Der Gesang des Satyrn. Birgit Fiolka

Читать онлайн.
Название Der Gesang des Satyrn
Автор произведения Birgit Fiolka
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748591832



Скачать книгу

gebracht werden!

      Idras brachte Neaira ins Badehaus, wo sie sich am Louterion waschen und danach den weißen Chiton mit dem Silbergürtel anziehen musste.

      „Sieh zu, dass du nicht zuviel duftendes Öl benutzt und auch keine Schminke. Die Männer mögen den natürlichen Duft und die ungekünstelte Schönheit junger Mädchen.“ Idras schickte ihr eine der Haussklavinnen, die Neaira half ihr Haar zu richten und einen durchsichtigen weißen Schleier über ihren Kopf und halb vor das Gesicht zu legen. Dann musste sie allein in ihrem Zimmer warten und sah durch den Spalt über ihrer Tür, wie die Sonne wanderte, ihre Strahlen von Gelb zu Orange und schließlich zu Rot wechselten und schließlich ganz verschwanden. Die Sklaven gingen im Haus umher und entzündeten die Lampen und Feuerbecken. Neaira vernahm die Schritte der ankommenden Gäste vor ihrer Tür und stellte sich vor, wie Satyrn Nikaretes Andron betraten, ihre Pferdeschwänze auf die gepolsterten Klinen legten und dann die Mädchen auf ihren Schoß zogen. Der Lärm des Festes und das immer lauter werdende Lachen aus dem Andron ließen Neaira Vorstellungen entwickeln, die ihr das Schaudern ihrer Kindheit zurückbrachten. Tanzten sie dort, sangen sie, waren sie nackt? Sie wartete, betete und zitterte, während die Stunden dahinkrochen.

      Schritte vor ihrer Tür ließen Neaira am späten Abend zusammenzucken. Es war soweit – Nikarete kam, um sie anzubieten wie ein Stück Fleisch.

      Die Harpyie sprach nicht, als sie Neaira zunickte, und führte sie stattdessen die Flure entlang, immer dem Lärm entgegen.

      Es gab kein knisterndes Feuer, um das sie tanzten, und sie hatten auch keine Hörner. Sie lagen auf Klinen, nur mit einem Hüfttuch bekleidet, gefüllte Weinschalen in den Händen haltend. Doch das Andron hatte sich auf unheimliche Weise in den Wald verwandelt, der Neairas Kinderträume begleitet hatte. Wo waren die Sonnenstrahlen, die sie und Hylas beschienen hatten, wenn sie auf dem Mosaik gesessen hatten, wo war all das Licht hin? Das Andron hatte sich in einen Tummelplatz für Dionysos und seine Anbeter verwandelt. Vor den Klinen standen kleine Speisetische, auf denen Schalen, Weinamphoren und Leckereien lagen, Reste eines Festes, das nichts mit Herzensfreude zu tun hatte. Einige der Amphoren und Weinkelche lagen umgestoßen auf dem Boden wie Opfer für den Weingott, und die Platten mit Trauben und Früchten hatten sich bereits geleert. Es gab kein welkes Laub, das an Neairas Füßen raschelte, dafür zerdrückte Blüten überall auf dem Boden um die im Halbkreis angeordneten Klinen. Es roch nach Schweiß und welken Blumen. Fünf Männer waren noch da. Sie ruhten mit weinschwangerem Blick auf den Klinen und prosteten sich lautstark zu als Nikarete ihnen Neaira vorführte.

      „Ich hoffe unser langes Warten hat sich gelohnt. Du hast uns eine Überraschung der besonderen Art versprochen. Wir haben getrunken, geredet und Dionysos geehrt. Enttäusche uns nicht“, lärmte einer, dessen Bart und Haar bereits von grauen Strähnen durchzogen war, woraufhin die anderen in lautes Gelächter verfielen.

      „Habe ich euch denn jemals enttäuscht, ihr edlen Bürger und Herren?“ Nikarete tat beleidigt, denn sie wusste, dass es ihr Spiel war, das hier gespielt wurde - das Spiel, auf das sie sich verstand. „Dies ist mein bestgehütetes Geheimnis, die liebste meiner Töchter!“

      „Noch eine Tochter, Nikarete? Du hast in deiner Jugend wohl fleißig die Beine gespreizt.“

      Neaira horchte auf. Woher kannte sie diese Stimme? Warum war sie ihr so vertraut wie ein besonders nachhaltiger Traum? Sie kannte die Antwort, ehe sie das Gesicht des Mannes sah. Er war schön und hatte durchdringende Augen. Er war es! Er, der ihr vor Jahresumläufen das rote Band in die Hand gedrückt hatte ... der Satyr, der sie in ihren Träumen heimgesucht und aufgefordert hatte, mit ihr zu tanzen. Fürchtest du dich? Hast du Angst, kleine Neaira? Sie fürchtete sich, und sie hatte Angst! Würde er sie heute an sich zerren und das einfordern, wofür sie damals zu jung gewesen war?

