Ein gestörtes Verhältnis. Elisa Scheer

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Название Ein gestörtes Verhältnis
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737547741



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Weibsbild.

      Dass sie nicht sein Typ war, zu dick und zu ordinär, war das eine – aber sich einfach in sein Bett zu legen, als müsse er sich auf alles stürzen, was ihm vor Augen kam – das ging gar nicht. Aufdringliche Kuh. Und dann noch herumzuplärren, er sei schwul! Das als Kränkung zu empfinden, war natürlich auch wieder diskriminierend, und eigentlich konnte es ihm ja auch egal sein, was diese Schlampe von ihm dachte.

      Auch so ein diskriminierendes Wort – aber in diesem Fall passte es. Vielleicht dachten die beiden Nasen in der WG jetzt, er sei geflohen, weil sie ihn „geoutet“ hatte?

      Auch das war völlig egal. Aber er musste daran denken, den Dauerauftrag für die Miete zu ändern. Die beiden fanden dann schon irgendeine Koksnase für seine beiden Zimmer plus Bad.

      Bei „Men“ kaufte er sich einen Fünferpack schwarze Socken und drei anständige weiße T-Shirts, dann schlenderte er noch etwas um die Uni herum, registrierte durchaus die interessierten Blicke mancher Frauen und holte schließlich die gebügelten Hemden wieder ab.

      Nicht schlecht, das würde er immer so machen. Schottenbach würde ihn schon gut genug bezahlen, dass er sich diesen kleinen Luxus gönnen konnte.

      Zu Hause nahm er sich sein Konto vor, kaufte und verkaufte einige Fondsanteile, kündigte den Dauerauftrag und richtete einen neuen für diese Wohnung ein, bastelte sich ein mäßig schönes Schild für die Wohnungstür und zwei ganz kleine für Briefkasten und Klingeltafel, dann fuhr er hinunter, um sie an Ort und Stelle zu praktizieren.

      Damit war er angekommen, fand er. Morgen um elf kam dann der nächste Schritt in die Bürgerlichkeit.

      7

      Immerhin konnte sie unbehelligt nach Hause kommen, denn die Paparazzi schienen immer noch woanders auf der Lauer zu liegen. Was sie wohl jetzt vorhatten?

      Sie aß einen Apfel und packte die Breze aus, die sie sich beim Bäcker an der Ecke gekauft hatte, dann setzte sie sich an ihren Rechner und googelte „Schmiedl“.

      Hm. Diverse Schmiedls in verschiedenen Netzwerken, wie üblich. Eine Autowerkstatt – Nürnberg?

      Okay, „Schmiedl“ + „Leisenberg“?

      Schon besser – nach einem Zahnarzt und einem Gemüsegroßhandel kam schon Eberhard Schmiedl – eiskalter Kidnapper. Sie rief die Seite auf und studierte alles, was sie dort fand – viel war es allerdings nicht, einige Fakten über die Entführung, ein paar Sätze über das bedauernswerte Opfer (also sie) und eine kurze Diskussion über das Strafmaß. Ganz aktuell schien der Artikel nicht zu sein – oh, ja, Oktober 2010.

      Schmiedls Komplize? Judith erinnerte sich an den kleineren, dünneren Mann, der meistens er die leeren Wasserflaschen geholt und durch volle ersetzt hatte. Gesprochen hatte er nie, und getan hatte er ihr auch nichts. Karl Hutter, dem Artikel zufolge. Hinter seinem Namen stand in Klammern ein Todesdatum, 2004, kurz nach dem Prozess. Was war mit ihm denn genau passiert?

      Also, auf ein Neues: „Karl Hutter“ + „Leisenberg“.

      Aha. Im Prozess hatte er wegen Beihilfe vier Jahre bekommen, und kurz nach Haftantritt in der JVA Stadelheim in München war er bei einer Messerstecherei umgekommen.

      Wie kam eigentlich ein Messer in ein Gefängnis? Musste man nicht, wenn so etwas herauskam, wenigstens den Direktor feuern, der doch offenbar keine Ahnung hatte, was in seinem Laden so abging?

      Zufall oder geplant? Aber warum brachte jemand jemanden um, der doch ohnehin schon einsaß? Warum nicht abwarten, bis dieser Hutter wieder frei war, und ihn dann irgendwo plattfahren? Oder erschießen oder was auch immer?

      Judith zog ein Blatt heran und schrieb sich diese Fragen auf.

      Schade, dass sich im Netz nirgendwo die Protokolle der Gerichtsverhandlung finden ließen – sie hätte gerne gewusst, was ihre Eltern eigentlich ausgesagt hatten, und fragen konnte sie sie nicht, denn die Reaktion konnte sie sich schon vorstellen: „Kind, heißt das, du bist endlich bereit, eine Therapie zu machen? Das ist ja herrlich!“

      Nein, war es eben nicht.

      Sie hatte schließlich keinen an der Klatsche!

