Gelbfieber. Thomas Ross

Читать онлайн.
Название Gelbfieber
Автор произведения Thomas Ross
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742722485



Скачать книгу

ist jedoch, wie jeder weiß, eine der häufigsten Grunderkrankungen von Leistungssportlern und kommt besonders häufig bei Ausdauerathleten vor. Unter Tourfahrern liegt der Anteil therapiebedürftiger Asthmatiker, die von Ausnahmeregelungen zur Einnahme gefäßerweiternder Medikamente profitieren, bei fünfzig Prozent.

      Die geringste Belastung, und die Bronchien verengen sich, dann rasselt die Lunge. Wenn es schlimm kommt, bringt das respiratorische System gerade noch die Hälfte der normalen Leistung. Mehr als ein paar Meter in schnellem Schritt sind da nicht drin, für den Normalkranken jedenfalls. Aber Gott seiʼs gedankt, im Radsport stirbt die Hoffnung zuletzt. Zu welchen Leistungen Asthmatiker in der Lage sind, können wir Jahr für Jahr bezeugen, wenn wir am Straßenrand stehen und vor den Fernsehern kleben, wenn wir jubeln, staunen und bewundern; denn das, was sich vor unsren Augen abspielt, ist tatsächlich ein Wunder.

      Ben war also Asthmatiker. Er erhielt Medikamente. Hinfällig die Frage, auf welche Weise er seine Leistungsfähigkeit wiedererlangte. Entscheidend war, dass sie wiederhergestellt wurde. Und dabei zuzusehen, wie das vor sich ging, war eine reine Freude. Bens (nicht selten aus dem Melancholischen schöpfende) Grundstimmung verbesserte sich zusehends, Entzündungsherde aller Art wurden eingedämmt, dazu kamen eine kräftigere Kontraktion des Herzens und mehr Erythrozyten und Glucose im Blut. All dies war spürbar, und weil es so schön war, vertraute Ben den Ärzten blind. Alle Fahrer taten dies. Wer nicht mitspielte, war bald nicht mehr mit von der Partie, aber die in ihrem süßen Geheimnis verschworene Gesellschaft merkte davon kaum etwas. Wenn ein Kollege es nicht draufhatte, musste er gehen, das war nur recht und billig. Nebenwirkungen nahmen die Fahrer in Kauf wie gewöhnliches Volk den Kater nach einer durchzechten Nacht. Es ging ja vorbei, der Grund des gelegentlichen Unwohlseins war wohlbekannt und man befand sich in guter Gesellschaft. Außerdem bedeutete dies nichts im Vergleich mit dem Elend der Fahrer auf schweren Bergetappen. Das waren Schmerzen! Es war die Hölle! Dass die Leiderprobten so vieles erduldeten, machte den Ärzten das Leben leichter. Sie konzentrierten sich weiter auf die Maximierung der Medikamentenwirkung und sie taten es nach bestem Wissen und Gewissen. Die Strukturen dieses seit vielen Jahren etablierten internationalen Großunternehmens, das sich einzig und allein dem Ziel der Leistungsoptimierung verschrieben hatte, funktionierten reibungslos wie eine gut geölte Maschine. Alle Rädchen surrten an ihrem vorgesehenen Platz, nur in seltenen Fällen hakte und stockte es einmal, hier und da verlor das Getriebe etwas an Geschmeidigkeit, aber dem Gesamtsystem tat das keinen Abbruch. Ben und seine Kollegen waren Teil des Systems. Sie waren die Blüten, das glänzende Resultat unzähliger Vorgänge innerhalb des riesigen Baumes, der Wasser zieht und Borke ansetzt, Knospen ausbildet, Blätter entfaltet und Photosynthese macht, um dann seinen Samen in die Welt zu werfen. Aber Blüten sind nicht für die Ewigkeit bestimmt. Sie kommen und gehen, haben ihr Verfallsdatum, nur der Baum als Ganzes bleibt. Er ist immer da.

      Im Juli 2010 gewann Ben die zweite Tour de France. Zwei Monate später gewann er die Vuelta de Espa᷉na. Es war ein Jahr der Superlative. Es gibt keinen Ausdruck für Exaltation, der im Zusammenhang mit Bens Erfolgen nicht verwendet worden wäre. Wie im Vorjahr wurde er zum Sportler des Jahres gewählt und erhielt alle bedeutenden Sportpreise, die das Land zu vergeben hat. In der gehobenen Gesellschaft ging er ein und aus, Politiker aller Farben und Ränge scharten sich um den Star, zumal Ben zwischenzeitlich an seiner medialen Wirkung gearbeitet und sein öffentliches Reden sich deutlich verbessert hatte. Wirklich unterhaltsam war er zwar immer noch nicht, aber das war auch nicht nötig. Ein Juwel braucht keine Beredsamkeit, so wie eine schöne Frau am Arm eines reichen Mannes auch erst durch vornehmes Schweigen ihre größte Wirkung entfaltet. Mit Fernseh- und Werbeauftritten verdiente Ben in kürzester Zeit Millionen, die der Steuer wegen ins Ausland flossen. Das Volk nahm es ihm nicht übel; die meisten hätten an seiner Stelle dasselbe getan, und den Sportfreunden war er eine Herzensfreude, die in Steuergeld nicht aufzuwiegen war. Ben war am Zenit seiner Popularität, er fühlte sich herrlich und konnte sich nicht vorstellen, dass die Welle des Erfolges irgendwann einmal abebben und kalte Brandung ihn auf dürres Land spülen, dass der wunderbare Zauber seiner glanzvollen Parallelwelt am mächtigen Busen der Stars und Sternchen eines Tages verblassen und im Dunkel profaner Erde vergehen würde.