      „Edler Phrynion, gerade du müsstest verstehen, was Leidenschaft ist.“

      Er, der Satyr, hatte einen Namen, und dieser brannte sich ebenso in Neairas Kopf wie alles andere von ihm – seine Stimme, seine Blicke, sein schmales Lächeln. Er war Phrynion, der Satyr. Würde er sie in dieser Nacht zum Tanzen auffordern? Nikarete schob sie weiter vor, zu einem Feuerbecken hin, dessen Flammenschein Neaira umschmeichelte. „Seht meiner schönen Tochter in die Augen und sagt mir, ob sie etwas Besonderes ist.“

      „Sie ist doch noch ein Kind ohne Reize.“ Der, der es gesagt hatte, der Älteste von ihnen, wusste, wovon er sprach, denn er hätte ihr Vater oder sogar Großvater sein können. Nikarete zog ihr den Schleier mit fließender Handbewegung vom Gesicht. „Lass die Herren dein wunderschönes Gesicht sehen.“

      Mein Gesicht ist ein Fluss voller Tränen, hallte die Strophe eines alten Liedes in Neairas Kopf, das die Mädchen oft im Hof sangen, während sie Wolle spannen. Dann war es still. Sie hob den Kopf und bot ihnen ihr bloßes Gesicht dar, damit sie es mit Blicken verschlingen konnten. Augenpaare ruhten auf ihr, betasteten ihren Körper, drangen durch ihr dünnes Gewand ...

      „Bei Zeus, ein wirklich schönes Kind! Gerade als hätte Aphrodite selbst sie geboren.“ Es war derjenige, der an ihren Reizen gezweifelt hatte und dem jetzt alle beipflichteten, nickend und andächtig schweigend.

      „Kein Kind, edle Herren, Neaira ist mannbar! Ihr habt ein scharfes Auge, ihr Herren. Sie ist in der Tat ein Geschenk der Aphrodite. Wer von euch hat je Vollkommeneres erblickt?“ Die Harpyie pries Neairas Vorzüge als böte sie ein edles Geschmeide oder ein feines Tuch feil. Zungen leckten sich Wein von den Lippen, Hände drehten unruhig Weinschalen. „Seht sie euch an“, flüsterte Nikarete. „Wie flüchtig ist der Augenblick von Unschuld und Jugend. Wer würde sich nicht in Schulden stürzen, um diesen Blütenkelch zu öffnen?“

      „Ich zahle dir fünf Mina für sie!“ Das Gebot schien die Harpyie nicht zu beeindrucken, denn sie schüttelte den Kopf. „Willst du mich beleidigen?“

      „Sechs Mina!“

      Wie viel waren sie bereit für ihre Gier zu zahlen? Phrynion mit dem gefälligen Äußeren, dessen Augen so seltsam eindringlich schauten, schwieg. Neaira fragte sich, ob er sie erkannt hatte oder vielleicht gar denselben Traum geträumt hatte wie sie vor vielen Jahren. Waren seine Blicke begehrlich, gierig oder gelangweilt? Sie konnte es nicht sagen. Er war zu geheimnisvoll, als dass sie es hätte erkennen können. Fast war Neaira versucht Aphrodite darum zu bitten, dass er es wäre, der sie heute Nacht zum Tanzen aufforderte. Aber sie beschloss, dass es unwichtig war, wer von den Herren sie bekam. Es gab keinen Paris und keine Helena. Nicht hier, nicht jetzt ... nirgendwo!

      „Zehn Mina!“

      „Ich gebe dir zwölf für sie!“, überschlugen sich die Stimmen - und noch immer schwieg der Satyr Phrynion und beteiligte sich nicht an den Geboten.

      „Ein Talent!“ Wiederum derjenige, der Neaira ein reizloses Kind genannt hatte, forderte jetzt diesen einmaligen Tanz mit ihr.

      „Du bist ein Kenner, Xenokleides. Nicht nur deine Worte sind Poesie, auch dein Geschmack! Nun, ihr Herren, wollt ihr überbieten?“

      Konnten Harpyien singen? Neaira meinte, dass diese es konnte, wenn man ihr nur genug Geld bot - und der Preis, den Xenokleides geboten hatte, war unerhört hoch.

      „Ein Poet mag er sein, jedoch kein guter Geschäftsmann, wie es bei den meisten Schöngeistern so ist. Ich warte lieber, bis ihr Kelch geöffnet ist und der Preis erschwinglich.“ Sie lachten, sie nickten, sie waren sich einig. Phrynion schwieg sich weiter aus. Warum fühlte sie sich von ihm betrogen, und warum sah er sie noch immer an? Einen Augenblick schien Neaira ihre Gedanken nicht verbergen zu können, denn er verzog seinen Mund zu diesem schmalen Lächeln, von dem sie nicht wusste, was es bedeutete.

      „So ist es abgemacht.“ Nikarete versetzte ihr einen unmerklichen Schubs in den Rücken und drängte sie vor sich her, hinaus aus dem Andron und hinein in einen Raum, der mit einer Schlafkline und üppigen Polstern ausgestattet war. „Ein Talent; wer hätte das gedacht. Xenokleides hat ein Vermögen für dich bezahlt.“ Mit der Sorgsamkeit eines Raubvogels sah sich Nikarete um, überprüfte noch einmal die Polster und nickte dann zufrieden.

chapter5Image2.jpeg