Die Kunst ist das Einzige, was bleibt. Sinda Dimroth

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Название Die Kunst ist das Einzige, was bleibt
Автор произведения Sinda Dimroth
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783957801944



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»Ihr seid nur Brücken: mögen Höhere auf euch hinüber schreiten!« Wilhelm wandte sich um und zeigte auf ein Mädchenbild: »Ich frage mich, was so ein Jungfräulein empfindet, wenn es sich völlig entkleidet den Blicken erwachsener Männer darbietet?«

      Hugo mischte sich ein: »Das sind erotische Brücken, die der Fantasie und dieser Art von Kunst die Aufmerksamkeit garantieren.«

      Kirchner erwiderte ungerührt: »Das haben Sie richtig erkannt, wir befassen uns bewusst mit Tabus, um die Menschen zu beunruhigen.« Vor dem Laden platschte ein unerwarteter Regenschauer hernieder, deshalb drängte Karl zum Aufbruch. Hermann wollte eines der Aktbilder von Otto Mueller kaufen und erkundigte sich nach dem Preis, der nicht hoch war. Nachdem er selbst nicht genügend Geld dabei hatte, halfen ihm seine Brüder aus und Kirchner rollte die 65 cm hohe Kreidezeichnung in eine Papprolle. Zum Abschied hinterließ Bode seine Adresse und bat darum, bei einer Brücke-Ausstellung eingeladen zu werden. Alle vier winkten zum Abschied und Karl sagte zu Mary: »Das war eine Entdeckung, ich habe jetzt keine Lust mehr auf die Porzellansammlung von August dem Starken.«

      Im April 1905 wurde Hermann zurück ins elterliche Haus befohlen, um in die Praxis des Vaters einzutreten, die er später einmal übernehmen sollte. In Hannover traf er sich mit Peter Bade, den er während des Studiums in München kennengelernt hatte. Der Freund wollte Facharzt für Orthopädie werden und hatte eine Stelle im Annaspital Hannover angetreten. Er war mit Constanze Peipers verheiratet und stellte Hermann bei einer Abendeinladung deren jüngere Schwester Julia vor. Der angehende Zahnarzt verliebte sich in die sanftmütige junge Frau aus gutem Hause. Am 29. Juni 1906 fand die kirchliche Trauung von Julia Peipers und Hermann Bode in Remscheid statt. Auf dem offiziellen Hochzeitsfoto steht der 24-jährige Ehemann hinter seiner Frau, gekleidet in einem Frack mit hohem weißen Stehkragen und einer grauen Weste. Seine blauen Augen wirken ernst und über dem schmalen Mund trägt er einen kurz geschnittenen Schnurrbart. Wohl aus Verlegenheit steckt seine Hand in der Hosentasche, während sich seine jungfräuliche Frau mit entblößten Schultern an ihn lehnt. Die 20-jährige Braut trägt ein weißes Spitzenkleid, das in Volants von der nackten Schulterpartie bis zum Gürtel fällt. Von dort bis zum Boden ist der durchsichtige Rock mit zarten weißen Blumen bestickt. Das lange schwarze Haar trägt Julia zum Knoten gebunden, ihre großen braunen Augen sind ungeschminkt, ihr Mund halb geöffnet, während sie ihren Kopf dem Geliebten zu wendet.

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      So wurden die beiden unerfahrenen Menschen mit den Segenswünschen der Eltern in ein gemeinsames Leben entlassen. Auf einer blumenumkränzten Glückwunschkarte fand sich der Spruch: »Lasst nie die Sonne über eurem Ärger untergehen.« Nach der Hochzeit zog das Paar in eine großzügige Parterrewohnung mit Garten an der Landwehrstraße. Die Eltern schenkten ihnen geschnitzte Eichenmöbel, Erbstücke, mit denen sie sich einrichten konnten. Vater Bode trennte sich von seiner geliebten Geige und Vater Peipers gab das Geld für einen Konzertflügel, damit seine Tochter täglich üben konnte.

      Als Julia elf Jahre alt war, starb ihre Mutter, deshalb wurde sie nach Vevey am Genfer See auf ein Schweizer Mädchenpensionat geschickt, um eine standesgemäße Erziehung zu bekommen. Neben dem Französisch Unterricht, erhielten die Mädchen Klavierstunden und lernten Kochen, man brachte ihnen bei, dass die maskuline Intelligenz der femininen überlegen sei. Wieder zu Hause in Remscheid, bat die 17-Jährige den Vater, sie in Frankreich studieren zu lassen. Bei der Familie Arnaud lernte sie die Freiheits- und Gleichheitsgedanken der Revolution kennen und befasste sich mit französischer Literatur. Ihr Lieblingsschriftsteller war Romain Rolland, von dem sie sämtliche Bücher im Original las. Für Julia waren Goethes Wahlverwandtschaften und die deutsche Prüderie der Maßstab für Erotik. Die unbekümmerte Beschreibung sexueller Handlungen, die ihr in der französischen Literatur begegnete, trieb dem jungen Mädchen die Schamesröte ins Gesicht. Um die englische Sprache zu erlernen, kam die Studentin mit 19 Jahren für ein Semester nach England. Sie war eine anmutige, auf ansprechende Weise bescheidene Erscheinung mit langen schwarzen Haaren und tiefgründigen Augen. Zahlreiche Liebesbriefe und Fotos von Philip Routledge lassen darauf schließen, dass er ein Verehrer war, den sie nicht erhörte. Julia verliebte sich in Hermann Bode und wurde in ihrem 20. Lebensjahr seine Ehefrau.

