Der Gesang des Satyrn. Birgit Fiolka

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Название Der Gesang des Satyrn
Автор произведения Birgit Fiolka
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748591832



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laufen fort – wie Paris und Helena“, schlug Neaira vor.

      „Wir sind Sklaven, wohin sollten wir denn gehen?“ Zärtlich fuhr seine Hand über ihre Brust und verharrte dort. „Bei der schönen Aphrodite, Neaira! Ich kann nicht mehr denken. Du hast mich verzaubert.“

      „Lass uns fortlaufen, Hylas. Egal wohin, nur weg von hier“, bettelte sie.

      Hylas fuhr über ihr Haar, dann sanft ihren Hals entlang. „Wir wären überall nur Sklaven. Überall wäre es wie hier!“

      „Nein!“, drängte Neaira ihn. „Denn wir wären zusammen - wie Paris und Helena!“

      „Du kennst doch die Welt da draußen gar nicht, du bist noch so jung ... so unschuldig.“

      „Aber du kennst doch die Welt, Hylas. Wenn ich bei dir bleibe, kannst du mich beschützen.“

      Ihre Worte schmeichelten ihm, sodass er nachgab. „Vielleicht gibt es jemanden, der mir Geld gibt, sodass ich uns freikaufen kann. Dann wären wir freigelassene Sklaven - Metöken, Fremde zwar in Korinth, aber frei.“ In seine Augen trat ein Hoffnungsschimmer, und dieser genügte Neaira, auch ihr Hoffnung zu geben. Sie ließ sich in seine Arme fallen und Hylas geflüsterte Liebesschwüre in ihr ausgehungertes Herz rinnen. Eine Stunde bevor die Sonne aufging lösten sie sich voneinander. Nach ihrem Entschluss wussten sie beide ohne es ausgesprochen zu haben, dass die zerbrechliche Hoffnung auf Freiheit allzu schnell durch Unvorsichtigkeit zunichtegemacht werden konnte.

      Sie bemühten sich in der folgenden Zeit darum, ihre Gefühle füreinander nicht zu zeigen, vor allem wenn Idras oder Nikarete ins Andron kamen. Als sie wenige Tage später allein waren, fragte Neaira Hylas, ob er schon das Geld für ihre Freilassung hätte, woraufhin er den Kopf schüttelte. „Der Mann, den ich fragen will, ist noch nicht wieder ins Haus gekommen. Wir müssen warten.“

      Es fiel Neaira immer schwerer zu warten, doch was blieb ihr anderes übrig. Verstohlen legten sie ihre Hände ineinander, wagten jedoch nicht, sich noch einmal auf dem Hof zu treffen. Hylas erzählte Neaira wundervolle Dinge - von einem kleinen Haus, das er bauen würde, von einem Brautbett mit einem weißen Laken, auf das er sie legen wollte. Fürchtest du dich, kleine Neaira?, fielen ihr die Worte aus ihrem Traum wieder ein. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Vor Hylas fürchtete sie sich nicht. Sie sehnte den Tag herbei, an dem er sie auf ein Brautlager legen würde.

      „Er wird heute Abend kommen“, flüsterte Hylas ihr endlich zu, als sie an einem goldenen Herbsttag im Andron saßen. Mittlerweile beherrschte Neaira einfache Sätze, und sie schrieb aufgeregt weiter, während Hylas so tat als würde er ihre Schreibarbeiten überwachen. Die Schwarze schnarchte in der Ecke auf einem Stuhl, sodass sie kaum wagten zu sprechen. Neaira schob Hylas ihre Wachstafel zu, und er lächelte, als er ihre ungelenken Buchstaben las. Morgen vielleicht frei, hatte sie in Kritzelschrift ihren mageren Wortschatz zusammengeklaubt.

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      Es war ein Tag süß wie Spätsommertrauben, an dem Neaira und Hylas sich gegenübersaßen und verliebte Blicke tauschten. Er hätte nicht schöner, lichter und heiterer sein können.

      „Er kauft uns frei“, hatte Hylas ihr zugeflüstert, wobei in seinen Augen wieder einmal unzählige Sterne zu tanzen schienen. Neaira konnte kaum glauben, dass es so einfach sein sollte. Doch Hylas schien sich seiner Sache sicher zu sein. Selbst Neairas ungeübte Hand schien über die Wachstafel zu fliegen, nachdem sie wusste, dass nun alles gut werden würde. Bald läge der Schrecken dieses Hauses hinter ihnen. Vorsichtig suchte Neaira Hylas Hand, und sie verschlangen ihre Finger ineinander.

      Plötzlich flog die Tür auf, und Idras stampfte ins Andron wie ein wütender Stier. Einen Augenblick zu spät zog Neaira ihre Hand zurück.