      Die Fakten waren natürlich klar: Schmiedl hatte sie auf dem Schulweg überwältigt, sie ganz altmodisch betäubt und sie einige Tage in einem merkwürdigen Kellerloch gefangen gehalten. Sie hatte ab und zu mit einer Tageszeitung vor einem Camcorder posieren müssen und ihre Eltern anflehen, das Lösegeld zu bezahlen. Damit sie hinreichend tränenüberströmt und zittrig wirkte, pflegte Schmiedl sie vorher mit einem kleinen Messer zu traktieren.

      Bei der Erinnerung strich sie sich nachdenklich über die feinen, kaum noch sichtbaren Narben, die sich ihre Arme hinaufzogen. Er hatte sie immer exakt so tief geritzt, dass sie blutete, was auf der Videobotschaft dramatisch genug wirkte. So tief, dass er sie auf Dauer verletzte, schnitt er aber nie. Er wirkte sehr kaltblütig, erinnerte sie sich. Sein Gesicht konnte sie zwar wegen der Maske nie sehen, aber er machte alles überlegt, als arbeite er einen Plan ab, an den er sich sklavisch halten wollte. Nur in einem Aspekt schien er spontan zu handeln – aber über diesen Aspekt nachzudenken verbot sich von selbst.

      Ihre Hand glitt in den Ausschnitt ihrer Business-Bluse und fuhr leicht über eine weitere feine Narbe auf ihrer linken Brust.

      Schließlich hatten ihre Eltern (vor allem natürlich Papa) das Lösegeld bezahlt und Schmiedl hatte sie – benommen, mit verbundenen Augen und gefesselten Händen – in ein Auto geschafft und sie irgendwo südlich von Leisenberg freigelassen. Wenigstens hatte er ihre Handfesseln gelöst, bevor er weggefahren war, aber als sie die Augenbinde losgeworden war, war von ihm schon nichts mehr zu sehen. Sie war mühsam die Landstraße entlang gestolpert, bis sie in ein Dorf gekommen war, wo jemand auf ihre Bitten hin die Polizei gerufen hatte.

      Heute fragte sie sich, wie die Polizei damals eigentlich auf Schmiedl und Hutter gekommen war. Sie selbst hatte nicht allzu viel beitragen können. Was hatte sie denn überhaupt gewusst?

      Dass es in diesem Raum modrig gerochen hatte. Dass der Große – also Schmiedl – zwar maskiert gewesen war, aber am Handgelenk ein kleines Tattoo gehabt hatte, einen Alienkopf. Dass seine Anweisungen mit einer merkwürdig tonlosen Stimme gekommen waren. Sie hatte noch überlegt, wie er das machte, ob er sich vielleicht etwas gegen den Hals hielt, wie diese Leute, die Kehlkopfkrebs hatten (das hatte sie einmal im Fernsehen gesehen). Dass es sehr wenig zu essen gegeben hatte, und dann eigentlich nur Brezen mit Mohn darauf. Um sie ruhig zu halten? Bewirkt hatten die Brezen nichts, außer dass sie in diesen wenigen Tagen drei Kilo abgenommen hatte. Hutter, der andere, hatte nie gesprochen, aber Stiefel mit einer dicken, ehemals weißen Sohle getragen.

      Ja, und sie war etwa zehn Minuten gegangen, bis sie zu diesem Dorf gekommen war.

      Immerhin hatte die Kripo daraus ermitteln können, wo sie ausgesetzt worden war – und dann hatten sie vermutlich alle Gebäude in der Umgebung überprüft.

      Oder hatte ihnen das Alien-Tattoo weitergeholfen? Dumm, dass sie während der Ermittlungen erst im Krankenhaus und dann in der Reha gewesen war, wo sie vergeblich versucht hatten, aus ihr weitere Einzelheiten herauszuholen. Damals war sie nicht nur bockig gewesen, sie konnte sich nicht erinnern: Sobald die Fragen zu persönlich wurden, überlagerte der Schrecken alles und statt der Bilder breitete sich nur Finsternis vor ihrem inneren Auge aus.

      Später, als ihr alles wieder klar war, hatte sie dann beschlossen, dass sie sich damit nicht befassen wollte – und die ganze Entführung entschlossen in eine Art Rumpelkammer ihres Bewusstseins gepackt. Und den Schlüssel weggeworfen, um im Bild zu bleiben.

      Wie hatte Schmiedl denn eigentlich ausgesehen? Wenn er sich wirklich traute, sich ihr zu nähern, sollte sie doch gewappnet sein! Sie klickte auf die Bildersuche, aber auf den ersten Seiten erkannte sie niemanden von all diesen Männern – und Frauen (??) – die höchstwahrscheinlich ganz andere Namen und andere Geburtsdaten hatten. Vielleicht arbeiteten sie nur bei einer Firma, die dann aber auch nicht Schmiedl hieß, sondern höchstens einen Namen hatte, in dem ein Sch vorkam.