Название | Gelbfieber |
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Автор произведения | Thomas Ross |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742722485 |
Die Zeitfahrweltmeisterschaften waren ein ideales Forum für neue Einsichten. Machen wirʼs kurz: Ben, der bis dato im fünften Jahr konkurrenzlose König des Zeitfahrens, wurde entthront, und dies in einer Art und Weise, die sich am ehesten mit den politischen Gepflogenheiten der frühen Neuzeit vergleichen lässt. Am Start ließ Mulligan sie aufziehen, auf halber Strecke gab er Zeichen, die Guillotine zu lösen. Bens Kopf trennte sich sauber von Hals und Rumpf und schlug am Zielstrich so hart auf, dass der kampferprobten Zuschauermenge ein Aufschrei des Entsetzens entfuhr. Eine Minute dreißig Rückstand auf Mulligan, es war ein Desaster und eine Offenbarung zugleich.
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Im Winter stellte Ben die Ernährung um. Der Trainingsplan wurde modifiziert, die Medikation auf die neuen Anforderungen abgestimmt. Man beabsichtigte, an Bens Infektanfälligkeit zu arbeiten, einem alten Übel, das bislang nicht in den Griff zu bekommen war. Mulligan hingegen wurde auffällig selten krank, und wenn es doch einmal passierte, vergingen keine drei Tage, bis der Meister wieder seine Runden drehte, freundlich in die Kameras lächelnd. Alles in allem hatte Ben gegenüber Mulligan mehrere Wochen an Vorbereitungszeit verloren, aber das sollte sich nun ändern.
Ben war in diesem Frühjahr sichtlich früher in Form gekommen als in den vergangenen Jahren. Die Leistungsdaten waren im März bereits so gut wie sonst um Mitte Mai. Die ganze Mannschaft freute sich darüber und selbst Waitz setzte ein wohlwollendes Gesicht auf, ein Vorkommnis mit Seltenheitswert seit dem Vorfall in der Nacht nach Bens Niederlage am Tourmalet.
Der Mannschaftsarzt riet zur Vorsicht, man dürfe nicht überreizen und müsse das Erreichte nun konservieren. Die Angst vor der Frühform war unter den Fahrern weit verbreitet. Man fürchtete den frühen Vogel, der den Wurm dann doch nicht fing und am Ende im Rachen der Katze landete.
Der Schlachtplan sah vor, dass sich die beiden Kontrahenten möglichst lange aus dem Weg gingen. Zur Vorbereitung der Tour fuhr Mulligan die Dauphinée, Ben meldete beim Giro dʼItalia und bei der Tour de Suisse. Mulligan wurde Dritter bei der Dauphinée mit drei Minuten Rückstand, Ben stieg nach einem starken Zeitfahren und zwei guten Bergen aus dem Giro aus. Das letzte Ausrufezeichen setzte Ben mit seinem Sieg bei der Tour de Suisse. Ein bärenstarkes Zeitfahren und ein guter Berg hatten den Ausschlag gegeben. Jetzt konnte es losgehen.
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Eine Woche vor Beginn der Tour brachte Ben eine dreiviertel Stunde lang 6,7 Watt pro Kilogramm Körpergewicht auf die Pedale. (Zur Klärung: Bezogen auf eine halbe Stunde leisten Hobbysportler durchschnittlich 2,5 bis 3,5 Watt pro kg Körpergewicht, gute Amateurfahrer schaffen um fünf, Profis sechs Watt. Werte um 6,5 Watt und darüber hinaus sind auch für Profis außerordentlich hoch. Auf Bens Körpergewicht von siebzig Kilogramm gerechnet ergaben sich 470 Watt.) Angesichts der guten Leistungsdaten ging das Problem der anhaltenden Informationsflaute aus dem gegnerischen Lager, die trotz intensivster Spionagetätigkeit nicht enden wollte, in der allgemeinen Euphorie unter, vor der die Vorsichtigen im Team zwar mahnend den Finger hoben, ihr im Grunde aber ebenso erlagen wie alle anderen. Es war an der Zeit, den König wieder auf Thron zu setzen. Das sah man im Volk so und im Team war es nicht anders.
Die gute Stimmung sollte noch eine ganze Weile anhalten, denn das Rennen begann ausgesprochen gut. Drei Etappensiege noch vor den großen Bergen, das konnte sich sehen lassen. Ben hatte beim Anziehen der Sprints mitgeholfen, und es stand außer Zweifel, dass seine Selbstlosigkeit einer ausgezeichneten Form zuzurechnen war. Weder Mulligan noch Pellegrini oder Carlos waren bis dahin sonderlich in Erscheinung getreten. Auch sie hatten ihre Sprinter fahren lassen, es siegten andere, die Unauffälligkeit der Stars nahm man für ein gutes Omen.
Irgendwann begann die Tour langweilig zu werden. Niemand wollte sich eine Blöße geben. Schließlich gewannen Leute, die dem Papier nach nicht hätten gewinnen dürfen, und alle fieberten dem Augenblick entgegen, wenn es endlich losgehen würde und die Favoriten zeigten, was sie wirklich draufhatten.
