Gelbfieber. Thomas Ross

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Название Gelbfieber
Автор произведения Thomas Ross
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742722485



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räumlichen Verhältnisse wenig mehr als fünf Quadratmeter Territorium blieb, worüber er hoheitlich verfügen konnte. Anders ausgedrückt: Die materiellen Verhältnisse des jungen Hoffnungsträgers waren bescheiden. Man lebte wie viele andere Familien in Deutschland, man lebte durchschnittlich. Durchschnittlich, was Vergangenheit, durchschnittlich, was Gegenwart, und durchschnittlich, was Zukunftsperspektiven betraf. 550 Mal Zähneputzen, 2.500 Stunden Schlaf, 220 Arbeitstage, zehn Haarschnitte und 110 Mal durchschnittlichen Sex im Jahr – das Einzige, was nicht in einem Atemzug mit dieser farblosen Durchschnittlichkeit genannt werden kann, ist die Neigung der Mutter zu einer das übliche Maß deutlich übersteigenden körperlichen Aktivität.

      Bens Mutter liebte das Schwimmen. Sie schwamm nicht schnell, aber technisch gut. Meistens tat sie es am Ostseestrand bei Warnemünde, wo man früher eigentlich immer hinging. In wirtschaftlich ergiebigeren Zeiten wurde die Ost- gegen die Nordsee getauscht, und schließlich setzte sie einen teuren Urlaub an der Adria durch. Und einmal fuhr die Familie sogar nach Spanien, wo die Mutter, die warmen Fluten wie ein Marlin durchkreuzend, prompt eine persönliche Bestleistung in fünfhundert Metern Meeresschwimmen aufstellte.

      Von der Mutter zurück zum Sohn. Die Entwicklung zum Weltstar begann an der Ostsee, an einem trüben, wolkenverhangenen Augusttag. Es wehte eine steife ablandige Brise und das Meer schlug hohe Wellen, sodass an lustige Badestunden gar nicht zu denken war. Drinnen regierte der Missmut und man blies Trübsal, bis Mutter den Vorschlag machte, man könne doch Fahrräder mieten, Wind hin oder her. Die Kinder waren Feuer und Flamme, der damals achtjährige Ben glühte vor Aufregung, denn was gibt es Größeres für einen gesunden und lebensfrohen Jungen, als sich den Unbilden der Natur entgegenzuwerfen? Der mürrische Vater hatte bald ein Einsehen, was blieb ihm außer Essen und Biertrinken – was der frühen Morgenstunde wegen nicht infrage kam – auch anderes übrig?

      Um die Ecke gab es einen Fahrradverleih. Die Räder waren nicht schlecht, der Verleiher uneigennützig. Der Mann gab die Räder für die Hälfte her, wohl ahnend, dass er mit dieser Familie die einzige Kundschaft des Tages bediente.

      Seiʼs drum, die Fahrt begann und es dauerte nicht lange, da hingen sie wie aufgeblähte Segel im Wind, Vater und Mutter voraus, die Kinder hintendrein. Letzteren wurde es im Schlepptau der Eltern bald langweilig und was lag da näher, als ein Wettrennen zu veranstalten. Ein Sprint sollte es sein, bis zum Leuchtturm, der sich in der Ferne schemenhaft im Hochnebel zeigt. Die arme Schwester fiel bald zurück, doch Ben hielt lange mit, erst auf den letzten Metern musste er den älteren Bruder vorlassen. Tatsächlich ist fraglich, ob er es wirklich „musste“; Fakt ist, dass der große Bruder den Leuchtturm als Erster erreichte. Gleich am nächsten Tag fand wieder ein Wettbewerb statt: Der Sieger im Wettstreit um die Krone des schnellsten Inselumrunders musste ermittelt werden. Fünfzehn Kilometer waren das, davon die eine Hälfte gegen, die andere mit Seitenwind, was stets aufs Gleiche kommt. Man hat Mühe, die Spur zu halten, so oder so.

      Zur Erklärung seines bescheidenen Resultats mag man dem Vater Lustlosigkeit unterstellen, mit etwas Wohlwollen war es kalkulierte Nachsicht den Jungen gegenüber; festzuhalten bleibt, dass der Vater bei Kilometer acht beinahe vom Rad fiel, sich fünfhundert Metern weiter völlig entkräftet auf einer feucht bemoosten Bank niederließ und wie ein Ackergaul die Nüstern blähend beleidigt aufs Meer starrte. Thilo und Ben klebten indes bis rund vier Kilometer vor dem Ziel Rad an Rad. Dann ließ der frustrierte Ältere, dem man im Moment der Niederlage leider keine große Geste zugutehalten kann, den stolzen Kleinen ziehen; aber das Erstaunliche ist, dass Ben es nicht einmal merkte, wie die Mitstreiter hinter ihm zurückblieben. Seine Beine traten wie von selbst im Rhythmus eines gut gewarteten Uhrwerks, der Atem ging ruhig und tief im Takt des surrenden Zahnrads. Mit leuchtenden Augen flog er dem Turm entgegen, der sich schnell aus dem trüben Dunst herausschälte.

      Die Unterlegenen genossen bereits ihr Abendbrot, als Ben, dem man angesichts der eindrücklichen Ereignisse für die restliche Tagesplanung freie Hand gelassen hatte, mit noch immer leuchtenden Augen ins Zimmer trat.

