Die Sanduhr. Claudia Gürtler

Читать онлайн.
Название Die Sanduhr
Автор произведения Claudia Gürtler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738014952



Скачать книгу

Christian, wenn er denn so hiess, stand hastig auf, wischte sich die Hände an der schmierigen Hose ab, vergass, sich fürs Essen zu bedanken und ging mit unbeholfen schlenkernden Schritten dem Rheinufer entlang davon.

      „Ich erzähle Geschichten“, nuschelte er noch.

      „Das ist fast so viel wie nichts“, dachte Meier verdutzt.

      Nach wenigen Metern verschluckte die frühe Dunkelheit den Streuner.

      Fünf

      Das war es, was man Meier immer vorwarf. Er war zu weich. Deswegen war er auch immer ein einfacher Wachtmeister geblieben. Einer, dem es nicht gelingt, Fälle wie Trophäen auf eine Schnur zu fädeln und mannhaft und stolz um den Hals zu tragen, kann nicht aufsteigen.

      Meier hoffte, nie wieder auf diesen Hans Christian zu treffen, machte sich aber gleichzeitig wenig Hoffnung, dass ihm der Wunsch erfüllt werden würde. Stadtstreicher scheinen multiple Persönlichkeiten zu haben. Sie sind gleichzeitig überall. Wenn Meier die Augen schloss, sah er Hans Christian am Rheinufer, wo er Schuhe und Koffer flickte, die in den Müll gehört hätten. Er sah ihn schlafend unter Brücken, in Weidlingen. Vor allem aber sah er ihn gierig essend. Er sass an Parkbäume gelehnt und kaute, als habe er Angst um seine Beute. Einen solchen Hunger hatte Meier noch nie gesehen. Eine solche Magerkeit auch nicht. Hans Christians Hunger beschäftigte ihn, sobald ihn nichts anderes beschäftigte.

      An einem kalten Februarsonntag, an dem er frei hatte, wollte es ihm ganz und gar nicht gelingen, die Gedanken von diesen mahlenden Kiefern loszureissen. Er war im Kino gewesen und die Handlung des Streifens war als spannend beschrieben worden, jedenfalls, wenn man ausnahmsweise der Zeitung glauben durfte, aber nun konnte er sich nicht an sie erinnern. Er kaufte eine grosse Tüte mit heissen Maroni und schlenderte ziellos geradeaus. Die Bewegung und die Maroniwärme in der Magengegend taten gut und er ging weiter und weiter, und obwohl er immer geglaubt hatte, seine Stadt wie seine Hosentasche zu kennen, fand er einen Hügel, wo er keinen vermutet hatte, eine Villa, die gut und gerne zehn oder mehr Menschen hätte Unterkunft bieten können und einen frostverhüllten Garten hinter einem kunstvoll geschmiedeten Tor. Er zuckte zusammen, als er das Knacken und Knirschen von Gelenken hörte und riss die Augen auf vor Staunen, als er sich unvermittelt einem grossen Ren gegenüber sah. Über einem aus Zotteln und Fransen bestehenden braunen Haarkleid wucherte zusätzlich ein kürzerer weisser Winterbehang, der lediglich den Rücken bedeckte. Meier hatte Rentiere lange für phantastische Kreaturen gehalten, sogar für eine Sinnestäuschung von Menschen, die monatelange Dunkelheit und extreme Kälte nicht vertrugen.

      Jetzt musterten sich Mensch und Tier durch das mit einander zugewandten Fischen verzierte Tor, und Meier sagte sich klipp und klar, dass er entweder träumte oder dabei war, verrückt zu werden. Schliesslich streckte er dem Tier seine letzte Maroni entgegen, und das Ren biss entschlossen zu. Seine Zähne gruben sich in Meiers Handrücken, er glaubte das Zerreissen von zähem Fleisch, das Mahlen von Kiefern und ein würgendes Schlucken zu hören. Meier dachte voller Verwunderung daran, dass er einen reinen Pflanzenfresser vor sich hatte. Er fühlte keinen Schmerz, nur entsetztes Erstaunen, und während er sein Taschentuch um die blutende Hand wickelte und sich eilends auf den Weg zurück in die Stadt machte fragte er sich, was er seinem Hausarzt erzählen sollte. Würde der einen Patienten, der eine wirre Geschichte von einem fleischfressenden Ren erzählte, auf das er in Basels Aussenquartieren gestossen war, nicht in die Psychiatrie einweisen?

      Wenigstens waren für den Moment der klapperdürre Hans Christian und sein Hunger vergessen.

      Alles, was Meier sich wünschte, während er sein nicht ganz sauberes Taschentuch auf die Wunde presste war, die Villa nie wieder zu sehen. Und wie die meisten Wünsche Meiers sollte sich auch dieser nicht erfüllen. Tief in ihm drin war schon jetzt eine Ahnung von einer lebenslangen Aufgabe.

