Szenenwechsel. Elisa Scheer

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Название Szenenwechsel
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737562959



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mindestens fünfunddreißig?“

      „Wer weiß, was ihr zugestoßen ist. Vorher war sie doch ganz normal, oder?“

      „Fachlich schlecht war sie immer schon. Jedenfalls in Mathe“, behauptete Hilde. „Ich habe mal Arbeitsblätter von ihr gesehen – na, gute Nacht.“

      „Ich frag mal die Fachbetreuerin“, versprach Luise. „Aber jetzt hab ich eine Sitzung. Ich sag dir, als Mitarbeiterin lebst du wie in einer Firma. Meetings ohne Ende, man sitzt sich bloß den Hintern breit.“

      „Da würde ich mir jetzt keine Sorgen machen“, grinste Hilde und warf einen anerkennenden Blick auf Luises schmale Hüften in der kleinkarierten Tuchhose.

      „Ein schwacher Trost“, seufzte Luise theatralisch.

      ***

      Der Unterricht war der übliche Spaß, sogar die sechste Klasse übte am Nachmittag in der Intensivierung mit Feuereifer und fragte kein einziges Mal, ob man nicht „was spielen“ könne.

      Vielleicht lag es daran, dass nächste Woche Schulaufgabe war? Jedenfalls fand Hilde ihre Klasse wieder mal einfach zum Knuddeln. Und um halb vier, als sie fertig waren, konnten wirklich jeder und jede zwei Brüche addieren, den Hauptnenner bilden, Dezimalbrüche berechnen, periodische Brüche ausrechnen und umwandeln und knifflige Textaufgaben lösen. Hilde war des Lobes voll und schickte sie nach Hause.

      Im Lehrerzimmer war nur noch Dr. Querfurth, der sich aber auf muffige Blicke beschränkte, seitdem er von oben einen schweren Rüffel bekommen hatte. Hilde ignorierte ihn und packte ihren Kram zusammen – schön, wie leicht die Tasche jetzt war, nachdem sie so viel Zeug abgelegt hatte. Vielleicht sollte sie ein paar Bücher, die sie zu Hause in nächster Zeit nicht brauchte, hier in ihrem Fach aufbewahren, um den Umzugsstress weiter zu verringern…

      Sie schloss ihr Fach auf und stellte missvergnügt fest, dass es rappelvoll war.

      Durch ordentlicheres Stapeln gelang es ihr, Platz für etwa zehn weitere Bücher zu schaffen, aber mehr ging nicht – und lose Papiere gab es kaum, nur eine Mappe mit Übungsaufgaben zur 11. Klasse Mathematik, die sie wegwerfen konnte. Samt der eselsohrigen Mappe. Sie knallte das Türchen wieder zu und schloss es ab. Das war also keine besondere Option.

      Andererseits hatte sie zu Hause ja ohnehin nicht mehr so viel Kram, und bis zum Umzug würde es ihr bestimmt gelingen, noch einiges loszuwerden. Bis dahin mussten natürlich alle Extemporalien und Schulaufgaben korrigiert und abgelegt sein.

      Sie sah sich noch einen Moment lang tatendurstig im Lehrerzimmer um, aber ihr fiel nichts ein, außer vielleicht Dr. Querfurth vors Schienbein zu treten – aber das war einer Dame unwürdig.

      Also packte sie zusammen und fuhr nach Hause, wo sie sich erst recht tatendurstig umsah. Hier musste doch einfach noch „was gehen“?

      Das Regal war perfekt. Alles wesentlich – halt, was war das? Glut der Leidenschaft. Spielte anscheinend in Schottland, jedenfalls trug der Held außer perfekten Muskeln nur ein Schottenröcklein und die Dame, die in seinen starken Armen dahin schmolz, hatte um ihren arg tiefen Ausschnitt ebenfalls einen Tartanschal gewunden. Hilde studierte kurz die Rückseite – ach ja, das spielte auch noch im späteren Mittelalter, wen interessierte das denn! Ab in die Lesefabrik, wieder fünfzig Cent verdient. Und Wir bluffen uns so durch? Auch ziemlicher Quatsch. Der Tod des Märchenprinzen? Verquaster Feminismus und unglaublich wehleidig im Ton. Dann lieber was mit starken Frauen, die irgendwelche Kerle ins Bockshorn jagten! Konnte also auch weg.

      Und das eine Mathebuch brauchte auch niemand mehr, es war ausgesprochen schlecht und außerdem veraltet, G 9. Vier Stück – zwei Euro. Naja. Aber eben auch Platz gespart!

      Aus der Pappschachtel mit den gemischten Schreibwaren mussten mehrere ausgeschriebene Fineliner, ein fies speckiger Radiergummi, eine Handvoll hässlicher kupferfarbener Büroklammern, einige verklebte Gummibänder und mehrere fast leere Patronenschachteln, deren Inhalt locker in eine einzige passte, daran glauben. Schon wieder besser. Und wenn sie jetzt noch diese letzte Suppendose aufaß – dann war praktisch nichts mehr im Vorratsfach. Auch gut! Und das Puddingpulver war von 2003 und konnte in den Müll. Wenn sie so weiter machte, musste sie doch mindestens eine Umzugskiste einsparen können?

