Die Kunst ist das Einzige, was bleibt. Sinda Dimroth

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Название Die Kunst ist das Einzige, was bleibt
Автор произведения Sinda Dimroth
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783957801944



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war nichts für sie. Mit einem eleganten Aufschießer stand die Jolle stampfend vor dem Steg und Selma sollte mit dem Tau hinüber auf die Holzbretter springen, um das Schiff festzumachen. Das Kind konnte sich auf dem kippeligen Bootsrand kaum halten und wagte nicht, über den Abgrund zu springen, da kam ihm eine Hand entgegen, die den Angsthasen auf sicheren Grund zog. Ilse war immer im richtigen Moment zur Stelle.

      Die beiden Enkel sollten vorschriftsmäßig die Segel bergen, das hereingeschwappte Wasser ausschöpfen, das Boot klarmachen und anschließend zum Mittagessen erscheinen, »natürlich gekämmt und mit sauberen Händen« setzte Bode hinzu. Pünktlich um ein Uhr standen die Mädchen hinter den Stühlen, bis der Großvater erschien und sich setzte, erst dann durften sie ebenfalls Platz nehmen. Jedes Mittagessen hatte drei Gänge: Suppe, Hauptspeise und Nachtisch, die nacheinander von Lina serviert wurden. Das Dienstmädchen aß in der Küche und bewohnte ein Zimmer neben der Speisekammer. Es konnte hervorragend kochen, sprach Plattdeutsch und wollte die Lieblingsgerichte der Gastkinder wissen, um sie in den nächsten Tagen aufzutischen. Lina war eine stämmige Frau mit Haarknoten, einem runden freundlichen Gesicht und roten kräftigen Händen. Mit dem Rad fuhr sie ins Dorf und besorgte täglich die Nahrungsmittel für den nächsten Tag. Die Großeltern sprach sie mit Herr Doktor und Frau Doktor an und zeigte großen Respekt vor dem Hausherren.

      An einem heißen Sommertag hatte die dickliche Frau geschwitzt und man sah einen dunklen Rand unter dem Arm ihres Sommerkleides. Als sie sich über den Großvater beugte, um die Suppe zu servieren, sagte er: »Lina, ich wünsche keinen Schweißgeruch zur Suppe serviert zu bekommen.« Die gutmütige Frau stellte behutsam die Suppenterrine auf den Tisch, schlug die roten Hände vors Gesicht und fing hemmungslos an zu weinen. Die Enkel sahen betreten auf das glattgebügelte Tischtuch, Ilse wandte sich ab, um die Weinende nicht zu beschämen, und der Patriarch sagte: »Nun beruhigen wir uns mal und sehen nach, ob es eine frische Bluse im Schrank gibt, dann können wir ja wieder kommen.« Lina verschwand und erschien zum zweiten Gang komplett umgezogen in frischen Kleidern, was nicht weiter kommentiert wurde. Bei der Nachspeise wandte sich Bode an sein jüngstes Enkelkind: »Selma, wie gut kannst du schwimmen?« Selma konnte nicht schwimmen und blickte trotzig auf ihre Knie. Ruthi stieß ihr den Ellbogen in die Rippen, aber es kam keine Antwort. »Vielleicht möchtest du mir die Frage beantworten«, wandte sich Bode an die Schwester, die ihn darüber aufklärte, dass Selma nie Schwimmunterricht bekommen hatte. »Dann müssen wir das in die Hand nehmen«, entschied der Großvater und bemerkte zu Ilse: »Es ist nicht in Ordnung, dass Elsa mir eine Nichtschwimmerin schickt, obwohl sie weiß, dass wir am Wasser wohnen.«

      Nach jedem Mittagessen gab es eine Mittagsruhe, während der sich die Großeltern in ihre Gemächer zurückzogen. Im Haus hatte absolute Stille zu herrschen und die Kinder sollten sich aufs Bett legen, um sich lesend zu bilden. Das Mittagsschläfchen der Großeltern fand an heißen Sommertagen auf einer geschützten Terrasse statt, wo sie sich nackt auf Sonnenliegen ausstreckten, um nahtlos braun zu werden. Selma, die noch nie einen nackten Mann gesehen hatte, bekam einen Schock beim Anblick des braungebrannten Großvaters und seines Geschlechtsteils.

      Im Erdgeschoss des Hauses befand sich ein Bücherzimmer, in dem die Regale bis zur Decke reichten. Auf dem Büchertisch lag eine uralte, riesengroße Lutherbibel, die täglich an einer anderen Stelle aufgeschlagen wurde. Im ersten Regal standen die deutschen Klassiker mit goldgeprägten Lederrücken, im zweiten befanden sich die philosophischen Werke von Sophokles bis Heidegger, daneben waren die chinesischen und indischen Dichter und Denker eingeordnet. Die französische Literatur verstaubte nahe der Decke, während die Kinderbücher handlich im unteren Teil der Bibliothek eingeordnet waren. Handgeschriebene Bücher, Erstausgaben und solche, die signiert oder mit einer Widmung versehen waren, durften von der jüngeren Generation nicht angefasst werden und standen mit ihrer repräsentativen Goldprägung neben den Werken, die Bode selbst verfasst hatte. Wegen der alten Folianten verströmte dieser Raum einen leichten Modergeruch, während die restlichen Räume, klinisch weiß gestrichen und geputzt, nach Steinhuder Meerwasser rochen.

