Название | Die Sanduhr |
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Автор произведения | Claudia Gürtler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738014952 |
Fünfzehn
Das Neugeborene war gebadet, gewickelt und angezogen worden. Man hatte ihm etwas Tee aus der Flasche gegeben. Es hatte angewidert das winzige Gesicht verzogen, dann aber doch zwei Schlucke getrunken. Es war in ein Kinderbett gelegt und zugedeckt worden. Hatte das Mädchen nicht alles, was es brauchte?
Zwar sah niemand besorgt oder entzückt auf es hinunter und es hatte weder einen Teddybären im Bett noch bunte Bilder von Hampelmännern, Feen oder Engeln an den Wänden, aber am Nötigsten fehlte es ihm nicht. Und dass ein Kind Feen oder Engel braucht, ist nicht erwiesen.
Das winzige Mädchen atmete ruhig, fast unhörbar, machte dann immer längere Pausen, liess das behutsame Luft holen schliesslich ganz bleiben und rührte sich nicht mehr. Seine Stirn und seine Händchen liefen langsam blau an. Es war allein und konnte sich mit dem Sterben Zeit lassen.
Sechzehn
Es goss schon eine ganze Weile wie aus Kübeln, und die offene Tür kam Hans Christian gerade recht. Er sah sich wiederholt furchtsam um, bevor er die nassen Schuhe von seinen grossen Füssen zog und sie fein säuberlich nebeneinander hinstellte. Er prüfte zweimal nach, ob sie auch parallel standen, bevor er mit dem schwarzen Regenschirm und dem verbeulten Koffer ein trauriges Stillleben kreierte. Er tätschelte den Koffer, als wollte er ihn ermahnen, auch ja auf ihn zu warten, bevor er auf feuchten, durchlöcherten Socken zielstrebig ins abgelegene Kinderzimmer huschte, wo man das Neugeborene sich selbst überlassen hatte. Unter dem schäbigen, speckig glänzenden, altmodischen Anzug zeichnete sich jeder Wirbelkörper einzeln ab, als Hans Christian seine lange Gestalt zusammenklappte, sie sozusagen durch zwei teilte, um sein Gesicht ganz nahe an das schrumpelige Kindergesichtchen zu bringen. Das Mädchen schien zu schlafen. Es drückte die Augen zu und presste die winzigen, bläulichen Fäustchen fest auf die Ohren. Wollte weder sehen noch hören. Atmete nicht mehr. Wollte gar nicht leben. War nicht rosig, sondern blauviolett. Hans Christians zärtliches Kirren nahm es nicht wahr. Schliesslich war es nichts weiter als ein Neugeborenes, ein empfindungsloses, zudem kaum mehr lebendiges. Widerwillig war es in diese Welt katapultiert worden, und schon schickte es sich an, sie wieder zu verlassen, schnell und von den Statisten seines kurzen Lebens unbeachtet.
Als jedoch der lange, knotige Zeigefinger des Mannes über seine Wange strich, hielt es im Sterben inne, tat zögernd einen vorsichtigen, seufzenden Atemzug. Überlegte sich wohl, ob es leben wollte, trotz allem, ob diese zärtliche Berührung einiges von dem wettmachte, was es erwartete. Langsam gaben die Fäustchen die Ohren frei, das Babygesicht entspannte sich, ein rascher Traum geisterte unter den rosiger werdenden Lidern.
Hans Christian hielt den Atem an, wartete gespannt, hoffte mit jeder Faser seines überlangen Körpers darauf, dass das Kind die Augen öffnen und ihn ansehen würde. Unendlich behutsam strich er immer wieder über die feinen, roten Stoppelhaare. Er nannte das Kind „meine Schöne“, „meine Prinzessin“, „mein Gänseblümchen“ und „mein Schneewittchen“, und das Mädchen schien verzückt zu horchen. Es griff nach Hans Christians Zeigefinger und hielt sich mit erstaunlicher Kraft daran fest.
„Sei ganz ruhig, ich lasse dich nicht los“, gurrte der Lange beruhigend, und in Schneewittchens Mundwinkeln deutete sich ein Lächeln an.
„Idiot“, knurrte William gut hörbar von der Tür her, „redet mit einem kaum existenten Un-Wesen, mit einer Hand voll Knochen und Organe, die noch nicht wissen, ob sie Mensch werden wollen oder nicht.“
Bei dem Wort ‚Idiot’ zuckte Hans Christian zusammen wie ein Hund der, weil er nach Nässe und räudigem Fell und einem miesen kalten Tag riecht, aus dem Haus geprügelt wird. Mit einem Ruck richtete er sich auf, stiess sich den Kopf an der Deckenlampe, tat einen Schritt zur Seite und stolperte über einen Stuhl, der polternd zu Boden fiel. Der Doktor schreckte im Nebenzimmer aus dem wehen Brüten, in welches ihn die Geburt der Tochter und der Zustand der Ehefrau gestürzt hatten. Als er die Tür des Kinderzimmers erreichte, schlich sich Hans Christian geduckt an ihm vorbei, als erwarte er weitere Prügel. Schlingernd erreichte der lange Kerl die noch immer offene Haustür, hinter der das erbarmungslose Rauschen des Regenvorhangs das einzige Geräusch war. Er atmete hörbar auf, als er Schuhe, Schirm und Koffer auf sich warten sah wie treue Hunde. Der Doktor guckte ihm über die Schulter, als er sich abmühte, seine Füsse in die aufgeweichten Schuhe zu zwängen.