      Im folgenden Jahr ging Ben als haushoher Favorit in die Tour. Die Vorbereitungsphase war „ordentlich“ verlaufen, wie es aus Insiderkreisen hieß. Den Winter hatte er mit zwei leichten Erkältungen und ein paar Tagen Trainingsausfall überstanden und im Juni die Tour de Suisse gewonnen. Es gab eine Reihe ernstzunehmender Konkurrenten, allen voran waren das ein Spanier und ein Italiener, die aber beide als schwächere Zeitfahrer galten. Ben würde die eine oder andere Sekunde in den Bergen verlieren, in der Endabrechnung aber vorne bleiben. Die Zeichen standen also wieder auf Sieg, zumal auch seine Mannschaftskollegen auf hohem Niveau fuhren und helfen würden, wenn es einmal eng werden sollte.

      Die Tour begann und Ben gewann das erste Zeitfahren, aber nur denkbar knapp vor Johnny Mulligan, einem irischen Fahrer im Dienst der amerikanischen Mannschaft ArgusOne. Er war kein Unbekannter, aber so stark hatte ihn niemand auf der Rechnung gehabt, zumal er, von schmächtiger Statur und relativ leicht, kein geborener Zeitfahrer war. Mulligan war einer, auf den man schauen musste, aber er war kein Grund zu echter Besorgnis.

      In den Pyrenäen wurden erste Ausrufezeichen gesetzt. Am letzten Anstieg zum Col du Tourmalet hatte sich eine Gruppe von zehn Fahrern gebildet, die sechs Kilometer vor dem Ziel ein Ausscheidungsrennen begannen. Ben fuhr am Hinterrad von Juan Pedro Gonzales und Francesco Pellegrini, seinen größten Konkurrenten um den Gesamtsieg. Es folgten Benito Carlos, ein starker Mann von Team Albistar, und Johnny Mulligan. An einer Rampe mit zwölf Prozent Steigung sprang Gonzales vier Kilometer vor dem Ziel weg, Pellegrini ließ abreißen und Ben fuhr mit Carlos und Mulligan im Schlepptau hinterher. Gonzales war bald wieder eingeholt, aber nun trat Mulligan an, und er tat es, als habe er eine Rakete gezündet. Die Rechtskurve nahm er extrem eng, wodurch er einige Meter gewann, um den Preis einer noch höheren Steigung, die ihm aber nichts anzuhaben schien. Er kurbelte die schwere Übersetzung wie eine Wassermühle und manchmal war es, als hebe er ab, es war einfach unglaublich. Ben gelang es, einige Meter zwischen sich und die Verfolger zu bringen, aber an Mulligan kam er nicht heran.

      Waitz brüllte minutenlang ins Mikrofon, aber ohne Wirkung. Ben hörte nicht mehr. Reize unterhalb der Schmerzschwelle kann nicht wahrnehmen, wer sich auf der anderen Seite befindet, am Anschlag, dort wo Höllenfeuer lodern.

      Als Ben das Ziel erreichte, gab Mulligan bereits sein erstes Interview.

      Ben verschwand im Mannschaftswagen, so schnell er konnte. Nach Reden war ihm nicht zumute, man hätte ihn ohnehin nur nach Mulligans Leistung gefragt. Bei der obligatorischen Urinabgabe begegnete er seinem Bezwinger noch einmal. Für einen kurzen Moment kreuzten sich ihre Blicke.

      In der folgenden Nacht lag Ben lange wach. Das unverschämte Grinsen des Iren ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Es war ihm völlig schleierhaft, weshalb er, Ben Abraham, der Stärkste von allen, das Grinsen dieses Iren nicht aus dem Kopf bekam.

      Mulligan gewann die Königsetappe in den Alpen mit zweieinhalb Minuten Vorsprung und wurde auf einer weiteren Bergetappe der Ehrenkategorie Zweiter hinter Pellegrini. Ben war mitgefahren, das hieß im Klartext: Er fuhr hinterher. Am Ruhetag vor der letzten Alpenetappe hatte das Team noch etwas versucht. Ben war nach dem Frühstück mit seinem Masseur nach Grenoble aufgebrochen. Die Fahrt verlief problemlos, und da für diesen Vormittag keine Kontrollwarnung vorlag (Dopingkontrollen finden während der Tour ohne Ankündigung statt, aber die Teams haben Leute, die dafür sorgen, dass es keine bösen Überraschungen gibt), wähnte man sich in Sicherheit. Das Zimmer war auf den Namen des Ehepaars Moritz und Claudia Beller aus Köln gebucht, die sich dort nicht einfanden, weil sie gar nicht existierten. Ben wurde bereits erwartet. Er erhielt den Schlüssel für Zimmer 13. Er schloss das Fenster, zog die Vorhänge vor und schaltete den Fernseher ein. Er fand den einzigen deutschen Sender, der nicht gerade von seinem bescheidenen Abschneiden des gestrigen Tages berichtete und von der göttlichen Leistung dieses Iren. Er war miserabler Stimmung.