Mont Ventoux, 17 Kilometer, 1600 Höhenmeter. Einer der berühmtesten Anstiege der Welt. Was waren an diesem Berg nicht für Schlachten geschlagen worden! Hier wurden Könige gemacht. Diesmal fand das Rennen an einem achtzehnten Juli statt, und gekrönt wurde der Mann, der als Drittplatzierter an den Start gegangen war: Johnny Mulligan. Die Art und Weise, wie Johnny diesen Anstieg behandelte, sollte Radsportfans noch auf Jahre feuchte Träume bereiten. Mit pfeilschnellem Tritt wuchtete er sein Sportgerät den Berg hinauf, hinein in die Spitzkehren, aus denen er sich herauskatapultierte und an den steilsten Stellen weiter beschleunigte, wo alle anderen Federn lassen mussten. Er erreichte das Ziel mit 75 Sekunden Vorsprung vor Ben, der nach einer sehr guten Leistung erneut Zweiter wurde. Zweiter, Zweiter, immer nur Zweiter! Es war erschütternd, denn Ben hatte sich völlig verausgabt, ja geradezu entäußert. Der Mannschaft blieb nichts anderes übrig, als die Überlegenheit des Gegners anzuerkennen. Die Götterdämmerung hatte endgültig eingesetzt, das Requiem für den Altmeister war angestimmt. Dabei war Ben kein Vorwurf zu machen. Sein Tritt war rund und flüssig und kraftvoll, wie immer war er im Sattel geblieben, und wäre da nicht Mulligan gewesen, man hätte der Kraft dieses Jungen einen Schrein gewidmet. Im Ziel blieb Ben nichts übrig, als mit unbeholfenen Worten seine Niederlage zu kommentieren, eine Niederlage, die unerklärlich war. Unerklärlich wie die Bitterkeit, die er mit vielen Zuschauern teilte. Woher aber kam die Bitterkeit, was war ihre Quelle? Trauer, Niedergeschlagenheit, Scham? Das alles trifft es nur zum Teil. Im Teamwagen und abends im Hotel war Schweigen, und das allzu offenkundige Fehlen von Auflehnung, die uns am Leben erhält, damit aus Hoffnung Zuversicht entsteht, ergriff als Offenbarungseid einer tiefen Hilflosigkeit das gesamte Team. Waitz und Liebermann waren wie gelähmt. Fassungslos starrten sie auf die Leistungsanalyse Mulligans, die kurz nach dem Abendessen hereingekommen war. Im letzten Drittel des Anstiegs hatte er durchschnittlich 485 Watt getreten, eine geradezu übermenschliche Leistung. Den Fahrern verging die Lust am Weiteressen, die Ärzte spielten mit nervösen Fingern an ihren Stiften, dann steckten sie die Köpfe zusammen, palaverten im Kriegsrat. Man räusperte und kratzte sich, brummte und raunte und ergab sich schließlich, in offener Bewunderung und Ergebenheit für den neuen Meister.
Ben zog sich unterdessen auf sein Zimmer zurück. Die Massage erfolgte in aller Stille, nach Reden war keinem zumute. Nachdem der Masseur gegangen war, knipste Ben das Licht aus und sank binnen Sekunden in die Tiefen eines traumlos weltverlorenen Märchenschlafs, der, wäre es nur möglich gewesen, hundert Jahre hätte anhalten dürfen.
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„Der irische Hammer schlägt zu“, „Mulligan demütigt Abraham!“, „Veni, Vidi, Mulligan“, „Mulligan entreißt Abraham die Krone des Radsports“. So titelten die Gazetten an diesem neunzehnten Juli 2012. Sie schrieben, dass Mulligan sich von in kurzen, harten Antritten von Abraham, Pellegrini und Carlos gelöst hatte, und von breiten Lücken zwischen ihm und den Verfolgern. Sie schrieben darüber, wie Mulligan sich umgedreht, den leidenden Abraham angesehen hatte. Von lässiger Überlegenheit im Blick des Iren war zu lesen, und davon, dass Abraham fröstelte unter seinem eisigen Hauch.
Abends noch rasten Bens Gedanken. Wie konnten sie wissen, ob ihn fröstelte, ob ihm heiß war oder kalt im Anblick Mulligans, wie konnten sie auch nur ansatzweise ermessen, wie er sich fühlte? In einem wütenden Impuls griff er nach der Nachttischlampe, er war wie ein Tier, das von einem Jäger gehetzt und in äußerste Not gekommen war. Vom Krach der zerschellenden Lampe beunruhigt, eilten zwei Mannschaftskollegen herbei, die, wie sie später berichteten, Abraham in einem grauenhaften Zustand vorfanden, das Gesicht verwelkt wie das eines sterbenden Alten. Den ratlosen Männern blieb nur der Rückzug, in diesem Zustand war dem Jungen nicht beizukommen.
Langsam beruhigte sich Ben, seine Gedanken ordneten sich. Wo waren die Ärzte? Noch war es nicht zu spät, noch war die Tour nicht verloren. Zwei, drei Gelegenheiten zur Revanche blieben noch, und die wollte er nutzen, koste es, was es wolle. Ben wollte in Gelb nach Paris, und er wollte es mehr als alles in der Welt, und wenn er seine Seele dafür opferte, das Gelbe Trikot war es wert und viel mehr noch als das.
Mit