, um eine Katastrophe abzuwenden, die uns sonst alle betreffen könnte.“

      Kurz nach Mitternacht hatte Zeg seine grundlegenden Einweisungen in das Brennen abgeschlossen. Alle neuen Schützlinge hatten sich als waschechte Brenner erwiesen, die freudig und dankbar ihre Verbindung zum Boden und zur Großen Mutter angenommen hatten. Mehrere Sätze des stählernen Hotelbestecks waren in einem