Ein gestörtes Verhältnis. Elisa Scheer

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Название Ein gestörtes Verhältnis
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737547741



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genug? Wahrscheinlich würde er bald wieder mit dem Vorschlag kommen, sie sollte doch mal eine Therapie…

      Sie wollte keine Therapie, wer konnte denn wissen, was dabei noch ans Tageslicht kam? Und ob das dann alles stimmte? Sie erinnerte sich an Berichte über Kinder, die von Missbrauch berichtet hatten, weil die Psychologinnen ihnen das mehr oder weniger in den Mund gelegt hatten.

      Einzelfälle? Wahrscheinlich, trotzdem misstraute sie diesen Leuten, die waren damals im Krankenhaus und in der Reha schon schlimm genug gewesen. Und dass sie damals gesagt hatte, sie sollten sie einfach verbinden und sonst in Ruhe lassen, ihr fehle nichts, hatte diese Weißkittel dreinschauen lassen, als wollten sie sie gleich in die Geschlossene einweisen. Da konnte man doch Angst kriegen?

      Nein, sie musste mit diesen morbiden Gedanken aufhören. Schmiedl würde die Füße stillhalten, mit so einer Vorstrafe wollte er doch bestimmt nicht gleich wieder einfahren – oder? Andererseits: Wovon wollte er jetzt leben? Als Vorbestrafter bekam er doch keine Stelle mehr!

      Was hatte Schmiedl eigentlich beruflich gemacht?

      Sie versank in Gedanken, denn als damals vor Gericht sein Gesicht zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr vage bekannt vorgekommen. Sie war aber nie darauf gekommen, ob sie ihn wirklich schon einmal gesehen hatte – und der eine Tag, an dem sie im Gerichtssaal gesessen hatte, hatte ihr wirklich gereicht. Nebenkläger waren ihre Eltern und die waren auch sehr dafür gewesen, dass sie lieber zu Hause blieb. Papas damalige Freundin hatte sich sehr lieb um sie gekümmert, mit ihr ferngesehen und geredet – aber nie über die Entführung. Dafür war sie ihr noch lange dankbar, eigentlich bis heute.

      Sie sollte Lisa bei Gelegenheit mal wieder anrufen, beschloss sie.

      Woher hatte Schmiedl sie überhaupt gekannt? Dass er sie nicht als Zufallsopfer ausgewählt hatte, war klar – er wusste, dass ihre Eltern Geld hatten („dein Vater, der Fabrikant“) und dass sie noch zur Schule ging. Gut, sie war damals siebzehn, da war das nicht so abwegig…

      Wie konnte man rauskriegen, was Schmiedl vorher gemacht hatte?

      Sie seufzte: Wollte sie das wirklich wissen? Was hätte sie davon? Würde nicht nur alles wieder hochkommen, was sie bis jetzt so erfolgreich beiseitegeschoben hatte?

      Sie schlug eine neue Akte auf. Das Konzept klang aber mal interessant!

      6

      Am frühen Nachmittag betrachtete Vincent seine neue Behausung ganz zufrieden. Seine Kleidung hing in dem Einbauschrank im Flur, den Kühlschrank hatte er flüchtig ausgewischt und mit Butter, Wurst, Käse und Tomaten gefüllt, im Gefrierfach stapelten sich einige Pizzas, im Oberschrank stand das Plastikgeschirr, das er sich im Baumarkt besorgt hatte. Daher hatte er auch Klapptisch, Klappstuhl (sogar einen zweiten, für Besuch) und einen Futon.

      Und – darauf war er besonders stolz – er hatte im Keller sogar einen Waschraum gefunden, sich eingetragen, Waschpulver besorgt und das von Bella so grässlich verstunkene Bettzeug gewaschen. Jetzt hing es hier etwas unglücklich und sorgte für eine hohe Luftfeuchtigkeit. Nein, das konnte nicht so bleiben!

      Er machte sich also wieder auf den Weg: Wäschegestell, drei Regalwürfel, einen Kasten Wasser, einen Wischmopp, Putzlappen und Haushaltsreiniger.

      Dabei konnte er das Gefühl nicht loswerden, dass er sich Stück für Stück dem Leben näherte, das seine Mutter sich für ihn wünschte. Aber seltsamerweise konnte dieses Gefühl ihn nicht aufhalten, nicht einmal, als er die Regale mit dem beigelegten Werkzeug aufbaute, sie danach auswischte, an der Wand aufstapelte und schließlich mit seinen Büchern und Ordnern füllte.

      Die zusammengerollten Reisetaschen stopfte er noch in ein Schrankfach, dann ließ er sich auf dem Klappstuhl nieder und sah sich erneut um: Ja, jetzt ging es. Farblich streng (er hasste bunt), ordentlich (Mama lächelte erfreut), so karg wie möglich (Mamas Mundwinkel sanken herab). Also fand er hier vielleicht doch einen eigenen Weg…

      Was wollte er in den nächsten Tagen tun?

