Die Kunst ist das Einzige, was bleibt. Sinda Dimroth

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Название Die Kunst ist das Einzige, was bleibt
Автор произведения Sinda Dimroth
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783957801944



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Moorsee hatten einige Hannoveraner ihre Wochenendhäuser und in der sogenannten »Strandhausreihe« war Elsa, die Mutter der Kinder, aufgewachsen. Als der Wagen vor einem Haus mit großen Fenstern anhielt, drückte Ilse auf die Hupe, daraufhin trat eine Haushälterin mit weißer Schürze aus der Haustüre. Mit einem »Hallo ihr zwe Lüdjen« ergriff sie die Koffer, während der weiß gekleidete Großvater vom Balkon winkte. So ein Haus hatte Selma noch nie gesehen, man konnte von der Straße bis zum See hindurchblicken. Ilse ging durch eine rahmenlose Glastüre, und die Gäste folgten ihr staunend. Im ersten Stock zeigte sie ihnen die Schlafzimmer, durch deren Fenster man einen weiten Blick über das Wasser hatte. Auf jedem Kopfkissen lag eine Pralinenschachtel der Firma Sprengel, unter deren Stanniolpapier ein Zehn-Mark-Schein geschoben war.

      »Wenn ihr euch umgezogen habt, könnt ihr runterkommen, Lina hat für euch einen Kuchen gebacken«, schallte es durchs Haus, während die Enkelkinder ihre Koffer auspackten. Ruthi mit ihren schwarzen Locken streifte sich eine weiße Bluse über und schlüpfte in rote Shorts, aus denen das hochgeschossene Mädchen längst herausgewachsen war. Die blonde Selma hatte das Haar zu Zöpfen geflochten und wählte ein Ringelhemd und eine Trainingshose, die vor ihr schon drei Schwestern getragen hatten. Beide Mädchen hatten weiße Söckchen und Sandalen der Firma Salamander an. So erschienen sie im Esszimmer, in dem die Großeltern an einem weiß gedeckten Tisch mit türkisfarbenen Lederstühlen saßen. Bode reichte jedem Kind die Hand zur Begrüßung und zeigte auf den zugedachten Sitzplatz. Das Gedeck bestand aus einem weißen Kuchenteller mit dazu passender Teetasse und einer weißen Stoffserviette im Silberring, auf dem das Sternzeichen des jeweiligen Kindes eingraviert war. Selma hatte bis zu diesem Tag nicht gewusst, dass sie im Tierkreiszeichen des Krebses geboren war.

      Nachdem die Enkelkinder sich gesetzt hatten, bekamen sie Johannisbeerkuchen mit Baiser serviert, dazu gab es Sahne aus einer dünnwandigen Glasschüssel. Ilse füllte duftenden Tee in ihre Tassen und sagte aufmunternd: »Nun greift schon zu.« Die Münchner Kinder waren beeindruckt von der erlesenen Atmosphäre. Mit einer Glasfront, die von der Decke bis zum Boden reichte, war das Esszimmer zum Steinhuder Meer hin geöffnet, die Wellen schlugen in zehn Meter Entfernung gegen die Uferpalisaden und in der Ferne konnte man die Insel Wilhelmstein mit ihrem burgartigen Gemäuer liegen sehen. Auf der einen Seite des zum Anwesen gehörenden Holzstegs stampften zwei Rennjollen auf und nieder und zerrten an den Tauen, auf der anderen Seite lagen ein abgedecktes Motorboot und ein Ruderboot. Am sogenannten Meer war es immer windig, deshalb knallten die Wanten der Segelschiffe gegen die Masten. Das moorige Wasser erzeugte einen leicht säuerlichen Geruch, der sich mit Ilses herbem Parfüm namens »Bandit« vermischte. Diese Duftmischung blieb den Kindern für immer in der Nase. Über dem Esstisch hing ein Frauenkopf von Otto Gleichmann, das Bild hatte den gleichen Grauton wie das Wasser. Das Esszimmer war durch eine Glasvitrine vom Wohnzimmer getrennt, in dem ein brauner Konzertflügel die Hälfte des Raumes einnahm. In der Vitrine befanden sich kleine Figurinen von Mataré, Renée Sintenis und Naum Gabo, daneben standen die Weihnachtsgeschenke der Enkel: ein zartes Tonpferdchen von Reingard, ein plumper Eisbär von Ruthi, ein goldener Weihnachtsengel von Anna-Friederun und, gegen die Rückwand gelehnt, eine Zeichnung von Selma.

      Der Großvater Hermann Bode war ein würdiger Herr mit schlohweißen, kurzgeschnittenen Haaren. Er hatte einen cremefarbenen Leinenanzug an, dazu trug er ein weißes Hemd mit grauer Krawatte, die mit einer goldgefassten Perle festgesteckt war. Der 74-Jährige hatte ein glattrasiertes Gesicht mit Pigmentflecken, der Mund war schmallippig und farblos. Seine blauen Augen sahen durch eine Brille mit Silberrand, die ein quadratisches Lesefenster hatte. Die schmalen Hände waren übersät mit braunen Punkten und am Ringfinger steckte, neben einem eindrucksvollen Brillantring, der weißgoldene Ehering. Mit Reepschnur und Schekel war seine Taschenuhr am Gürtel befestigt. Der Vater der Mutter verkörperte eine Autorität, der sich die ganze Familie unterzuordnen hatte. Niemand wagte es, ihm zu widersprechen, und Ilse war bemüht, seinen Wünschen zuvorzukommen. Er saß kerzengerade bei Tisch und aß mit einem silbernen Besteck, auf dem der Name seines gefallenen Sohnes Sindbert eingraviert war. Sein Serviettenring zeigte das Sternzeichen Löwe.