      Sechs

      In Grönland sind die Sommernächte gespenstisch hell und sehr still. Die Temperatur von wenigen Grad über Null empfinden Grönländer als angenehm. Hemdsärmlig und in ausgelassener Stimmung sitzen sie vor ihren bunten Häusern und der grüne Küstenstreifen im Süden und Westen, der schon Erik den Roten begeisterte, gibt ihnen offenbar genug Wärme. Rentiere und Moschusochsen tun sich an Flechten und Moosen und dem Gras gütlich, das sie nur gerade zwei Monate im Jahr verwöhnt. Es ist eine Zeit der Fülle, eine satte Zeit. Hin und wieder heben die Tiere die gewaltigen Köpfe und unterbrechen ihr Kauen, um zu lauschen. Auch für jagende Tiere ist der Sommer die Zeit der vollen Bäuche, und im Sommer sieht man alles Weisse kilometerweit. Die Winterfellreste auf den hohen Rücken der Moschusochsen. Die weissen Hälse und Bäuche der Rentiere. Erst im nächsten Winter wird das Weiss an den Körpern der Tiere wiederum verschmelzen mit dem weiten Weiss der Umgebung. Gleich hinter dem schmalen Streifen aus zögerlichem Grün beginnt die Sicherheit des kilometerdicken Festlandeises. Es gibt Dinge, die ewig sind.

      Sieben

      Der Doktor suchte in der Aussentasche seines Rucksacks nach dem Sandwich, welches er vor zwei Tagen eingesteckt hatte. Er hatte es noch in Zürichs Flughafenrestaurant gekauft, hatte es dann aber in der Aufregung nicht essen können. Nun war es seltsam welk wie ein zu lange aufbewahrtes Salatblatt.

      Die Situation des Doktors war inzwischen absolut ausweglos. Es war unmöglich, das Richtige zu tun. Ihm war übel vor Hunger, und doch biss er reumütig und im Bewusstsein, das Falsche zu tun, in die mit Tomaten- und Käsescheiben belegten Brotschnitten. Mit vollem Magen würde er den gefürchteten Helikopterflug kaum überstehen. Sein Innerstes würde sich nach aussen kehren, und er würde seinen grönländischen Arbeitgebern vollgekleckert und übelriechend entgegentreten müssen, was alles andere als ein vielversprechender Anfang sein würde. Bekümmert würgte er die trockenen Brocken hinunter, denn mit komplett leerem Magen würde er den Flug ebenso wenig durchstehen. Sein Hunger war grenzenlos. Ganze zwei Minuten fühlte er sich besser, nachdem er gegessen hatte, dann verlangte der dänische Pilot seinen Flugschein und wies ihm einen Fensterplatz zu. Der Doktor quetschte sich traurig an die Scheibe. Wie gerne hätte er in der Mitte gesessen, eingepfercht zwischen den schützenden Leibern der anderen Passagiere. In der Mitte aber sassen eine junge Inuit mit prächtigem blauschwarzem Haar und ein dünner Engländer, der von einem blonden dänischen Hünen gegen die Frau gepresst wurde, die keine Miene verzog. Sie sprach ruhig in einem keiner anderen Sprache verwandten Inuitdialekt mit dem Piloten, bevor sich dieser einen Ohrenschutz aufsetzte und die Hand auf den Steuerknüppel legte.

      „Nice place“, sagte der Engländer, und sie unterhielt sich nun in kehligem Englisch mit ihm über das Knattern des Rotors hinweg. Der Doktor hielt sich an der unerschütterlichen Ruhe in ihrem Gesicht fest, während der Helikopter abhob und mit käferigem Schweben seinen Weg zwischen zwei Bergen suchte. Der Fjord lag etwa fünfzehn Meter weiter unten, und der Doktor konnte es ertragen, hinunter zu sehen, so lange er an seinem Oberarm den Oberarm der Inuit spürte. Auf Windstösse antwortete der Helikopter mit spielerischem Hüpfen, als sei er mehr Insekt als Maschine. Und während er hüpfte und schwankte und ohrenbetäubend knatterte, sprach die Inuit weiter, lächelte den aufgeregten Engländer an, lächelte auch den halb ohnmächtigen Doktor an, und ihre unverbindliche, nur am Rande freundliche Geste holte ihn zurück ins Leben. Er klammerte sich mit den Blicken an ihr ruhiges Gesicht, empfing dankbar die Wärme des unfreiwillig gegen den seinen gepressten Körpers, erkannte ihr Nichtbegreifen seiner Panik, ihr durch nichts zu erschütterndes Vertrauen in alles, was zum Leben gehörte. Vertrauen ins Leben war dem Doktor zutiefst suspekt. Stumm, aber ungewohnt heftig und spontan ernannte er sie in Gedanken zu seinem Felsen, seiner Sicherheit. Er brauchte sie in diesem Moment mehr als die Luft zum Atmen, und aus dieser simplen Notwendigkeit heraus verliebte er sich während des nur sieben Minuten dauerndes Fluges in die Frau, von der er noch nicht wusste, dass sie seine grönländische Arbeitgeberin war. Sanft setzte der Helikopter auf dem runden Schotterplatz auf. Der Doktor schulterte seinen Rucksack und ging neben der Frau auf die bunten Häuser von Ittoqqortoormiit zu. Er blieb immer einen halben Schritt hinter ihr, um das Fliessen ihres blauschwarzen Haars betrachten zu können. In der Bucht steckten Brocken