      Am Nachmittag wollte der Großvater die Nichtschwimmerin Punkt drei zum Unterricht auf dem Steg treffen. Mit einem ausgeliehenen Badeanzug und einer noppigen Gummihaube, aus der die Zöpfe unten heraushingen, stand Selma fünf vor drei am verabredeten Ort und fror erbärmlich im kalten Wind. Auf die Sekunde genau um drei erschien der Hausherr und sagte: »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.« Dann forderte er das Mädchen auf, in den moorigen See zu springen. Es stand 60 Zentimeter über den Wellen, die braun und unergründlich gegen die Holzpfosten schlugen. Selma schlang die Arme um den dünnen Körper, hatte blaue Lippen und schnatterte, dazu schüttelte sie verneinend den Kopf, als sie durch einen leichten Stoß in die Tiefe befördert wurde. Das Wasser drang ihr in die Nase, in Mund und Augen, sie schluckte die Brühe hinunter und tauchte auf. Der Morast gab den Füßen keinen Halt, die Neunjährige ruderte mit den Armen und sah, dass der Großvater über ihr Schwimmbewegungen machte, die sie nachahmen sollte. Bemüht, seinen Anforderungen gerecht zu werden, strampelte das Kind wie wild im eiskalten Nass und hatte panische Angst zu ertrinken. Bode kniete sich mit seiner schlohweißen Hose auf den Steg und sagte: »Du musst ruhig atmen, deine Arme bewegen und aufhören zu zappeln«, dann legte er ein Geldstück auf den Poller und erklärte: »Dieses Fünfzigpfennigstück ist für dich, wenn du drei Schwimmzüge schaffst.« Nach einer Viertelstunde reichte er Selma die Hand und zog sie zurück auf den Steg. Die Frierende lief ins Haus, wo sie von Lina mit einem im Backofen vorgewärmten Badetuch empfangen wurde. Beim Tee musste sich Bodes jüngste Enkelin anhören, dass sie entweder schwimmen lernte oder nach Hause geschickt würde. Fünfzig Pfennige waren ein starker Anreiz, täglich machte Selma ihre Übungen und konnte am Ende der Ferien schwimmen.

      Hinter einer hohen Hecke verborgen, wohnte im Nebenhaus Bodes Tochter Erkengard mit ihren Kindern Frowis, Eckbert und Luitgard. Das Sommerhaus war aus Holz und hatte eine vorgebaute Veranda. Im Inneren gab es ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine Küche. Die Kinder schliefen in Stockbetten übereinander und die Mutter auf einem Sofa im Wohnzimmer. Das Haus war gemütlich, aber primitiv; das Wasser wurde mit einer Hebelpumpe aus dem Untergrund hochgesaugt, bis es nach Jahren eine Wasserleitung gab. Auch dieses Haus hatte einen großen Garten und einen Steg, an dem ein Ruderboot und ein kleines Segelboot vertäut lagen. Erkengard führte einen eigenen Haushalt. Sie und ihre Kinder kamen nur dann in den Neubau, wenn sie dazu aufgefordert wurden. Frowis, die Älteste, war achtzehn, Eckbert sechzehn und Luitgard vierzehn Jahre alt. Die Cousinen kannten sich nicht. Nachdem die Ortsansässigen genügend Freunde hatten, waren sie nicht daran interessiert, mit den Münchner Verwandten zu spielen, deshalb gab es nur wenige Anknüpfungspunkte.

      Wenn das Wetter gut war, wurde der Tee auf der gegenüberliegenden Seite des Steinhuder Meeres an der Mardorfer Warte eingenommen. Hierfür machte der Hausherr das Motorboot flott, setzte eine dunkelblaue Kapitänskappe auf und steuerte über den See, während die Besatzung vom Spritzwasser der Wellen geduscht wurde. Am anderen Ufer gab es wahlweise Tee oder Kaffee, dazu durfte man sich einen Kuchen aussuchen oder einen Eisbecher mit Sahneberg, in dem ein japanisches Papierschirmchen steckte. Anschließend ging die ganze Gesellschaft ins Moor, um Blaubeeren und Preiselbeeren zu sammeln, die Lina am nächsten Tag mit Schlagsahne servierte. In der Remise neben dem Haus standen zwei silberne Mercedes Benz 190 SL. Einer gehörte Ilse, einer dem Großvater, der seinen Silberpfeil nannte. Beide Cabriolets waren exakt gleich gebaut und hatten zwei Sitzplätze vorne und einen Notsitz hinten. Die dunkelblauen Ledersessel verbreiteten einen wundervollen Duft, das Armaturenbrett und das Lenkrad waren aus Zirbelholz gearbeitet. Das schwarze Stoffdach konnte zurückgeschlagen werden, damit man bei der Fahrt über Land die verschiedenartigen Gerüche und den Wechsel von warm und kalt, hell und dunkel genießen konnte.

      Als ein mehrtägiger Besuch in Hannover geplant war, verlangte der Großvater, dass die Münchner Kinder vorher neu eingekleidet würden, weil er sich mit seinen Enkeln, die er Großkinder nannte, nicht blamieren wollte. Ilse ging mit ihnen ins Steinhuder Dorf, in dem es viele Fischer gab, die ihren geräucherten Aal vor den Geschäften aufgehängt hatten. Der Ort duftete nach einer Mischung aus Räucherfisch und Brackwasser. Die Passanten grüßten »Tach, Frau Doktor«, und Ilse kaufte mal bei Schweers, mal bei Kuckuck oder bei Hodan ihren Fisch, um nur ja niemanden zu benachteiligen. Ein langer Steg ragte von der Ortsmitte in den See hinein, an ihm waren die als Auswanderer bezeichneten Segelschiffe angebunden. Es waren breite Pötte,