      Er holte seinen Rechner aus dem Köfferchen, fuhr ihn hoch und rief den Kalender auf. Morgen um elf wollte er bei Schottenbach vorbeischauen – Adresse im Netz überprüfen, irgendwo in der MiniCity –, dafür sollte er einen Anzug, ein ordentliches Hemd und eine (nerdmäßig lässig gebundene) Krawatte bereitlegen. Und die Schuhe putzen, vielleicht waren nicht alle so locker unterwegs wie sein Vermieter. Den Job bei Schottenbach wollte er tatsächlich haben, stellte er leicht überrascht fest. Bestimmt nicht, um Mama einen Gefallen zu tun, aber Schottenbach hatte nun einmal in der Softwarebranche einen exzellenten Ruf und schon einige wirklich gute Programme auf den Markt gebracht. Wenn man eine zündende Idee hatte, war man dort bestimmt am richtigen Ort.

      Also hatte Mama ausnahmsweise mal eine vernünftige Idee gehabt. Nein, das war ungerecht – das Schlimme war ja, dass ihre Ideen meistens ganz vernünftig waren. Ihre übergriffige Art aber führte dann dazu, dass man auch die vernünftigsten Ideen bockig ablehnen musste und sich dabei vorkam, als sei man noch in der Pubertät.

      Oder man übernahm ihre Vorschläge und wandelte sie so ab, dass sie sich ärgern musste. Er grinste, als er sich in seiner Neuerwerbung umsah. Raus aus der Nichtstuer-WG, das war in Mamas Sinn, aber ein Zwergenappartement im nördlichen (eher unfeinen) Univiertel war natürlich nicht das Richtige, würde sie sagen. Also hatte er die perfekte Lösung gefunden! Und der karge Einrichtungsstil war auch genau das, was ihm gefiel, Mama aber nicht. Ihr Haus war auf das Üppigste dekoriert, so üppig, dass ihn dort regelmäßig Atemnot überfiel.

      Sein Handy klingelte und er schaute aufs Display – wenn man den Teufel nennt: Mama.

      „Ja, Mama?“

      „Mein Junge, stimmt das?“

      „Was denn?“

      „Nun frag doch nicht so albern! Bist du tatsächlich umgezogen?“

      „Das stimmt. Und würdest du bitte aufhören, alles was ich tue, sage und denke, als albern zu bezeichnen?“

      „Gerne – sobald du dich wie ein erwachsener Mensch benimmst!“

      Er brach das Gespräch ab. Die Alte lernte es wirklich nicht mehr!

      Wie schon so oft wünschte er sich eine ganze Horde Geschwister, damit Mamas Betriebsamkeit und Erziehungseifer sich auf mehr Schultern verteilen konnte. Am besten drei jüngere Brüder mit schlechten Noten, noch schlechterem Benehmen und vielleicht schon einer klitzekleinen Vorstrafe? Plus zwei umtriebige frühreife Schwestern… ach, er hätte so himmlische Ruhe…!

      Was nützte es, zu jammern? Mama war eben eine Glucke. Sein Vater dagegen hatte schon relativ früh das Interesse verloren.

      Er inspizierte kurz seine Garderobe, die recht gut in den schmalen Schrank gepasst hatte, und stellte fest, dass der dunkelgraue Anzug noch gut in Schuss war, dass aber die Hemden doch arg ungebügelt aussahen.

      Seufzend beschloss er, die Hemden zum Bügeln zu bringen. Besser, als die Wohnung auch noch mit Bügelbrett und Bügeleisen vollzustopfen!

      Einige Minuten die Floriansgasse hinunter Richtung Altstadt fand er tatsächlich eine Wäscherei mit Bügelservice, gab seine Hemden ab, erhielt ein Zettelchen und die Auskunft, in einer Stunde könne er sie wieder abholen, und enteilte. Was nun? Straßencafé? Nicht im November. Cafés von innen mochte er nicht, da roch es immer so seltsam nach gekochter Milch und Schlagsahne.

      Etwas essen? Ja, vielleicht – nein. Bis er die Hemden abholen konnte, war es halb fünf, dann konnte er sich auch zu Hause ein Käsebrot machen. Wozu hatte er so brav eingekauft?

      Was kam als nächstes? Er hatte eine brave kleine Wohnung, morgen hoffentlich auch einen braven Job, brachte gerade seine Garderobe in einen Zustand, der einem braven Bürger zukam: Hatte er seinen ganzen Rebellionsgeist verloren? Warum so plötzlich? Waren es die magischen Dreißig? Aber sein Geburtstag lag schon zweieinhalb Monate zurück…

      Waren es nur Nils und Leo gewesen? Aber die hatten ihn schon seit Monaten genervt und er hatte sich nicht Hals über Kopf in eine bürgerliche Existenz geflüchtet.