Geschichten aus Nian. Paul M. Belt

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Название Geschichten aus Nian
Автор произведения Paul M. Belt
Жанр Языкознание
Серия Nian Zyklus
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947086641



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dann werden wir hierher abgestellt und seitdem reißt der Strom an Lastwagen nicht ab, die hier anfahren. Und was haben sie geladen? Nichts als Schrott!“

      Fonn nickte. Gerade einmal eine Woche war es her, als der Dritte Rengat der Hauptloge der Lindenreiter plötzlich auf der Logenwiese aufgetaucht war, scheinbar wahllos die beiden Lekure ausgesucht und sie dann hierher transportiert hatte. Wenn etwas Derartiges unerwartet geschah, wurde es als „Sonderdienst für die Loge“ bezeichnet, was meistens bedeutete, dass man für die Zeit der Aktion nicht nach Hause kam und seine Familie die ganze Zeit über nicht sah. Nicht selten wurde einem auch ein Schriftstück vorgelegt, dass man über den Inhalt und Fortgang des Dienstes Stillschweigen zu bewahren hatte. Und tatsächlich hatten die beiden nach der Unterzeichnung eines ebensolchen Dokuments zwei Zimmer in einem Hotel am Stadtrand gestellt bekommen, dem es zwar an Luxus nicht mangelte, dafür aber an Fröhlichkeit und Leben.

      „Und du hast wirklich keinen Schimmer, was das Ganze hier soll?“ Mit dieser Frage schloss Tern seine Überlegungen ab.

      „Bruder, du weißt doch, dass ich genauso blind für den Fortgang der Dinge bin wie du“, entgegnete Fonn. „Und selbst wenn ich etwas wüsste, dürfte ich es dir nicht erzählen. Ich muss sagen, mir erscheint das Ganze genauso rätselhaft. Normalerweise lagert der Klan edle Stoffe ein, vielleicht auch Baumaterial oder Farbe oder auch schon mal Frischblätter, aber solchen Krempel?“

      „Baumaterial, hmm … könnte es das sein? Ich meine, gut fünfzig Flächenlangmaße Metall, daraus könnte man schon etwas errichten.“

      „Aus dem verbeulten Zeug? Die verrosteten Moniergitter könnte man vielleicht benutzen, aber die Autobleche, Träger und Türrahmen? Nein, lieber Tern, das Ganze ergibt in etwa so viel Sinn, wie wenn ein Riese zu reiten versuchte. Und wie ich den Rengat kenne, brauchen wir ihn gar nicht erst danach zu fragen.“

      „Und im Lekurenkreis ansprechen?“

      Fonn zeigte seinem Mitreiter einen Specht. „Bruder, bei uns gab es seit vielen Zyklen keine Degradierungen. Willst du es jetzt darauf anlegen? Wenn der Älteste überhaupt mal dort erscheint, dann lässt er dich aus dem Raum entfernen, sobald du auch nur angefangen hast, davon zu sprechen! Und hinterher darfst du dich dann bei den Rötlurmreitern als Ragnor bewerben – wenn er gute Laune gehabt hat!“

      Tern nickte mit verkniffenem Mund. Ja, damit hatte Fonn recht. Irgendwie hatte er sich vor vier Zyklen etwas anderes vorgestellt, als er nach Medriana gezogen und in die Hauptloge eingetreten war. Auch später noch, als ihn nach dem Tag des Riesenangriffs der damalige Erste zum Lekur ernannt hatte, da hatte er genau gewusst, weshalb er gern ein Lindenreiter geworden war. Nun jedoch hatten sich die Zeiten geändert. Vorbei waren die Tage, an denen man fröhlich miteinander lachte und am Ende eines festlichen Ritttages gemeinsam in die Altstadt Medrianas ging, um den Tag zünftig ausklingen zu lassen. „Freude fußt auf Ehre, Ehre fußt auf Freude“, das war dermaleinst der Wahlspruch der Lindenreiter zu Medriana gewesen. Doch zurzeit schien Freude nichts mehr zu zählen, Ehre schien auf Gehorsam zu fußen und Gehorsam auf … Weiter kam der Lekur jedoch mit seinen Überlegungen nicht, denn plötzlich öffnete sich quietschend die Tür im mittleren Metalltor des Lagerhauses und herein trat der Dritte Rengat der Hauptloge. Er kam ohne Umschweife auf den Punkt:

      „Fonn, Tern, euer Dienst hier ist beendet. Ich danke euch im Namen des Klans für eure Einsatzbereitschaft an diesem Ort. Eure Loyalität wird im Klan nicht vergessen werden. Bitte verschließt das Lager und verlasst eure Hotelzimmer innerhalb der nächsten zwei Langzeiten. Die nächsten zwei Tage habt ihr dann zu eurer freien Verfügung.“

      Das klang ja fast so, als wäre jemand endlich vernünftig geworden! Fonn verneigte sich lächelnd vor dem Rengat und bedankte sich. Tern tat es ihm zwar nach, aber konnte sich eine Frage dennoch nicht verkneifen: „Rengat, sollen wir wirklich einfach so gehen und die ganzen Dinge hier so ungeordnet ihrem Schicksal überlassen? Ich meine, was immer hier nun folgen wird, dieses Lager erscheint mir nicht gerade als unserem Klan angemessen sortiert und gepflegt.“

