Die Kunst ist das Einzige, was bleibt. Sinda Dimroth

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Название Die Kunst ist das Einzige, was bleibt
Автор произведения Sinda Dimroth
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783957801944



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bei den Elefanten, die vergleichsweise ruhig am Graben standen und mit ihren Rüsseln schlenkerten. Die Blöcke waren bald angefüllt mit Tierstudien und der Großvater war voll des Lobes über die originellen Kinderzeichnungen.

      Als Nächstes war ein Besuch im Landesmuseum geplant, um dem Nachwuchs die moderne Kunst nahezubringen. Vor August Mackes Bild eines blonden Mädchens erklärte Bode, wie aus der naturalistischen Darstellung eine flächige wurde, Farbe und Form in der modernen Malerei mehr Gewicht erhielten als die detailgetreue Wiedergabe des Objekts. Sie gingen durch die Ausstellung, bis sie zu dem Bild Diagonale von Wassily Kandinsky kamen, welches hier als Leihgabe Bodes hing, bis er dieses 1971 dem Museum schenkte. Von links unten zielten schwarze Pfeile und Dreiecke nach rechts oben, daneben Halbkreise und regenbogenartige Flächen. Der Großvater sagte: »Kandinsky war einer der Erfinder der abstrakten Malerei und ich habe dieses Bild gekauft, weil es dem Beobachter mit seiner dynamischen Bauweise, das Kraft-Spannungsspiel der Abstrakten Kunst, das Suchen der Ausgewogenheit in Linie, Fläche und Farbe aufzeigt. Jetzt möchte ich euch bitten, mir zu sagen, was ihr seht.«

      Ruthi hielt den Mund und Selma meinte: »Ich mag Bilder, wo man was erkennen kann.«

      Bode meinte: »Zwick mal die Augen zu, dann spürst du die Dynamik und das Explosive des Bildes, euer Onkel Sindbert hat einmal gesagt, dass es wie ein geplatztes Auto aussieht.«

      Zielstrebig ging es weiter zu dem Bild Blitzschlag von Klee, welches hier ebenfalls als Leihgabe Bodes hing. Zu sehen waren drei Strichmännchen, von denen das größte vom Blitz getroffen hinfiel, daneben ein blasser Halbmond. Der Großvater wollte, dass die Kinder ganz genau hinsehen sollten, um zu verstehen, was zeitgemäße Kunst ihnen zu sagen hätte. Er deutete mit dem Finger und sagte: »Hier wird ein Mensch in seine Merkmale zerlegt, in ihm sein Gott oder Dämon, beide im Kampf miteinander. Wir sehen die Kräftespannung, die im scheinbar toten Stoff ihr Wesen treibt, ihn schafft, ihn formt, ihn verändert und aus ihm wirkt. All diese Gedanken hat Klee für die Kunst so schön zusammengefasst in den Worten: Der Künstler soll nicht mehr Sichtbares darstellen, sondern sichtbar machen.« Ilse war der Ansicht, dass es genug war, aber ihr Mann wollte den Kindern noch seinen Schwitters und den Lissitzky zeigen. Die abstrakte Komposition Nr. 7 von Kurt Schwitters hing zwischen anderen Werken des Künstlers, die Selma mehr interessierten. Da waren Holzklötzchen, Garnrollen und Kegel spielerisch aufgeleimt und bunt bemalt. Bode war glücklich, dass sich das Kind für diesen Künstler begeistern konnte und sichtlich interessiert von Bild zu Bild ging. Er griff nach der Schulter der Neunjährigen und dozierte: »Die Kunst hat die verborgenen Antriebe aller Erscheinungen sichtbar zu machen, denke darüber nach, zu Hause erzählst du mir dann die Eindrücke des heutigen Tages.«

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      Paul Klee »Blitzschlag«

      Bevor sie nach Steinhude zurückfuhren, wollte Ilse noch im Haus ihres Bruders vorbeifahren, der die Sommerferien auf einer Mittelmeerinsel verbrachte. Er hatte vom Vater ein Gemälde von Lucas Cranach geerbt und war in großer Sorge, dass während seiner Abwesenheit Einbrecher das Bild entwenden könnten. Aus diesem Grunde hatte er eine komplizierte Alarmanlage in sein Wohnhaus einbauen lassen und Ilse sollte überprüfen, ob alles in Ordnung war. Sie parkten vor einem modernen Haus mit vergitterten Fenstern. Schon an der Haustüre waren einige Schlösser zu öffnen, bevor man im Eingangsbereich einen Zahlencode eingeben konnte, um den Alarm zu deaktivieren. Vor der Wohnzimmertüre war eine rote Lichtschranke, die vor dem Betreten auf Grün geschaltet werden musste. Im Wohnraum hingen Kameras an der Decke, mit denen jede Bewegung registriert und gefilmt wurde. Ilse machte das Licht an und aus dem Dunkel tauchte eine nackte zarte Frauengestalt auf, mit langem lockigem Haar, knospenden Brüsten und einem Schleier, der ihre unbehaarte Scham nicht verdeckte. Zu ihrer Linken war ein nackter männlicher Engel mit einfältigem Gesichtsausdruck zu sehen. Ilse übersetzte, was links neben dem Kopf der Frauengestalt in griechischer Schrift zu lesen war: »Siehe die ehrwürdige Aphrodite! Ich bin zwar nur ihr Berater, aber der Begleiter der flüchtigen Liebesfreuden.« Zur Rechten stand: »Einst wurde ich, Venus, aus dem Schaum des Meeres geboren, jetzt lebe ich, wiedergeboren durch deine Farben, oh Lucas!« Das Bild Venus mit Amor hatte eine Größe von 172 x 90 cm und war 1525 in Öl auf Holz gemalt worden. »Sag mal, gefällt dir dieses Bild?«, wollte Ilse wissen. »Wenn ja, dann müsstest du wie mein Bruder in einem Gefängnis wohnen, ich möchte das nicht.« Selma war angerührt von der kindlichen Frau, der man die Kleider entrissen hatte, um ihre Scham für die Augen der Beschauer freizulegen. Sie konnte sich vorstellen, dass das Mädchen sich geschämt hatte, als der Mann sie beim Malvorgang musterte. Seine Augen waren über ihren Körper geglitten, wie die Blicke derjenigen, die später das fertige Bild betrachten würden. Bei der Vorstellung, dass sie selbst anstelle der jungen Venus zu sehen wäre, erschauerte die Neunjährige und war sich nicht sicher, ob es Gruselschauer waren. Sicherlich hatte die Nackte gefroren und gehofft, dass der Künstler schnell damit fertig würde, ihre spitzen Brüstchen mit dem Pinsel nachzuziehen. Ilse erklärte ihr, dass der zarte Schleier die Jungfräulichkeit darstellen sollte. Selma konnte sich darunter nichts vorstellen und fragte: »Was ist denn Jungfräulichkeit?«

