Название | Die Sanduhr |
---|---|
Автор произведения | Claudia Gürtler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738014952 |
Drei
Der in Basel seltene lauwarme Föhnwind marterte den Kopf von Polizeikommissärin Moser. Schwer stützte sie ihn in die breiten, von Fettpölsterchen abgerundeten Hände. Auf ihrem Schreibtisch stapelte sich Papier in unordentlichen Haufen.
„Wo Berge sich erheben ...“, knurrte Moser schlecht gelaunt und widmete sich trotzig ihren Horoskopen, die ihr allerdings zusätzlich Kopfschmerzen bereiteten. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals auf so ungünstige Konstellationen am Himmel gestossen zu sein. Tatsächlich aber sagten die Horoskope für neun von zwölf Sternzeichen regelrechte Pechsträhnen voraus. Jungfrauen, Fische, Widder und Waagen sollten Unglücksfällen zum Opfer fallen, für Stiere und Krebse war erbitterter Streit angesagt, und auch die Wassermänner, Skorpione und Schützen erwartete alles andere als Glück und Harmonie.
Polizeikommissärin Moser warf einen Blick auf die Kopie der Bahnhofsuhr, welche über dem Schreibtisch hing und sie üblicherweise durch ihr lautes, gleichmässiges Ticken am Einschlafen im Dienst hinderte. Es war halb vier Uhr morgens. Sie stand auf und öffnete das Fenster. Die lauwarme Dunkelheit dahinter brachte keine Erleichterung.
Moser horchte den Geräuschen nach, die durch die Nacht drangen. Ihre Sinne waren angespannt durch die schlechten Voraussagen und sie deutete jedes noch so kleine Geräusch als ungewöhnlich oder gar bedrohlich.
Ein paar Häuser rheinaufwärts hustete sich ein Asthmakranker gequält durch die Nacht. Am gegenüberliegenden Rheinufer, wo eigentlich Fahrverbot herrschte, fuhr ein Auto im falschen Gang an sorglos parkierten Wagen vorbei. Endlich wurde krachend in einen höheren Gang geschaltet. Moser empfand leichte Übelkeit. Für Motoren brachte sie entschieden mehr Gefühle auf als für deren Misshandler.
Ein Wirt, der längst geschlossen haben sollte, warf mit lautem Fluchen zwei Zechpreller auf die Strasse. Sie entfernten sich torkelnd und ebenfalls fluchend. Moser lehnte sich weit aus dem Fenster. Galoppgeräusche donnerten auf dem Teerbelag der Strasse.
Die Polizeikommissärin schüttelte die leere Kaffeekanne. Sie musste total übermüdet sein.
Ein plötzlicher Windstoss riss die Horoskope an sich und wirbelte sie dem Rhein zu.
Die jungen Polizisten Graber und Linsenmann waren noch auf Streife.
Und Wachtmeister Meier sowieso.
Vier
Wachtmeister Meier redete laut mit sich selbst. Er wandte sich an die kahlen Bäume, die schaukelnden Kähne auf dem Rhein. Von Einfühlungsvermögen sprach er, von Mitleid, von Intuition gar, ohne die sein Beruf.... Ach, was soll’s. Moser ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie waren wieder einmal aneinander geraten. Und Moser war beleidigend geworden. Wie immer. Eigentlich, sagte Meier zu den Kähnen, war die Tatsache, dass sie bei jedem Zusammentreffen aneinander gerieten, eine logische Folge der völligen Verschiedenheit ihrer Charaktere. Meier spuckte verächtlich übers Geländer. Genau genommen müsste Moser von Einfühlungsvermögen sprechen, von Mitleid, denn Moser war eine Frau, auch wenn Meier sich dies immer wieder bewusst vor Augen führen musste. Angesichts fast fehlender Brüste, eines so flachen Hinterns und so männlich-breiter Schultern dachte man nicht an eine Frau. Nicht sofort jedenfalls, sagte Meier laut und stieg schwerfällig die hohen Stufen hinunter, um sich nahe ans Wasser zu setzen.
Als er den langen Menschen sah, der hastig in Schuhe und Jacke fuhr und den ausgebeulten Koffer unter den Arm klemmte, als fühlte er sich schuldig und ertappt, seufzte der Wachtmeister. Ihm war nicht danach, ein verwahrlostes Subjekt zwecks Überprüfung anzuhalten.
„Hast du schon gegessen?“ fragte Meier stattdessen, und der Lange blieb stehen, drehte sich zögernd um und kam zurück, langsam, ängstlich wie ein zu oft geprügelter Hund. Meier fummelte in seinen Taschen. Er liebte es, nach der Spätschicht am Rheinufer zu essen und mit sich selbst zu sprechen.
„Schinken“, zählte er auf, „harte Eier, Salz, getrocknete Tomaten in Olivenöl, trockene Kekse. Mit Schokolade wären sie mir auch lieber“, gestand Meier, „aber wenn die schmilzt, ist die Uniform hin. Das Attribut ‚zartschmelzend’ wird, wenn es um Schweizer Schokolade geht, sonst zwar meist positiv gewertet.“
Er grinste vielsagend.
Das Brot zog er aus der Dienstmappe. Er wischte das Schweizer Taschenmesser an der Hose ab, bevor er den Laib in regelmässige Scheiben schnitt.
„Hast du Essiggurken?“ fragte er den Streuner, „auf Essiggurken hätte ich jetzt Lust.“
Der Lange antwortete nicht. Sein Blick hing so begehrlich an Meiers ausgebreiteten Vorräten, als esse er mit den Augen statt mit dem Mund. Meier belegte eine Brotscheibe mit Schinken und Tomaten und hielt sie ihm hin.
„Wie heisst du?“ fragte er.
„Hans Christian“, murmelte der Lange undeutlich. Er hatte bereits die Backen voller Brot.
„Er kaut, als hinge sein Leben davon ab“, dachte Meier.
Hans Christian rückte näher, und Meier reichte ihm mehr Brot, ein Ei und das Salzfässchen. Der Mann roch wie eine ganze Schusterwerkstatt, und Meier sah aus dem Augenwinkel eine frische Leimspur auf dem löchrigen linken Schuh und einen noch leimfeuchten, länglichen Flicken über einer sehr dünnen Stelle an der Schmalseite des Koffers.
„Schuster von Beruf, was?“ fragte Meier.
Der Lange schüttelte den Kopf. „Mein Vater“, sagte er und duckte sich, als erwarte er eine Ohrfeige. „Mein Vater ist Schuster.“
„Und du?“
„Nichts“, sagte der Lange träge und schuldbewusst.
Meier