      Der Rengat verzog keine Miene. „Bereits in Kürze werden sich andere Kräfte, die dem Klan dienen, darum kümmern, hier Ordnung zu schaffen. Das soll dich aber nicht kümmern, Lekur. Geht nun eurer Wege.“

      Dieses Mal folgte auch Tern unverzüglich der Aufforderung seines Rengats. Dessen letzte Worte bedeuteten in der üblich höflichen Weise verbrämt nämlich nichts anderes als „verschwindet jetzt“. Die beiden Lekure traten durch die Tür ins Freie und ergriffen ihre Blätter, die sie am Morgen neben dem Lager an einem schattigen Platz abgelegt hatten. Kurze Zeit später ritten sie in Richtung ihres Hotels davon.

      Der Rengat sah ihnen nach, bis sie am Horizont verschwunden waren. Danach öffnete er mit einem Schlüssel das kleine Büro des Lagerhauses und schaltete den dortigen Teleskriptor ein, um anschließend eine einzige Zeile auf der Tastatur einzugeben: „Der Rost ist frei zum Befeuern.“ Diese Nachricht schickte er anschließend an eine Nummer, die er sich, wie jeder Rengat der Hauptloge, sehr gut hatte merken müssen und nirgendwo aufschreiben durfte. Daraufhin schaltete er den Teleskriptor wieder aus, verschloss das Büro von neuem und begann, langsam vor dem großen Gebäude auf und ab zu schlendern, während er an seiner mitgebrachten Krautpfeife zog.

      Als er gerade das vierte Mal seinen Weg beginnen wollte, näherte sich auf der Zufahrtsstraße ein unscheinbarer beigefarbener Wagen, der vor dem Gebäude bremste. Rasch öffnete der Rengat das große Mitteltor in Gänze, so dass der Wagen hineinfahren konnte. Anschließend schloss er es wieder von innen. Aus dem Wagen stieg ein Chauffeur des Klans, der zur Beifahrertür eilte und diese öffnete. Heraus stieg niemand Geringeres als der Älteste persönlich. Der Rengat lächelte. Damit hatte er gerechnet. Er verneigte sich tief und lange vor ihm.

      „Erhebe dich, Raul“, ertönte die Stimme seines Ersten. „Und sieh, wen ich uns mitgebracht habe.“ Er winkte dem Chauffeur, der daraufhin auch die beiden hinteren Türen des Wagens öffnete. Zwei Männer traten heraus, die der Rengat noch niemals gesehen hatte. Sie trugen einfache Arbeiterkleidung und sahen sich verwundert um. „Raul, du wirst dich jetzt vor dem Größeren der beiden Herren verneigen“, fuhr der Älteste fort. Ein nur für geübte Augen wahrnehmbarer Zug der Missbilligung umspielte seine Lippen. „Auch wenn er dir nicht so erscheinen mag, er ist der Erste seines Klans. Erweise ihm deinen Respekt!“

      Überrascht nahm der Rengat mechanisch seine Hand vor die Brust und verneigte sich tief vor dem Genannten. Dieser beantwortete die Ehrerbietung mit einem leichten Nicken, bevor der Älteste erneut zu sprechen anhob: „Diese beiden werden uns helfen, unser kleines Problem im Westen rasch und effizient in den Griff zu bekommen. Du wirst gleich Zeuge ihres Könnens werden, wenn wir die ersten Probedurchgänge vornehmen.“

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      „Ältester“, erwiderte der Rengat, „diese beiden Herren sind augenscheinlich keine Reiter und scheinen auch sonst keinem der mir bekannten Klans anzugehören, geschweige denn einen von ihnen zu leiten. Ohne respektlos sein zu wollen: Mit wem haben wir es denn hier zu tun?“

      „Dies“, begann der Erste theatralisch, „sind die ersten beiden Vertreter des fortan wichtigsten mit uns verbündeten Klans. Zur Rechten siehst du Zeg Ranolok, den Ersten des Klans der Brenner, und zu seiner Linken steht Lorn Gerland, der ebenfalls diese Gabe besitzt.“

      Raul fiel die Kinnlade herunter, sein Blick wanderte rastlos von einem Mann zum anderen. „Brenner?“, brachte er schließlich unter höchstem Erstaunen hervor. „Ältester, Sie haben es tatsächlich geschafft, Mitglieder dieses längst erloschenen Klans ausfindig zu machen?“

      „Er ist nun nicht mehr erloschen“, sagte der Erste langsam. „Im Gegenteil. Und wir haben vor einigen Tagen ein Bündnis geschmiedet, welches uns dazu befähigen wird, jedwede Bedrohung unseres Klanwesens nicht nur unschädlich zu machen, sondern weitere potenzielle Seilschaften von Aufrührern in einer bisher undenkbaren Weise zu demoralisieren. Niemand mehr wird es dann wagen, den Frieden im Lande zu bedrohen, den wir gewährleisten.“ Damit wandte er sich den beiden Brennern zu. „Wie unhöflich von mir, verzeihen Sie bitte. Dies ist Raul Mernek, Dritter Rengat meiner Hauptloge und einer meiner engsten Vertrauten.