      Ilse gab zur Antwort: »Das bedeutet, dass man noch nie mit einem Mann das Bett geteilt hat und das Jungfernhäutchen noch heile ist.« Selma sah sie verständnislos an; »Hat eure Mutter euch nicht aufgeklärt?« Nein, das hatte sie nicht.

      Nach einer rasanten Autofahrt kamen sie wieder in Steinhude an. Selma öffnete die Heckklappe, um die Koffer zu entnehmen, anschließend ließ sich der Kofferraum nicht mehr schließen. Ilse kletterte auf die Stoßstange, dann auf die wippende Klappe und sagte: »Das werden wir gleich haben.« Sie hüpfte auf das Blech, bis eine große Beule zu sehen war. In diesem Moment kam Lina um die Ecke, schlug die Hände vor den Mund und murmelte: »Wenn das der Herr Doktor sieht.« Ilse warf eine Persenning über den Schaden und machte ihn somit unsichtbar. Als Bode vorfuhr, war die Garagentür bereits geschlossen, und sie sahen, dass unerwarteter Besuch eingetroffen war.

      Eine elegante Dame stürzte, umhüllt von einer Parfümwolke, auf Ilse zu, umarmte und küsste sie, dann kam Hermann dran. Die Fremde hatte ihren langen blonden Zopf um den Kopf gewickelt, ihre Lippen waren knallrot angemalt, im gleichen Farbton wie die Fingernägel. Ihre Augen waren blau wie der Lidschatten, der sich bis zur Braue hochzog. Wie bei einer Schlafpuppe klebten lange Wimpern am oberen Lidrand und das Gesicht der älteren Dame war faltenlos geliftet. Das Kostüm, die Handtasche und die hochhackigen Schuhe waren blau. In ihrer ganzen Farbenpracht ähnelte diese Person einem Bild von Nolde. Bald stellte sich heraus, dass sie Lydia Dorner hieß, aus Amerika kam und die Ehefrau von Alexander Dorner, dem bekannten Kunsthistoriker, war.

      Eine große hellblaue Mercedes Limousine parkte am Wiesenweg. Den Wagen hatte sie von der Fabrik aus Sindelfingen bekommen und wollte ihn nun per Schiffsfracht mit nach New York nehmen. Lydia wirbelte durch das Glashaus, in allen Räumen roch es nach ihrem schweren Parfüm. Als das Mittagessen auf dem Tisch stand, bemerkte Bode: »Ich hoffe, die Suppe schmeckt nicht nach Moschus, nach dem das ganze Haus riecht.« Der Kaffee wurde im Freien am See serviert, an dem es stürmisch und kühl war. Die Erwachsenen lagen in Liegestühlen und Bode schickte seine Frau: »Ilse, mir ist kalt, hol doch mal mein Wollwams, Ilse, ich möchte einen Campari mit wenig Eis, Ilse, es ist windig, bring mir doch bitte eine Decke, Ilse, hast du den Gärtner angerufen, damit er die Hecke schneidet?«

      »Jetzt reichts!«, brüllte Lydia. »Du verdammter Hausdrachen, hol dir gefälligst selbst deinen Scheiß!« Bode packte wortlos seine Decke und verschwand mit einem demonstrativ beleidigten Gesichtsausdruck im Haus. Die Zurückgebliebenen konnten sich über den berechtigten Ausbruch nicht freuen, der Nachmittag war verdorben.

      Nach dem Abendbrot um acht versammelten sich die Hausbewohner, für die Nachrichten im Ersten Deutschen Fernsehen. Bode stand vor dem Gerät und sah auf seine Armbanduhr. Eine Sekunde vor acht drückte er auf den Knopf, sodass das Bild, gemeinsam mit den Fanfaren und dem hinter dem Tisch platzierten Sprecher ohne vorherige Werbung auf der Mattscheibe erschien. Nach dem Wetterbericht wurde das neumodische Gerät ausgeschaltet und die Münchner Kinder protestierten: »Ach bitte bitte, dürfen wir den Film mit Heinz Rühmann sehen?« Sie hatten zu Hause keinen Fernseher und waren begierig auf die bewegten Bilder, bekamen aber zu hören: »Geht jetzt ins Bett und lest