      Nicht selten kommt Bens Mutter noch heute auf diesen Moment zu sprechen. Nie wird sie das Feuer in den Augen ihres Jungen vergessen, die sonnenhelle Aura dieses Achtjährigen, der seine Bestimmung gefunden hatte. Ein neuer Stern war geboren.

      Rennräder waren teuer. Die Eltern kauften ein gebrauchtes Tourenrad. Für den Jungen warʼs mehr als genug. In den Wochen nach dem denkwürdigen Urlaub fehlte eine Person im Haushalt. Die Mutter spricht vom verlorenen Sohn, mit Wehmut im Blick und Stolz in der Stimme. Sie hatte ihn ans Radfahren verloren, sagt sie, dann kommt die Anekdote, wie eines Tages, die Familie war bereits in den Westen gezogen, das Telefon klingelt und eine aufgeregte Stimme „Mama!“ schreit, „Mama, kannst du mich abholen, ich habe einen Platten!“ Aber Mama denkt nicht dran, selbst schuld, denkt sie, heute Mittag ist Einkaufen dran und dann Schwimmen und am Abend Freilufttheater im Schlosshof.

      „Na, du wirst schon selber heimkommen“, sagt sie, „steig halt in den Bus.“

      „Aber ich bin doch in Hinterzarten!“

      Der Mutter gleitet der Hörer aus der Hand.

      Hinterzarten!? Das ist mitten im Schwarzwald, hundertfünfzig Kilometer weit weg.

      Sie glaubt, der Junge macht Witze, aber die Sache ist ernst. Sie wird den Sohn mit dem Auto abholen müssen, denn für die Zugfahrt reicht sein Geld nicht. Am Ende erbarmt sich der Vater und es setzt eine Ohrfeige und eine ordentliche Standpauke. Den Jungen rührt es kaum, denn in seinem Herzen brennt ein Feuer, heiß und unauslöschlich.

      In diesen Tagen spüren Vater und Mutter erstmals Sorge um die schulische Entwicklung ihres Jungen. Der Junge glüht auf der Straße und sonst nirgendwo, sein Feuer brennt im Wind, es brennt am Berg, und Kilometer sind der Zunder. Abseits des Sports ist für Ben abseits des Lebens, so scheint es ihnen, woraufhin sie einen Entschluss fassen. Die Leidenschaft ihres Sohnes muss gebändigt, in rechte Bahnen gelenkt werden. Die Eltern als Feuerwehr im Kampf gegen die Ausbreitung eines Flächenbrands. Gute Noten gegen eine Anmeldung im Radsportclub, so lautete der Vertrag, der dieser Tage zwischen Eltern und Sohn geschlossen wurde. Eingehalten wurde er indes nicht lange, wobei es bis heute unmöglich bleibt zu bestimmen, wann und auf welche Weise die Vereinbarung gebrochen wurde. Sicher ist indes, dass nun eine dritte Partei auf den Plan trat. Und diese sollte alles entscheiden.

      Den ersten Sieg errang Ben, neunjährig, unter lauter Elf- und Zwölfjährigen, es waren fünfmal drei Kilometer mit dreihundert Metern Steigung nach jeweils tausend Metern zu bewältigen. An der letzten Steigung hatte der Junge die Älteren abgehängt, die letzten Kilometer legte er im Stil eines Zeitfahrers zurück. Vater und Mutter standen jubelnd am Zielstrich, verflogen waren Skepsis und Unwille, vergessen der Streit und die Tränen. Zwei Jugendtrainer wollten weinen vor Freude, als sie den Jungen ins Ziel jagen sahen. Wer war dieser Kerl mit dem flüssigen, runden Tritt, der offenbar auch sprinten konnte und noch dazu in vorbildlicher Rennfahrerhaltung auf einem zweitklassigen Rad saß? Man fragte nach dem Namen des Kollegen, der diesen Jungen betreute; denn dies war zweifelsohne das Werk eines Profis. Aber wie es dem Burschen gelang, sich in höchster Konzentration bedingungslos entschlossen dem Ziel entgegenzuwerfen, war ihnen völlig schleierhaft. So etwas konnte man nicht trainieren. Und so wussten sie, dass sie Zeugen von etwas ganz Besonderem geworden waren: von der Manifestation des reinen Willens, eines starken, alles beherrschenden, schopenhauerschen Willens.

      Ganze Trainerdynastien wurden von nun an zu Dauergästen im Hause Abraham. Der Tag bekam ein eisernes Korsett, morgens Schule, Hausaufgaben, dann Radfahren, zum Schluss Krafttraining und Regeneration. Ein konsequenter und behutsamer, gut durchdachter Aufbau – dies war die Devise, an die man glaubte wie an die Heilige Römische Kirche. Ben war ungeduldig, aber fügsam, und vor allem fleißig. Er verlor nur ganz selten, und wenn es doch geschah, dann unter Zornestränen; aber Ben stand wieder auf, biss auf die Zähne, er stemmte Gewichte, quälte Ergometer, nahm Vitamine ein (es hieß, das sei gut für ihn), trug Salben und Cremes auf, wenn das Gesäß einmal wund wurde oder ein Zeh sich abgerieben hatte und – siegte weiter. Seine Leistungsdaten waren außergewöhnlich. Der Ruhepuls war niedrig wie der eines großen Tieres,