Gelbfieber. Thomas Ross

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Название Gelbfieber
Автор произведения Thomas Ross
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742722485



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Kummer und der selbstmitleidigen Trostlosigkeit eines altersschwachen Todes im heimischen Bette anheimzugeben. Ben lehnte sich gegen das scheinbar unvermeidliche Schicksal auf. Niemals, niemals würde er aufgeben, nein, er würde kämpfen, härter trainieren als je zuvor, noch mehr aus seinem Körper herausholen, koste es, was es wolle und – der Gedanke kam ihm fast nebenbei – vielleicht wäre es gut, einmal mit den Ärzten zu reden. Ja, das wäre sicher gut, mal sehen, was die dazu sagten.

      Ben hatte das Rennen nicht fortgesetzt. Wegen einer Erkältung, lautete die offizielle Erklärung. Tatsächlich verbrachte Ben den Tag abseits der Rennstrecke in träumerischer Schwelgerei von Ruhm und Ehre. Wo er sich den ganzen Tag herumgetrieben hatte, wollte er aber nicht sagen, was ihm harsche Kritik des Teamleiters und den Vorwurf der Disziplinlosigkeit einbrachte, darüber hinaus aber, wohl infolge seiner Ausnahmestellung im Team, keine weiteren Konsequenzen nach sich zog. Zum Abendessen kam er wieder, aber niemand wollte mit ihm sprechen – was hätte man auch sagen sollen? Nach dem Essen bat der Teamleiter um eine Unterredung. Hinzu kamen der leitende Teamarzt und seine zwei Stellvertreter. Ben setzte sich auf den freien Stuhl vor dem Schreibtisch im Besprechungszimmer. Gegenüber hatten die vier Männer Platz genommen. Es war ein Tribunal, ganz offensichtlich. Versteinerte Mienen im Wettstreit, wer wohl das ernsteste Gesicht aufsetzen, die schärfste Zermürbung, die tiefste Bitterkeit ausstrahlen konnte. Ben saß mit hängenden Schultern da und schien das alles kaum zu bemerken. Wenn er überhaupt mit etwas rechnete, dann allenfalls mit einer schärferen Wiederholung des Vorwurfs, den er bereits kannte. Er hatte sich ohne Abmeldung aus dem Rennen gestohlen. Das tut man nicht, es widerspricht dem Ehrencodex der Fahrer, es vergiftet den Teamgeist usw. usw. Mit diesem Zeug würden sie ihm kommen, und da Ben das Unrecht ja einsah, langweilte er sich in Erwartung der neuerlichen Zurechtweisung schon. Und mit der Langeweile erloschen die lebensfrohen Gedanken, die ihn gestern aus höchster Not vom Unerträglichen ins Lebenswerte zurückgeführt hatten, und die hoffnungsvollen Vorsätze, die er noch in derselben Nacht gefasst hatte. Es war alles wieder beim Alten und der Gedanke, dieses verhexte Rennen wieder aufzunehmen, war ihm ganz zuwider.

      „Ben, wir haben da was für dich.“

      Der Angesprochene hob den Kopf und sah seinen Teamchef aus verlorenen Augen an. „Bin ich jetzt entlassen?“

      „Nein“, lächelte der milde und fügte mit väterlicher Fürsorge hinzu: „Ben, mein Junge, wir haben uns lange gefragt, wie das eigentlich möglich war …“

      „Wie was möglich war“, dachte Ben und bekam prompt die Antwort: „… dass du so verdammt lange mithalten konntest. Und was noch viel erstaunlicher ist: Du konntest sogar Rennen gewinnen …“

      Ben öffnete den Mund, aber der Teamleiter kam ihm zuvor: „Nein, sag jetzt nichts. Hör einfach nur zu. Du hast verdammt lange mitgehalten. Du hast sogar gegen Leute gewonnen, gegen die du eigentlich gar nicht hättest gewinnen können! Du bist verdammt begabt, mein Junge, aber gestern hast du verloren, weil du an eine Grenze gestoßen bist, die selbst dein begnadeter Körper nicht zu überschreiten vermag ... wenn, ja wenn man ihn bei diesem Schritt nicht angemessen unterstützt ...“

      Da dämmerte es Ben, worauf sein Trainer hinauswollte. Von Rauswurf konnte gar keine Rede sein und auch nicht von disziplinarischen Maßnahmen. Es würde keine Litanei über Disziplin und Ehre und Mannschaftsgeist geben, nein, diese Männer waren gekommen, um ihm zu helfen, und Ben empfand ein warmes Gefühl der Zugehörigkeit und tiefe Dankbarkeit.

      Seine Augen blitzten erwartungsvoll.

