Die Kunst ist das Einzige, was bleibt. Sinda Dimroth

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Название Die Kunst ist das Einzige, was bleibt
Автор произведения Sinda Dimroth
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783957801944



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unverschlossen und Selma wandte sich an Ilse: »Warum verschließt ihr die Haustüre nicht, wenn ihr so wertvolle Bilder an den Wänden habt?«

      Ilse meinte: »Wenn die Einbrecher freien Eintritt haben, dann erwarten sie nicht, dass es etwas zu stehlen gibt.« Nachts schlich sich das Kind hinunter ins Parterre und drehte den Schlüssel um, weil es sonst nicht einschlafen konnte.

      Am nächsten Tag war Sonntag, der Tag, an dem Bode stets nach dem Frühstück aus seinen Werken vorlas und alle Familienangehörigen zu erscheinen hatten. Zu diesem Anlass kamen auch Erkengard und ihre Kinder Frowis, Eckbert und Luitgard ins Haupthaus herüber. Sie waren ordentlich gekleidet wie zu einem Kirchgang und begrüßten alle Anwesenden. Durch das Schlafzimmer des Patriarchen, in dem die Grundverhexte Landschaft und der Hundsteufel von Klee hingen, ging man in Bodes Arbeitszimmer. Der schwarze Schreibtisch stand schräg im Raum, dahinter waren großformatige Bildbände aufgereiht, das ein oder andere Kunstbuch war an repräsentativer Stelle aufgeschlagen. Eine moderne Aluminiumbüste vereinte die Portraits des gefallenen Sohnes Sindbert mit dem des Vaters, daneben stand eine zarte Silberstiftzeichnung mit dem Profil von Kurt. Die toten Söhne waren sehr präsent. An der Wand hing eine abstrakte Variation von Jawlenski neben dem Bild Tropenvögel von Nolde. Der ganze Raum, mit seinen Fenstern nach zwei Seiten, zeigte die typischen Einflüsse des Bauhauses und des Architekten Gropius, mit dem Bode in Briefkontakt stand. Zur Lesung erschien der Hausherr im silbergrauen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Die Entschuldigung von Lydia übersah er geflissentlich und nahm auf dem schwarzen Ledersessel Platz, um aus seinem »Buch der Weisheit« zu rezitieren.

      Während Bode las, sahen alle Zuhörer aus dem Fenster auf den See. Die Weite des grauen Wasserspiegels, der mit dem Himmel zu verschmelzen schien, zog förmlich die Gedanken ins Leere. Zur Linken stand eine große Birke, deren grazile Äste im Wind hin- und her schwankten und Landeplatz für Meisen waren. Auf dem Wasser bewegten sich weiße Dreiecksegel, die wie in den Bildern von Lyonel Feiniger geometrische Akzente vor den farblosen Hintergrund setzten.

       Vom DienenAls die selbstbewusste Kraftden Grundantrieb der Menschheit formte,war Dienen, das bescheidene Sich-fügen,die Unterwerfung unter den Befehl des Stärkeren.Als Selbsterniedrigung als Liebe galt,da wurde Dienen, das umhegende Betreuen,die herzenswarme, königliche Tugendund Gestalt der Welt.Der Verbundenheit, die uns erfüllt,ist Dienen das lebendige Empfangen,das sich im Stoff verwandelt und erlöst.

      Dieser Vers war als Seitenhieb an Lydia gedacht, verfehlte aber sein Ziel, weil diese den Vortragenden unterbrach, in dem sie laut klatschte und »Bravo« rief, was die sakrale Atmosphäre der sonntäglichen Lesung störte. Ilse, die aus ihrem Mann den Halbgott gemacht hatte, wollte seine Autorität nicht beeinträchtigt sehen und bat um Ruhe. Die Gesellschaft wurde gebeten, sich eine Etage tiefer im Musikzimmer einzufinden, um einem kleinen Konzert beizuwohnen. Am Flügel saß bereits die Sopranistin Roswitha Prangel in Erwartung ihres Auftritts. Sie begrüßte Bode mit zärtlichen Küssen und einem waidwunden Augenaufschlag, der ihn sichtlich in bessere Stimmung versetzte. Roswitha erhielt regelmäßige Geldzuwendungen und war immer bereit, ihre geschulte Stimme zum Einsatz zu bringen. Ilse sollte die Sängerin am Flügel begleiten und der Großvater spielte dazu auf der Querflöte. Vor ihrem Bauch drehte Roswitha mit beiden Händen ein weißes Taschentuch, während sie zur Lockerung der Stimmbänder einige Tonleitern hören ließ. Bode hatte hinreißende Kinderlieder komponiert, die nicht auf dem Programm standen, vielmehr hatte er drei Stücke für Flöte und Klavier ausgewählt: »Der urewige Geist« (getragen mit andachtsvollem Ausdruck), »Die Lust« (mit Emphase), und zuletzt sollte »Die Weltanschauung« (mit Hingabe) zu hören sein. In der Notensammlung Gesänge hatte Bode seine eigenen Texte vertont. Die Musik erinnerte an Lieder von Schubert und war eine echte Herausforderung für die Geduld der Enkelkinder, die hofften, dass die Veranstaltung bald zu Ende wäre. Es gab keine Möglichkeit, zu entkommen, und Selma bedauerte die Kinder der Tante, die nahezu jedes Wochenende dieser Tortur ausgesetzt waren. Roswitha blähte den Busen und ließ die Stimmbänder vibrieren, während Ilse sie, in die Noten vertieft, auf dem Flügel begleitete. Bode wiegte sich mit der Querflöte hin und her und spuckte mit spitzen Lippen in das Mundstück. Alle sahen todernst aus, während der Text um die Allheit und die allumfassende Sinnkraft kreiste. Bei dem Wort »Lust« sprühte ein feiner Nebel aus dem Mund der Sängerin und Selma konnte nicht länger an sich halten. Sie prustete los und rannte in die Küche, wo sie von Lina aufgefangen wurde.

