Geschichten aus Nian. Paul M. Belt

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Название Geschichten aus Nian
Автор произведения Paul M. Belt
Жанр Языкознание
Серия Nian Zyklus
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947086641



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mit Donnern und Blitzen die Schönheit aller Flecken und Hügel, und das Beben der Mauern vergehet nicht an jenem Tage. Wer weise ist, der schließe seine Augen und laufe gen Süden zu den Bergen, denn brennen wird das Land. Alsdann erhebet sich Rauch, eine gewaltige Säule wie die eines großen Wirbels, und tränket den Boden mit seiner Finsternis. Und aus der Tiefe des Strudels erhebet sich etwas wie ein Skorpion, ein Wesen mit acht Scherklappern und Tentakeln so schwarz wie das Fell eines Nachtjägers und drei hässlichen Schwänzen, stark wie die Masten eines Handelsschiffes, und er trägt ein goldenes Zepter mit den Farben seiner Herkunft. Alle Söhne Kers, jaulet und heulet ob des Skorpions, denn sein ist die Stärke und die Schärfe des Schwerts und das Donnern großer Posaunen mit mächtigem Widerhall! Und er entsendet die Seinen in alle vier Winde, zu versammeln das Geschlecht und zu ziehen in den Krieg gen Westen, denn der Donner wird nicht verhallen, bevor sein Sieg gewiss ist. Achtet aber auf seinen Stachel, denn klein und unscheinbar mag er erscheinen, aber gewaltig und voll Giftes ist sein Inneres, und er wird herniederfahren auf den einen Stein, den Felsen, ihn zu zermalmen und das Land mit der Pestilenz seines Giftes zu vernichten. Hier jedoch, Söhne Kers und Töchter Baras, seid gestärkt und unverzagt, denn euer ist das Licht, und keine Finsternis vermag es zu verschlingen noch euch verzagt zu machen! Fahren wird er in die Höhe und Tiefe seiner Herkunft, und das Feuer des Landes wird gelöschet durch eure Tränen, so dass der Felsen und das Land leuchten werden wie die Sonne eures Herzens.“

      (aus dem Buch der Weissagung: Die Prophezeiung des Kol Noramak)

      Hort des Lebens

      Ama klappte das abgegriffene Buch vorsichtig zu und legte es beim Schein des großen Feuers bedächtig zur Seite. Sie blickte den Zuhörern aus der großen Runde in ihre Gesichter, in welchen sich das Flackern der Flammen und ihr Widerschein vom Baumwaldrand fingen. Achtunddreißig Frauen, Männer und auch Kinder hatten sich mittlerweile hier oben im Norden des Mittellandes im „Hort des Lebens“ eingefunden, wie dieser bewaldete Hügel schon bei ihrer Ankunft vor zwei Zyklen von seinen Bewohnern genannt worden war. Manche sahen still auf den Boden, andere starrten mit offenem Mund oder auch nur mit großen Augen nach vorn. Die alten Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.

      Naria näherte sich Amas Stuhl von der Seite her. „Verehrte Schwester und Erste, habe Dank dafür, dass du mich und meine Sippe auf diese Weise ehrest, dass du bereits am ersten Abend unserer Ankunft aus diesem von uns bewahrten Werk in der Versammlung vorzutragen gedachtest!“

      Ama lächelte sanft, wenn auch etwas müde. „Andersherum ist es, verehrte Schwester. Es ist mehr als eine Ehre, dass nach all der Zeit Menschen zu uns gefunden haben, die nicht nur wie auch wir der alten Geheimnisse der Kräuter kundig sind, sondern die auch noch eines der wichtigsten Werke aus der Zeit nach dem Ende der Alten Sprache mit in die heutige Zeit hinübergetragen haben. Euer Erscheinen ist wie das Aufgehen eines Sternes am Ende einer dunklen Nacht. Die Prophezeiung des Kol Noramak war zu lange verschollen, als dass dies ein Zufall sein könnte. Im Gegenteil, ich halte es für ein Zeichen. Noch heute Nacht werde ich mit Kela darüber meditieren. – Ich danke allen für die Teilnahme an unserer Versammlung!“

      Naria nahm das Buch an sich, verneigte sich vor Ama und wandte sich zum Gehen, als deren leise Stimme sie noch einmal zurückrief. „Liebe Naria, du bist eine Bruka wie ich. Es ist wahrlich respektvoll, dass du dich vor deiner Ersten verneigen möchtest. Bitte lasse mich dir dennoch mitteilen, dass wir in dieser Gemeinschaft nicht auf diese Weise verfahren. Wir ehren uns durch den Austausch des Lichtes in uns und durch sein äußeres Anzeichen, das Lächeln, nicht jedoch durch Verbeugungen. – Könntest du dies auch bitte zu denjenigen tragen, welche mit dir hier heute eingetroffen sind?“

      „Selbstverständlich und gern!“ Überrascht und mit einem Strahlen im Gesicht begab sich die junge Frau zu der frisch errichteten Holzhütte am Rand des großen zentralen Platzes, welche ihr neues Zuhause war. Schmunzelnd sah Ama ihr nach, bevor eine tiefe Männerstimme ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