      Sie konnte sich eigentlich schon mal einige Umzugskisten im Baumarkt holen; beim Einpacken würde sie sicher noch zu einem ganz anderen Radikalismus finden!

      Sie holte sich erst einmal drei normale und drei kleinere, aber extra starke Bücherkisten. Zusammen mit zwei Koffern voller Klamotten und allen Taschen, die sie so besaß, musste das doch reichen?

      Und die Möbel? Am einfachsten bestellte sie einen Entrümpler. Das Sofa war durchgesessen und abgewetzt, das Bett war ganz furchtbar, der Kleiderschrank gehörte zur Wohnung, Tisch und zwei Stühle dito, und das Regal war hinüber, der Pressspan bröselte schon. Dann lieber noch Tante Marthas Möbel, dunkel und gediegen. Wenn man die sparsamer einsetzte…

      Sie schnappte sich einige Müllsäcke und fuhr wieder hinunter in den Keller, wo sie die restlichen schlechten Bücher eintütete (Wertstoffhof), einen Sack voller unsäglicher Klamotten stopfte und ein Paar ziemlich schöne mittelbraune Glacélederhandschuhe entdeckte. Die Handschuhe trug sie nach oben, den Sack warf sie in den Altkleidercontainer an der Ecke.

      Danach fuhr sie zurück in den Keller, aber nun gab es dort außer dem wackligen Blechregal, das der Vormieter schon zurückgelassen hatte, nur noch einen Henkelkorb, in dem eine prall gefüllte Supermarkttüte lag, und ein letztes Regalfach voller mieser Bücher. Die Bücher waren, wie eine flüchtige Durchsicht zeigte, der Lesefabrik nicht zuzumuten. Also ab ins Altpapier!

      Und in der Tüte befanden sich drei Handtücher in einem merkwürdigen Beigeton, dünn und zerfranst. Müll, eindeutig. Und der Korb? Etwas mickrig, wohl ein alter Geschenkkorb, aber einwandfrei. Sie brauchte ihn aber nicht, also stellte sie ihn, bevor sie wieder zum Altkleidercontainer wanderte, im Müllhäuschen aufs Fensterbrett. Den würde sich schon einer schnappen, ganz bestimmt.

      Mit einem Besen fuhr sie schließlich eher flüchtig durch das kleine Kellerabteil und kehrte das Häuflein Staub unauffällig unter der Trennwand durch ins Abteil von Frau Sturm, die immer so entnervend durchs Treppenhaus kreischte, wenn ihr irgendwas nicht passte. Und der passte nie etwas. Na, wenn sie den Staub entdeckte, konnte sie ja hier unten so lange kreischen, wie sie Lust hatte, die alte Schreckschraube.

      Der Keller sah praktisch neuwertig aus. Um den musste sie sich nie wieder Gedanken machen. Hatte Tante Marthas Wohnung eigentlich einen Keller? Bestimmt, die Wohnung hatte doch drei Zimmer. Oder waren es sogar dreieinhalb? Nein, drei. Und eine ziemlich große Abstellkammer. Bestimmt zwei auf zwei Meter. Oder mehr. Da würde sie allen Putzkram, das Gepäck, das Wäschegestell, die Winterstiefel… unterbringen. Mal sehen, was noch. In ordentlichen Regalen. IKEA. Vormerken. So arm war sie jetzt schließlich nicht mehr!

      MI 23.04.2008

      Der Unterricht und sogar die blöde Sitzung des AK Wettbewerbe (in den man sie hineingequatscht hatte, Lust hatte sie darauf nie) waren im Nu verflogen, zog Hilde Bilanz, als sie um halb drei im Lehrerzimmer ihre Tasche umräumte und einige unnütze Kopien entsorgte. Man sollte immer etwas Erfreuliches am Nachmittag vorhaben, um den Vormittag beschwingt zu durchtänzeln…

      Nein, lieber doch nicht. Dann hatte man vormittags immer diesen Zeitdruck, ob man auch rechtzeitig fertig wurde. Und täglich etwas Schönes – das nutzte sich auch ab.

      Aber heute um drei – in fünfundzwanzig Minuten, genau – durfte sie ihr Erbe besichtigen. Tante Marthas Höhle.

      Bestimmt war sie schrecklich, Tante Martha hatte alles Mögliche gesammelt und nie etwas weggeworfen, außerdem einen Hang zu schweren, dunklen Möbeln gehabt. Aber klare, eckige Linien – tatsächlich irgendwas zwischen Bauhaus und Art Déco. Sie musste wieder an die Verfilmungen der Hercule-Poirot-Romane denken. Daraus würde sich schon etwas machen lassen, schließlich hatte sie ja alle Zeit der Welt.

      Und jetzt sollte sie nicht länger tagträumen, sondern aufbrechen.

      Waldburgplatz 12. Tolle Adresse.