      „So ist es wahr. Die kleine Mänade und der hübsche Sklave!“ Idras zog ihren Stock hervor. Doch anstatt Neaira zu verprügeln, hieb sie auf Hylas Rücken ein. Neaira hatte noch nie gesehen, dass Idras einen der Sklaven geschlagen hatte. „Lass ihn, Idras. Er hat nichts getan!“ Doch Idras beachtete sie nicht - sie schlug weiter, während Hylas sich krümmte, aber nicht wagte sich gegen die Schläge zu wehren. Neaira konnte nicht mehr mit ansehen, wie die Schwarze ihn verprügelte. Sie griff nach dem Stock in Idras Hand, was zur Folge hatte, dass auch sie ein paar gezielte Schläge auf die Arme abbekam. Während Neaira über ihre schmerzenden Arme rieb, trieb die schwarze Sklavin Hylas vor sich her wie eine Ziege. „Hylas“, rief Neaira verzweifelt. Doch er wagte es nicht, sich nach ihr umzusehen. Spätsommertrauben, die von der Sonne zu lange geküsst wurden, schmecken bitter, kam Neaira eine Schrift über Weinanbau in den Sinn, die sie unter Hylas aufmerksamen Augen mit Mühe hatte entziffern können. Sie ahnte, dass die warmen Sommernachmittage mit Hylas vorüber waren.

      4. Kapitel

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       Mannbar

      

      Die Ohrfeige der Harpyie traf Neaira hart im Gesicht. Sie zuckte nicht zurück, obwohl sie meinte, dass die Male von Nikaretes Hand für immer auf ihrer Wange brennen müssten.

      „So ist es wohl wahr, das Mädchen ist mannbar.“ Nikaretes Züge waren wie Stein.

      „Sie blutet noch nicht, Herrin, das hätte ich bemerkt. Ich lasse die Sklavinnen ihre Laken durchsehen.“ Das war Idras gewesen, die ihre dicken Arme vor der Brust verschränkt hatte.

      Neaira trat von einem Bein auf das andere, während sie daran dachte, dass sie gerade noch die Wärme eines Spätsommertages gespürt hatte. Wie konnte es auf einmal so kalt werden, wie konnte alles Schöne in nur einem einzigen Augenblick zerstört werden?

      „Was macht es schon, dass sie nicht blutet? Sie hat sich in die Arme eines Sklaven geworfen, also kann sie sich auch in die Arme anderer Männer legen.“ Erbarmungslos trafen die Worte der Harpyie Neairas Verstand.

      „Hat er dich gehabt?“, forderte Nikarete zu wissen.

      Neaira starrte auf die beringten Finger der Harpyie und auf ihren rot geschminkten Mund. Verstohlen sah sie hinüber zum Beistelltisch neben dem Stuhl, auf dem ein kleiner Dolch lag, mit dem Nikarete Wollfäden durchtrennte. Wie wäre es wohl, mit diesem Dolch Nikaretes Lebensfaden zu durchtrennen, sie einfach auszulöschen - ebenso wie Nikarete diesen glücklichen Tag einfach ausgelöscht hatte! Mit Gewalt zwang Neaira sich zur Besinnung zu kommen, damit Nikarete und die Schwarze ihre Gedanken nicht errieten. „Er hat mich nicht angerührt“, gab sie stattdessen zu.

      „Ich hoffe für dich, dass du mich nicht anlügst, denn ich würde erfahren, wenn er es doch getan hat. Dann lasse ich dich auf den Hof bringen und mehr Männer über deinen Körper rutschen, als du zu zählen vermagst.“ Sie war misstrauisch, die alte Harpyie. „Ich habe dir Freiheit gewährt und war großzügig – und das ist der Dank!“

      Idras kam und packte Neaira am Arm.

      „Heute Abend wird sie den Herren vorgestellt“, bestimmte Nikarete. „Also sorge dafür, dass sie hübsch ist.“

      Die Schwarze nickte, und Neaira ließ sich von ihr fortzerren, hinaus aus dem Andron. Ihre Knochen schienen schlaffe Binsenstängel zu sein. Ohne aufzubegehren, ließ sie sich von Idras in ihr kleines Zimmer schleifen, wo Neaira sich auf ihr Bett setzte und die Wand anstarrte.

      „Hör zu, was ich dir sage.“ Idras gab ihr eine Ohrfeige - die zweite an diesem Tag. „Der heutige Abend wird nicht schwer für dich werden, denn die Herrin wird dich erst spät holen lassen, wenn nur noch einige wenige Gäste im Haus sind. Es werden Gäste sein, deren Geldbeutel so schwer ist, dass es ihnen danach verlangt ihn zu erleichtern, ebenso wie den Beutel zwischen ihren Beinen.“ Ungeduldig kramte Idras in Neairas Truhen und fand, was sie suchte; einen weißen Chiton und einen Silbergürtel. „Sei nicht aufreizend oder