      „Sag, Ama, du hast uns nun ein wahrhaft schrecklich gezeichnetes Bild aus dem alten Buch vorgelesen“, sagte Finn zu ihr. „Weißt du denn auch Näheres zur Bedeutung dieser Zeilen? Ist das Beschriebene bereits geschehen oder steht es uns noch bevor?“

      „Sowohl das eine als auch das andere ist der Fall“, sagte Ama langsam und betont, während sie dem hünenhaften Mann in die Augen sah. Er war einer der ursprünglichen Bewohner des Hügels und Begründer der hiesigen Gemeinschaft des Wiegeler Waldes. Sie lächelte in sich hinein, als sie sich daran erinnerte, wie misstrauisch er Sus, Gita und sie nach ihrer Reise durch das Küstenland begrüßt hatte. Kräuterväter und -mütter hatten derzeit wirklich keinen einfachen Stand.

      „Du meinst, es ist wie schon so oft und die Geschichte wiederholt sich?“, fragte Finn. „Soweit ich weiß, wurden diese Zeilen vor vielen Dekazyklen geschrieben, als Schrecken im ganzen Land die Menschen ängstigte und die Soldaten des Herrschers alle verfolgten, die ihm nicht genehm waren, insbesondere Menschen mit unserer Begabung.“

      „Ob sie sich wiederholt oder reimt, das wird sich zeigen“, sinnierte Ama halblaut und schaute in die prasselnden Flammen. „Ich spüre seit einiger Zeit, dass sich Unruhe im Lande ausbreitet, und je mehr von uns sich hier versammeln, desto deutlicher ist mein Eindruck geworden. Heute Nacht werde ich darüber mit Kela auf dem Plateau an der Quelle eine Lichtmeditation durchführen.“

      „Ich werde ebenfalls zu euch stoßen“, verkündete die Stimme einer Frau mittleren Alters von der Seite her, die sich den beiden genähert hatte.

      „Gern nehmen wir dich mit dazu, Lera“, erwiderte Ama lächelnd. „Zu dritt war der Fluss des Lichtes immer besonders intensiv.“

      Finn nickte. Zwar war auch er ein Bruk, aber wenn die Erste, ihre Vertreterin und die Geistkundlerin beschlossen hatten, zu dritt zu meditieren, dann war es für ihn in Ordnung. Er war praktischer veranlagt. Gerade wollte er Feuerholz nachlegen, als er bemerkte, wie sich eine kleine Gruppe mit Fackeln vom verborgenen Haupteingang des Geländes her dem Lager näherte. „Ron, Mark?“, rief er, um dann mit den Angesprochenen auf die Ankömmlinge zuzugehen. Es waren aber nur Han, Jule und Gita, die von ihrem spätabendlichen Besuch beim nahe dem Baumwald gelegenen Bauerngehöft mit neuem Käse zurückkehrten. Allerdings hatten sie einen seltsam erregten Gesichtsausdruck.

      „Was gibt es?“, fragte Finn sofort.

      „Etwas Merkwürdiges. Wir brauchen umgehend etwas Redezeit, um allen eine Nachricht zu überbringen“, verkündete Han.

      „Dann geh und sprich Ama an, bevor sie mit Kela und Lera auf das Plateau geht. Es sind praktisch noch alle da. Sie hat gerade die Prophezeiung verlesen.“

      „Na, das trifft sich ja prächtig“, knurrte Han, der die alten Worte aus dem Buch bereits am frühen Abend vernommen hatte. „Ungefähr um etwas Derartiges dürfte es sich handeln.“

      Während die kleine Gruppe zum Lager zurückkehrte, war Ama bereits dabei, sich mit ihren beiden Begleiterinnen auf den Weg zum Quellplateau zu machen. Sie wurde jedoch am Rande des Lagers von Sus aufgehalten. „Verehrte Schwester“, sagte diese, während sie ihre Freundin mit ihrem nachdenklichen Blick aus dunklen Augen ansah. „Etwas geschieht gerade. Ich spürte ein Beben des Lichtes wie das Flackern des Mondes, wenn eine Wolke vorbeizieht.“

      Ama umarmte Sus. Sie kannte sie lange genug, um das innere Schaudern ihrer engsten Vertrauten auch ohne äußere Anzeichen wahrzunehmen. „Ich habe es auch gespürt“, wisperte sie ihr ins Ohr. „Deshalb gehen wir drei ja gerade, um nach Klärung zu suchen.“

      „Die Klärung kommt dieses Mal von dort“, sagte Sus in geheimnisvollem Ton und zeigte auf die Gruppe mit den Fackeln, die soeben beim Feuer eingetroffen war und sich nun suchend umschaute.

      Sofort kehrte Ama zum Lager zurück. Kaum wurde sie von Han erspäht, unterbrach dieser die Stille der Nacht mit seiner halblauten Stimme: „Erste, wir bringen Kunde, die unser Leben und das vieler Menschen in Nian nachhaltig verändern könnte. Ich erbitte daher die Möglichkeit, unmittelbar zur gesamten Gemeinschaft zu sprechen.“

      Ama spürte ein Prickeln ihre Wirbelsäule emporklettern. Nicht