      „Du verstehst?“, fragte Waitz. „Natürlich verstehst du. Die Kerle, die dich gestern haben stehen lassen, die fahren doch nicht auf Nudeln und Brot und Leitungswasser, und die zwanzig hinter dir auch nicht. Die helfen alle nach, und weil sie es tun, haben sie viel mehr, als eigentlich geht, und du, mein Junge, kommst dagegen nicht mehr an.“

      Der Trainer sah den Chefmediziner Dr. Liebermann vielsagend an. Der nickte. „Was wir dir anbieten, Ben, sind die Prozente mehr, die auch die anderen haben – auf diese Weise stellen wir den naturgegebenen Abstand wieder her. Ich bin sicher, dass du diesen Berg unter optimalen Bedingungen vier Minuten schneller hochfahren kannst, als du es gestern getan hast. Mit vierzig Watt mehr in den Beinen steckst du sie alle in den Sack, das garantiere ich. Tu, was wir dir sagen, und du wirst sehen, was aus dir noch wird. In drei Jahren fährst du die Tour, und wenn du recht bei der Sache bleibst, wirst du sie eines Tages auch gewinnen!“

      Und genau so kam es. Am 24. Juli 2009 fuhr Ben in Gelb nach Paris. Der erste deutsche Toursieger! Es war ein rauschendes Fest, viel schöner noch, als Ben es sich je vorgestellt hatte. Auf den Champs-Élysées jubelten Tausende, sie waren gekommen, um ihn zu sehen, den neuen Imperator des Radsports, und vor ihm, dem Sohn des kleinen Handwerkers und der Hausfrau aus Ostdeutschland, neigten sie die Häupter und beugten die Knie. Das Fahrrad war sein Streitross, der Helm sein Lorbeerkranz. Heil dem Cäsar, heil dem Herrscher der Welt, heil der süßen Wonne dieses unvergleichlichen Augenblicks. Welch Labsal war dies nach den Wochen des Leids und der Entbehrung!

      Drei Etappen hatte Ben gewonnen: das Zeitfahren, eine Pyrenäenetappe und die Königsetappe nach Alpe dʼHuez. Seinen ärgsten Widersachern hatte er widerstanden, Zeitverluste stets in Grenzen gehalten. Neun Minuten Vorsprung waren es am Ende, es war eine Welt, in der er nun König war, und die Sportgazetten in aller Welt huldigten dem neuen König, dem großen gelben König.

      In der Folge tingelte Ben durch unzählige Fernsehshows und Nachrichtensendungen. Seine Popularität erreichte einen Höhepunkt und im Kielwasser dieses Erfolges erlebte Deutschland einen Radsportboom von nie gekanntem Ausmaß.

      Im ganzen Land sprossen Vereine und Radsportzirkel wie die Frühlingsblumen hervor, Fahrradhändler verdienten sich goldene Nasen. Ben war ein Popstar. Jeder Junge wollte sein wie Ben Abraham, jedes Mädchen ihn heiraten, selbst die Krankenhäuser hatten Hochkonjunktur: Die Zahl der Fahrradunfälle verdreifachte sich.

      Das Management von Team Germatel reorganisierte sich. Eine Reihe finanzstarker Investoren, darunter zwei daxnotierte Großkonzerne, stiegen ein. Die Zugkraft der Marke Abraham war unwiderstehlich geworden. Das Team ging auf Einkaufstour, man konnte es sich leisten. Neue leistungsstarke Fahrer kamen hinzu, und alle bedienten die Bedürfnisse des neuen Königs. Welche Bedürfnisse? Das lässt sich schwer sagen, denn Ben hatte kaum Schwächen, allenfalls leichte Leistungsschwankungen in den Bergen. Also verpflichtete man zwei starke Bergfahrer, die ihren Boss die Berge hinaufziehen, und zwei weitere, die man zur Kontrolle von Ausreißern mitfahren lassen wollte. Die Stimmung im Team war gut, jeder wusste um seine Stellung und seine Aufgabe.

      Auch unterhalb der Managementebene gab es Veränderungen. Die Zusammenarbeit mit drei Ärzten wurde intensiviert, und die bislang eher seltenen Kontakte zu ausländischen Ärzten und Sportfunktionären wurden ausgebaut. Der Teamchef unterhielt Beziehungen zu den Hauptakteuren der höchsten Radsportgremien; solche Kontakte hatten übrigens alle, die oben mitmischen wollten.

      Ben fuhr einmal pro Woche nach Heidelberg, zur Ermittlung von Leistungsdaten, wie es offiziell hieß. Weitere Tests wurden im Sechswochenturnus in Rom und in Sevilla vorgenommen. Bens Teamkollegen verfuhren in ähnlicher Weise; nur ab und zu konnte man es sich leisten, berufliche Reisen in den sonnigen Süden mit einem Urlaub zu verknüpfen, zumal die Mannschaftsleitung längere Aufenthalte der Fahrer in unkontrolliertem Gelände missbilligte. Man sah es nicht gern, wenn die Fahrer aus dem Blickfeld gerieten. Junge Männer neigen bekanntlich zu Übertreibungen, wenn man sie an der langen Leine lässt. Also bestand man auf ständiger Erreichbarkeit; kontaktfreie Zeiten von mehr als 24 Stunden bedurften besonderer Vereinbarungen, waren also nur in Ausnahmefällen erlaubt und führten, ohne rechtzeitige Rückmeldung beim Teamchef, zu erheblichen disziplinarischen Maßnahmen, wozu auch hohe Geldstrafen zählten. Mehr als das Geld schmerzte die Fahrer übrigens die Ächtung im Team. Wollte man ein Exempel statuieren, so tat man es wirkungsvoll.

      Nachdem Ben vor Jahren am Nufenenpass seine erste schlimme Niederlage erlitten hatte, erhielt er ein Rezept für ein Asthmamittel. Ben wusste zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, wie man „Asthma“ buchstabiert, geschweige denn,