Die Strasse war leer und dunkel. Der Doktor sah prüfend nach rechts und nach links, dann schüttelte er den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, wer oder was den Langen so erschreckt hatte.
Der Flug nach Prag ging um einundzwanzig Uhr fünfunddreissig. Die Uhr des Doktors zeigte zweiundzwanzig Uhr null fünf.
Nach einem weiteren prüfenden Blick ins nasse Dunkel schloss der Doktor mit ungewohnter Heftigkeit die Haustür. Der kleine, satte Knall veranlasste das Neugeborene zum ersten kläglichen Weinen seines Lebens.
Siebzehn
Ethnologen sahen den Grund für die erstaunliche Tatsache, dass grönländische Kinder nicht weinen in der Geborgenheit, die sie erfuhren. Sie wurden sofort nach der Geburt in Tierfelle verpackt und ständig herumgetragen. Erwachsene ganzer Sippen rissen sich darum, die federleichten Bündel zu halten und zu schaukeln.
Die Frau des Doktors hatte davon gelesen.
Sie lächelte nie, aber in ihre Augen kam ein spöttischer Glanz, als sie darüber nachdachte, wie gründlich falsch die gelehrten Damen und Herren mit ihrer Annahme doch lagen. Nicht Geborgenheit liess die Kinder verstummen, sondern Ehrfurcht. Ehrfurcht vor der Ewigkeit, vor der in Polarnähe verhalten vorübertickenden Zeit verschloss die kleinen Münder und machte die Gesichtchen klug und wissend. Weinen, Lachen, laute Worte oder heftige Gefühle und plötzliche Bewegungen hätten das aus Milliarden von Eiskristallen bestehende Versprechen von Ewigkeit bersten lassen können.
Der Laute nähme sein eigenes Spiegelbild in der blauglitzernden Tiefe wahr und stünde gleich darauf, eines unbedachten Geräusches wegen, in tiefem Erschrecken vor einem leeren Rahmen aus trostloser Landschaft, die Zusicherung von der eisigen Konservierung allen Lebens und der Besiegbarkeit des Todes als Scherbenhaufen zu seinen Füssen. Laute Geräusche und die Ewigkeit schlossen einander aus.
Wenn Schneewittchen weinte, schmolzen die Hoffnungen der Schneekönigin darauf, dass die Ewigkeit eines Tages genug Kraft haben würde, um mit kalten Gletscherzungen die ganze Erde zu belecken, dahin wie Schnee an der Sonne. Schneewittchens Mutter hüllte sich in eine dicke Schicht ihrer eigenen Kälte, und das Weinen des Kindes wurde schwächer und vermochte bald gar nicht mehr zu ihr durchzudringen. Sie rührte sich nicht, und das langsame Kriechen ihrer Gedanken über gefrorene Oberflächen tröstete sie.
Achtzehn
Der Doktor füllte ein Notizbuch nach dem anderen mit seiner engen Schrift und der ewig gleichen Erkenntnis, dass Kälte konserviert, während Hitze den Zerfall beschleunigt.
Die wöchentlichen Meetings der Gruppe, bei welchen Erfahrungen und Ergebnisse ausgetauscht und diskutiert wurden, liess er mürrisch und in abweisendem Schweigen über sich ergehen, sodass niemand Lust verspürte, ihn nach seiner Meinung zu fragen. Er hatte die Mitarbeit am Projekt über Vitaminversorgung in der Arktis an einem seiner ersten Tage in Grönland aufgegeben. Nun war er ein Fremdkörper in der lebhaft diskutierenden Gruppe.
Als die Männer und Frauen zur Feldforschung aufbrachen hielt er die Tatsache, dass zwei der Inuit Gewehre trugen, für einen Witz. Er rechnete nicht damit, dass sie in dem seltsamen, schweren Dunkelgrau des Februartages Tiere sehen würden. Falls doch, würden sie sie vermutlich bewundernd beobachten, aber sicher nicht erschiessen.
Er täuschte sich. Nach einer Schlittenfahrt, die ihn wimmern liess vor Kälte und nach einem anstrengenden Fussmarsch durch eine unwegsame Stein- und Eiswüste stand