      Die Stimmung bei Tisch wirkte steif, weil man als Kind nur dann zu sprechen hatte, wenn man dazu aufgefordert wurde. Benutzte eines der Kinder ein Fremdwort wie Pullover oder Serviette, kam sofort die Korrektur, dass man sich der deutschen Sprache zu befleißigen habe, in der es Wollwams oder Mundtuch heiße. Der Großvater sprach zwar fließend Französisch und Englisch, wollte aber keine Vermischung der Sprachen, weil für ihn die deutsche Sprache ein Ausdrucksmittel war, das er rein erhalten wollte. Bodes Worte waren gewählt und akzentfrei. Immer sprungbereit, um das herbeizuschaffen, was dem hohen Herren fehlte, saß am Kopfende des Tisches Ilse, seine 15 Jahre jüngere Frau. Sie war klein und wirkte in ihrem weißen Hosenanzug knabenhaft, die altersgemäßen Falten waren in Narben hinter den Ohren verschwunden. Sie selbst sagte, ihr Gesicht sei glatt wie ein Babypopo. Das lange schwarze Haar war straff nach hinten gekämmt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Wenn sich eine Haarsträhne löste, benetzte Ilse die Fingerkuppen mit Spucke und strich sie zurück. Immer braun gebrannt, im Winter vom Skifahren, im Sommer vom Sonnenbaden, machte die Großmutter einen sportlichen Eindruck. Wenn sie eine Treppe hinaufwollte, nahm sie immer zwei Stufen aufeinmal. Wegen ihrer kleinen Statur und der burschikosen Art vermittelte sie den Kindern ein Gefühl von Kameradschaftlichkeit, die sich in seltenen Fällen sogar gegen den Patriarchen richtete. Schon bei der ersten Mahlzeit wurde Selma von diesem ermahnt, sich gerade zu halten, die Gabel zu benutzen und ohne zu kichern den Mund mit dem Mundtuch zu reinigen. So gemaßregelt, ließ das Kind den Kopf sinken und rührte den Kuchen nicht mehr an. Der Großvater bat seine Frau, der Enkelin in der Küche beizubringen, wie man sich an seinem Esstisch zu benehmen habe.

      Für den nächsten Tag war Segelunterricht vorgesehen, deshalb wurden die Mädchen in einen Raum geführt, in dem Segel, Ruder, Tampen und Persenning ordentlich an der Wand aufgehängt waren. In einem Schrank befand sich die weiße Segelkleidung der gefallenen Söhne, von der sich Elsas Töchter das Passende aussuchen sollten. In einem Regal waren Bodes Siegestrophäen aufgereiht, es waren silberne Trinkbecher und Pokale, die er bei Segelregatten gewonnen hatte. Nachdem die Mädchen ganz in Weiß eingekleidet waren, stemmten sie sich gegen eine Glastüre, die sich nicht öffnen ließ, weil der Wind dagegen stand. Deshalb liefen sie um das Gebäude herum und sahen den Großvater im makellos weißen Anzug mit windzerzaustem Haar wartend am Wasser stehen. Er ließ den Deckel seiner goldenen Taschenuhr aufspringen und bemerkte, dass sie ganze drei Minuten zu spät waren. »In Zukunft erwarte ich, dass ihr vor der angegebenen Zeit zur Stelle seid, sodass ich auf keinen Fall auf einen von euch warten muss.« An einer Wandte zog er die Rennjolle zu sich heran und forderte die Kinder auf, das Boot zu betreten, um das Wasser, welches sich unter den Bodenbrettern angesammelt hatte, über Bord zu schöpfen. Nachdem sie damit fertig waren, erklärte er den Landratten, wie man die Segel auspackt und hochzieht. Es war stürmisch, das Boot kippelte und das Segel fetzte den Mädchen um die Ohren. Ilse stand am Fenster und sah dem Treiben zu, exakt im richtigen Augenblick sprang sie herbei und löste das Tau vom Poller, sodass sich der Bootskörper drehen konnte und dem Wind erlaubte, voll ins Segel zu greifen.

      Eine Rennjolle hat einen runden glatten Rumpf aus Holz, der, wie schon der Name sagt, für Rennen konstruiert wurde. Wenn der Wind seine volle Kraft auf das Segel ausübt, legt sich das Schiff stark zur Seite. Selma wurde blass vor Angst, als das riesige Vorsegel um sie herumschlug und das Wasser über die Bootswand hereinschwappte, während sie in rasanter Fahrt durchs Steinhuder Meer pflügten. »Vorschot einholen«, kommandierte Bode und Ruthi erwischte das schlagende Seil. Selma klammerte sich an den Schwertkasten und sah sich schon in den grauen Fluten ertrinken, als das nächste Kommando kam: »Klar zur Wende, Selma, Kopf einziehen.« Das Segelschiff drehte sich und lag sofort wieder hart am Wind. Bei der nächsten Bö legte sich der Schiffskörper so stark zur Seite, dass das Ende des Großsegels ins Wasser tauchte und der Steuermann Leine geben musste. »Fockaffe, Vorschot dichter holen«, kam das Kommando für Ruthi, die sofort reagierte. Die drei segelten durch die sogenannten Deipen um den Wilhelmstein herum und nahmen dann Kurs auf den Ort Steinhude. Bode erklärte den Mädchen die roten Benzel an den Wandten und in welchem Winkel das Großsegel optimal Fahrt erzeugt. Er sprach von der Aerodynamik des Segelns und verglich das Focksegel mit einem Vogelflügel, hinter dem der Wind verwirbelt. Das Fähnchen auf dem Mast nannte er Verklicker und spielte mit dem Großsegel, um zu demonstrieren, wie Segel und Bootskörper