      Nach dem Essen gingen alle ins Freie, wo die Haushälterin eine Kaffeetafel gedeckt hatte. Selma stand auf dem Steg und wollte gerade das Segelboot zu sich herziehen, als die Sängerin sie von hinten umfing und an sich drückte. Das Kind erschrak und schubste Frau Prangel ins moderige Wasser. Ihr Sommerkleid blähte sich auf, während man den Körper in der braunen Unergründlichkeit versinken sah. Erschrocken sah die Neunjährige, was sie angerichtet hatte. Ilse holte eine Badeleiter und half der auftauchenden Musikerin zurück auf den Steg. Die Haare und das dünne Sommerkleid klebten an der rundlichen Frau und der Großvater verlangte, dass Selma sich entschuldigen sollte, was sie tief beschämt auch tat. Lydia ergriff Selmas Partei und meinte: »Nun lasst schon das Kind in Ruhe, es ist erschrocken und Frau Prangel ist ja noch am Leben.«

      Lydia blieb drei Tage im Haus und provozierte Bode. Wenn alle hinter den Stühlen standen und auf das Erscheinen des Hausherren warteten, vertauschte Lydia den Serviettenring und die Gabel des Großvaters und zwinkerte den Kindern konspirativ zu. Wenn ihm der Camembert zu hart war, stellte Lydia ihn in den Ofen und servierte den Käse breitgeflossen. Wenn Ilse geschickt wurde, etwas zu holen, stieß Dorners Frau lautstark den Stuhl zurück, sprang auf und holte es an ihrer Stelle. Dann kniete sie vor Bode nieder und reichte ihm das Gewünschte in demütiger Pose. Wirklich glücklich war Ilse nicht über die Interventionen der Freundin, sie verstimmten ihren Mann und letztlich musste sie es ausbaden, wenn er misslaunig war. Es war nicht klar, ob Ilse sein Gehabe ernst nahm oder dazu erzogen wurde, sich unterzuordnen. Nachdem Lydia abgereist war, kehrte Ruhe ein und die Hierarchie war wiederhergestellt.

      Die finanzielle Situation der Familie war äußerst komfortabel. Ilse hatte mehrere Millionen geerbt, sodass ihr Mann den Zahnarztberuf aufgeben und vom Geld seiner Frau leben konnte. Seine Bildersammlung moderner Kunst hatte Bode größtenteils mit in die Ehe gebracht, ab und zu kam eine Neuerwerbung hinzu. Von jedem Enkelkind hatte der Astrologe ein Horoskop angefertigt. Dieses holte er gerne hervor, um dem jeweiligen Kind zu zeigen, wie erstaunlich sich seine Prophezeiungen erfüllt hatten. Für Selma hatte er eine starke Kraft zur Überwindung von Widerständen und künstlerischen Einfallsreichtum vorhergesagt, nun sah er sich in seiner Prognose bestätigt und überreichte dem Mädchen eine Kopie mit den Worten: »Vielleicht hilft es dir, deinen Platz im Weltengeschehen zu erkennen und die Probleme, die auf dich zukommen, besser zu meistern. Jeder Mensch hat es in der Hand, seine Eigenschaften zum Positiven oder zum Negativen hin zu entwickeln, versuche stets, das Beste aus deinen Anlagen zu machen.« Selma fühlte sich seltsam eingeschüchtert durch die Vorstellung, dass das All so viel Einfluss auf ihr Leben haben sollte und alles irgendwie vorherbestimmt war, doch die Autorität des Großvaters war derart einschüchternd, dass sie ihm unbedingten Glauben schenkte.

      Am 21. August hatte Hermann Bode Geburtstag. Er feierte nicht wie die meisten Deutschen am Tag der Geburt, sondern am Abend zuvor, den er »Heilig Abend« nannte. Jedes Mitglied der Familie war aufgefordert, schon Tage zuvor ein Gedicht oder ein Lied einzuüben, um es bei der Feier vorzutragen. Die musikalischen Beiträge sollten abgestimmt werden, sodass ein kleines Konzert zustande kam. Selma wollte kein Gedicht aufsagen und meinte zu Ruthi: »›Du armes Schwein, du tust mir leid, du lebst nun nicht mehr lange Zeit‹. Soll ich sowas aufsagen?« Ilse beendete die Verweigerungshaltung der Jüngsten, indem sie ein besonders kurzes Gedicht ihres Mannes hervorholte, welches die »Lütte« einüben sollte.

       Was du denkst soll schwingen,Was du sprichst soll klingen,deine Tat sei ernster Wille,deine Ruhe tiefe Stille.

      Am Abend kam Erkengard mit ihren Kindern ins Glashaus. Alle hatten ihre beste Kleidung angelegt und hielten ein Geschenk in Händen. Auf dem Flügel waren zahlreiche Päckchen aufgebaut, daneben standen silberne Leuchter, in denen Bienenwachskerzen einen zarten Honigduft verströmten. Lina hatte einen Gugelhupf gebacken, auf dem mit weißem Zuckerguss die Zahl 74 zu lesen war. Ilse griff in die Tasten und alle sangen: »Viel Glück