Der Gesang des Satyrn. Birgit Fiolka

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Название Der Gesang des Satyrn
Автор произведения Birgit Fiolka
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748591832



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kenne das Balg überhaupt nicht, Herr.“

      Neaira erkannte, dass sie einem Irrtum unterlegen war. Die Frau mit der grellen Schminke, deren Mund jetzt nervös zuckte, war nicht ihre Mutter – und doch trug sie deren Sandalen! Die fremde Frau drückte sich gegen die Häuserwand und musterte Neaira ohne großes Mitgefühl, während der Fremde mit erhobener Hand auf sie zukam. Neaira fühlte sich in ihrem Empfinden aus Entsetzen und Enttäuschung so gelähmt, dass sie die Augen schloss. Plötzlich vernahm sie die Stimme Idras hinter sich. Gefolgt von Metaneira schob sie ihre Furcht einflößenden Körpermassen auf sie zu. Auf ihrer Stirn glänzte Schweiß. „Halte ein, Herr! Sie ist mir entwischt, diese undankbare Sklavin. Ich werde sie grün und blau schlagen, das verspreche ich dir! Sie ist der Besitz der Herrin Nikarete.“

      Tatsächlich ließ der Mann die Hand sinken, und Neaira fühlte sich von Idras im Nacken gepackt wie ein Hase. Beinahe bedauerte sie, dass nicht der Fremde ihr die Trachtprügel verabreichen würde. Niemand konnte schlimmer zuschlagen als Idras – soviel stand fest.

      „Pass besser auf sie auf oder meine Kameraden und ich werden künftig ein besonderes Augenmerk auf das Haus deiner Herrin legen“, rief er verärgert und hielt die Hand auf, in welche ihm Idras großzügig zwei Obolen zahlte. Sein überlegener Auftritt ließ keinen Zweifel daran, dass er sein Versprechen wahr machen würde. „Es tut mir sehr leid, Herr! Ich bitte noch einmal um Verzeihung.“

      Er murmelte einen leisen Fluch und bedachte Neaira mit einem letzten bösen Blick, bevor er ein wegwerfendes Zeichen in Idras Richtung machte, damit sie endlich verschwand. Idras ließ sich nicht zweimal bitten und schleifte die sich heftig wehrende Neaira fort. Erst als sie ein ganzes Stück hinter sich gelassen hatten, griff Idras nach ihrem Stock. Schützend legte sich Neaira die Hände vor ihr Gesicht. Metaneira gab einen flehenden Laut von sich. „Idras, bitte schlag sie nicht. Es waren die Sandalen! Sie dachte, die Frau wäre ihre Mutter.“ Sie wandte sich an Neaira. „So ist es doch, nicht wahr?“

      Schnell nickte Neaira und klammerte sich an Metaneiras Hand.

      „Sie hat die Herrin zwei Obolen gekostet und beinahe Ärger eingebracht. Mit den jungen heißspornigen Stadtwachen legt man sich besser nicht an! Zudem hat sie die Stoffe fallen lassen, die nun verloren sind, weil ich so schnell hinter ihr herlaufen musste. Meine Herrin war großzügig und hat ihr eine Aussicht auf ein besseres Leben geboten, und so dankt diese kleine Mänade es ihr. Ich habe ihr gesagt, dass dieses Mädchen nur Ärger machen wird, bei den Göttern! Solche Mädchen sind nicht gut ... solche, die mit den Augen lügen können!“ Wieder schickte sich Idras an, mit dem Stock auszuholen.

      „Bitte Idras!“ Metaneiras Augen flehten geradezu. „Es ist meine Schuld.“ Sie machte eine kurze Pause und holte tief Luft. Neaira konnte sehen, dass ihre Freundin Angst hatte weiterzusprechen. „Ich habe ihr doch gar nicht erzählt, was man von ihr erwartet. Sie ist noch so jung.“

      Idras Zorn wandte sich gegen Metaneira. Sie versetzte dem Mädchen drei schnelle, jedoch harte Schläge, unter denen es sich krümmte. „Du nutzlose Sklavin! Hatte die Herrin dir nicht befohlen, das Mädchen vorzubereiten? Ein ganzes Jahr ist wegen dir verloren. Möge der Tartaros dich vor deiner Zeit verschlingen!“

      „Es tut mir leid, so furchtbar leid“, stammelte Metaneira, während Neaira sich ängstlich an sie klammerte. Idras schob ihren Weidenstock zurück in den Gürtel.

      „Soll die Herrin über eure Strafen entscheiden.“ Sie packte beide Mädchen am Handgelenk und zog sie zurück zur Agora. An einen weiteren Einkauf war nicht mehr zu denken. Die Schwarze schleppte sie auf direktem Weg zurück in die Gasse der Tuchhändler und ließ sie nicht mehr aus den Augen. Neaira wusste, dass ihre Flucht gescheitert war. Idras stieß sie über die Schwelle der roten Tür und verschloss diese sorgfältig und unwiderruflich.