      Mit dem Hochzeitstag erwarb die Rheinländerin die Staatsbürgerschaft Preußens. Kaiser Wilhelm II. aus dem Hause Hohenzollern war der oberste Landesherr und regierte das Deutsche Reich. Eine Gleichberechtigung von Mann und Frau gab es in Deutschland nicht. Die Frauen konnten ohne Zustimmung des Mannes nicht arbeiten, ihren Aufenthalt frei bestimmen, oder ein eigenes Bankkonto besitzen. Dem Mann stand das sogenannte Letztentscheidungsrecht zu. Die Mitgift, die die Frau von den Eltern zur Hochzeit bekam, ging in das Verfügungsrecht des Gatten über, sie konnte über ihr eingebrachtes Gut nur mit Einwilligung des Ehemannes verfügen.

      Julia begegnete ihren Schwiegereltern mit großer Ehrerbietung und war ein gern gesehener Gast bei Auguste. Hermann eröffnete seine eigene Zahnarztpraxis in der Georgstraße, weil er die Praxis des Vaters mit ihrer veralteten Technik nicht übernehmen wollte. Peter Bade wurde Chef der chirurgisch-orthopädischen Abteilung des Annastiftes und wohnte mit Stanzi nicht weit entfernt, sodass sich die Schwestern mehrmals die Woche sehen konnten. Auch Mary kam regelmäßig zu Besuch. Sie und Julia sahen sich zum Verwechseln ähnlich, waren aber vom Gemüt her sehr verschieden. Die Jugendfreundin wirkte selbstbewusst und temperamentvoll, während Julia schüchtern und in sich gekehrt war. Wenn Mary mit Hermann über die Wissenschaft der kosmischen Gesetze sprach, die mit ihrer Energie Einfluss auf das irdische Leben ausüben, hörte Julia schweigend zu. Um dem Mysterium des Weltraums näherzukommen, erwarb Bode die mathematischen und astronomischen Grundkenntnisse, die man benötigt, um die Umlaufbahn der Planeten zu bestimmen. Dieses Studium führte ihn von der Astronomie zur Astrologie und der Berechnung eines Horoskops. Im Weltbild von Hermann und Mary hatte jeder Mensch seinen Platz in der Ordnung des Alls einzunehmen, um voll Dankbarkeit die Wunder der Schöpfung und des Lebens zu erfahren.

      Neun Monate nach der Hochzeit von Julia und Hermann wurde im März 1907 ein Mädchen geboren. Es war eine Hausgeburt, deshalb hatte der werdende Vater eine Hebamme, eine Säuglingsschwester und ein Dienstmädchen namens Pauli eingestellt. Die Säuglingsschwester verließ die Familie nach drei Monaten, während Pauli schon bald zur Familie gehörte. Der Vater überwachte penibel die Hygienemaßnahmen, weil er im Studium gelernt hatte, was Bakterien bei einer Wöchnerin anrichten können. Als Hermann sein erstes Kind in den Armen hielt, war er glücklich und dankbar über dieses kleine Lebewesen, das Julia ihm unter Qualen geschenkt hatte. Nach der Mutter Jesu, dem Ideal der Mutter Gottes, nannte er das Mädchen Maria. Zur Geburt überreichte Hermann seiner Frau einen wertvollen Schmuckkasten, in dessen Deckel eine drehbare Bronzeplatte mit Lebensbaum eingelas-

      sen war. Rechts und links vom Stamm waren ihre Namen eingraviert, darunter stand: »In Liebe und Treue«.

      Hermann wollte sein Kind nicht taufen lassen und erklärte dies seinem Bruder Karl, der Pastor war:

       Mein lieber Bruder, Ich bin über Nietzsche und Haeckel hinausgegangen, weil sie mir beide den Weg ins Positive, nach dem ich schrie, nicht zeigen konnten. Das Leben ist das Maß aller Dinge. Nach ihm erkenne ich Gut und Böse, in dem, was für mich lebensfördernd oder lebenshemmend ist. Ich fühle mich so als Individualität im Glauben an das Leben. Ich will mit voller Kraft für die freie Entwicklung des Einzelwesens eintreten, soweit diese Entwicklung nicht das Leben Vieler hemmt. Ich will mit weitem Blick und Herzen den Glauben Vieler gelten lassen, solange er nicht wertvolleres mit seinen Dogmen zerstört. Ich will eine Weiterentwicklung der Menschheit, aber kein Endziel, das nur zu fern liegt, als dass wir uns den Kopf darüber zerbrechen könnten. Aber das ist mir doch zur festen Überzeugung geworden, dass unsere Entwicklung nicht über die Erde hinausgeht. Über die Punkte, die ich gegen das Christentum habe müssen wir ein andermal uns mündlich aussprechen. Herzlichst dein Bruder Hermann

       Hannover den 22. Mai 1907 bei der Schlosswache

      Ernst Haeckel (1834–1919) war ein deutscher Mediziner, Philosoph und Freidenker, der die Ideen von Charles Darwin ausbaute. Er war ein strenger Atheist und lehnte jeden Schöpfungsakt ab, sein Monismus war der einer durchgeistigten Materie; er sah Gott als identisch mit