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      Zurück in ihrer Unterkunft, ließ Metaneira sich müde auf ihr Schlafpolster fallen und zog Neaira an sich. Idras hatte ihnen gedroht sie beide zu verprügeln, wenn sie es wagen sollten ihr Zimmer zu verlassen. Vor allem Metaneira erschrak bei jedem Geräusch, das auf dem Hof zu hören war. Als längere Zeit nichts geschah, beruhigte Metaneira sich. „Neaira, ich bin so dumm. Ich wollte dich beschützen, weil ich dich lieb habe. Doch ich habe sowohl dir als auch mir selbst nur Unglück gebracht.“

      Sie umschlang Neaira mit den Armen und drückte sie an sich. „Du musst mir jetzt sehr gut zuhören, meine Kleine. Ich weiß nicht, ob Nikarete uns noch länger zusammenlässt.“

      Neaira löste sich aus der Umarmung und starrte ihre Freundin mit vor Schreck geweiteten Augen an. „Aber ... sie darf uns nicht trennen! Die Mänaden und die Satyrn ... alle Waldgeister des Dionysos werden über mich herfallen.“

      Metaneira hob die Brauen und wollte von Neaira wissen, was sie damit meinte. Schließlich nahm Neaira all ihren Mut zusammen und erzählte der Freundin von ihren Ängsten und den Dingen, die sie herausgefunden hatte. Zu ihrer Überraschung schien Metaneira jedoch nicht verängstigt, sondern begann zu lachen. Als sie erkannte wie entsetzt Neaira über ihr Lachen war, wurde Metaneira ernst und erzählte Neaira die Wahrheit über das Haus, in dem sie lebten. Je mehr Neaira darüber hörte, desto weniger gefiel es ihr. Sie suchte nach der geheimen Tür ihrer Gedankenwelten, um dahinter zu verschwinden, doch Metaneira ermahnte sie zuzuhören. Sie erzählte Neaira von Männern, die Nikaretes Haus besuchten, um mit den Mädchen zu trinken und sich mit ihnen zu vergnügen. „Mit dem Ding, was sie zwischen den Beinen haben“, fügte sie erklärend hinzu.

      „So wie die Hunde auf der Straße?“, fragte Neaira, die sich voller unguter Gefühle daran erinnerte, dass auch Satyrn dieses Ding besaßen, ebenso wie Esel und Pferde.

      „So ähnlich.“

      „Aber was ist dann der Unterschied zwischen ihnen und den Satyrn?“

      Metaneira strich ihr über das Haar als müsse sie ernsthaft über die Frage nachdenken. „Sie sind nicht so hässlich, und sie sind keine bösen Geister.“

      Neaira überzeugte das alles nicht. Die Geräusche und die Schreie, die sie in den Nächten gehört hatte, erinnerten sehr wohl an böse Geister! Nach vergnüglichen Festen hörte sich das nicht an. Dann dachte sie an die Frau, die sie für ihre Mutter gehalten hatte.

      „Sie war eine Porne, eine Straßenhure, die sich für Geld den Männern anbietet.“

      „Und warum hat sie die Sandalen meiner Mutter getragen - die mit den Mustern?“ Alles, was Metaneira sagte, erschien Neaira immer weniger überzeugend.

      „Das hat sie ja gar nicht, Kleines. Viele von ihnen tragen solche Sandalen, in denen Nägel stecken, die Worte in den Sand zeichnen. Damit fordern sie die Männer auf, ihnen zu folgen.“

      „Meine Mutter hat das auch getan?“, schrie Neaira entsetzt auf.

      Metaneira erkannte, dass sie vielleicht besser geschwiegen hätte und bedachte Neaira mit einem mitleidigen Blick. Anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet, dass Neaira noch nicht einmal das gewusst hatte. „Tut mir leid, Kleines. Aber du und ich, wir müssen nicht so sein wie diese Frauen oder wie Stratola. Nikarete lässt nur die reichen Männer zu den Mädchen, die sie ihre Töchter nennt.“

      Neaira tröstete das wenig. Ihre Kinderwelt war im Begriff zusammenzufallen. Langsam begann sie zu begreifen, dass ihre Mutter sie mit Absicht bei Nikarete gelassen und niemals vorgehabt hatte, sie abzuholen. Diese Erkenntnis schmerzte beinahe mehr als sie zugeben wollte. Neaira fühlte sich von ihrer Mutter verraten.

      „Du musst lernen, den Männern zu gefallen“, hörte sie Metaneira wie durch einen dichten Nebelschleier auf sie einreden. „Nur das bewahrt dich davor, so zu werden wie deine Mutter oder die Frau auf der Straße.“

      Dann hörten sie Idras watschelnde Schritte näherkommen. Metaneira rüttelte Neaira an den Schultern. „Versprich mir, dass du alles dafür tun wirst nicht so zu werden wie diese Frauen!“

      Neairas Zähne klapperten aufeinander, so fest schüttelte