Die Sanduhr. Claudia Gürtler

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Название Die Sanduhr
Автор произведения Claudia Gürtler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738014952



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ich weiss“, ergänzte der Doktor.

      „... habe ich in zwei Monaten im Londoner East End zweihundertsiebenundachtzig Frauen entbunden. Dreissig Geburten wären vorgeschrieben gewesen. Aber die Sterne standen günstig für Geburten. Oder es hatte neun Monate vorher Stein und Bein gefroren sodass, wer nach dem wärmsten Zeitvertreib suchte, nicht lange überlegen musste. Ich habe geackert wie ein Gaul. Ich war mehr Stunden am Tag blutverkrustet und mit seltsam riechenden Flüssigkeiten parfümiert, als ich sauber war. Also erzähl du mir nicht, wie man die kleinen Racker auf die Welt holt.“

      Der Doktor nickte unentwegt mit dem Kopf wie einer, der eine abgedroschene Geschichte zum tausendsten Mal hört. Noch dazu widerte ihn die Geschichte an, und er hätte viel darum gegeben, sie nicht wieder hören zu müssen. Gedankenverloren rückte er seinen Turm in eine höchst ungünstige Position.

      „Wenn ich gewinne, gibst du ihr etwas“, wagte sich der Doktor in plötzlicher Eingebung vor.

      William schlug sich amüsiert auf die Schenkel.

      „Du hast noch nie gewonnen, mein Lieber!“

      Er griff nach dem Turm und sagte beiläufig: „Schach!“

      „Ich gebe auf“, sagte der Doktor. „Siehst du nun nach ihr?“

      „Warum siehst du nicht nach ihr?“ fragte William, nachdem das Schreien der Frau wieder abgeklungen war. „Schliesslich bist du Arzt, und ein Arzt ist so schlecht wie der andere.“

      „Ich kann kein Blut sehen“, gestand der Doktor bedrückt, und bei dem Wort ‚Blut’ verfärbte sich seine Nasenspitze ins Grünliche und er wurde noch blasser, als er schon war.

      William zog erstaunt beide Augenbrauen bis an den schütteren Haaransatz hinauf. Er tat, als sei ihm diese Tatsache neu.

      „Nun gut“, lenkte er ein, „wenn dir so viel daran liegt, sehe ich nach ihr. Weißt du, damals, im East End wurde ich einmal morgens um zwei Uhr zu einer Frau gerufen, die ...“

      Beide standen auf, William mit energischem Ruck, der Doktor schwankend wie eine hohe Tanne im Wind. Der Doktor krallte sich an Williams Arm.

      „Ich kenne die Geschichte. Bitte erspar mir die Details!“

      William liess mit Knurren und leisem Bedauern die Erinnerung an den grauenhaftesten Fall seiner Laufbahn als Gynäkologe fallen. Er stand auf und streckte sich genüsslich. Nun konnte er bequem auf den um einen halben Kopf kleineren Doktor hinuntersehen, der mit seinen hundertachtzig Zentimetern selbst kein Zwerg war.

      „Ich gebe ihr etwas“, versprach William listig, „- wenn du mitkommst. Sie ist schliesslich deine Frau, unsere Schneekönigin. Und sie bekommt dein Kind.“

      Er öffnete schwungvoll die Tür. Der Doktor hielt sich am Türrahmen fest.

      „Ich bin ...“

      „... Forscher“, ergänzte William, „kein Praktiker. Das Leben interessiert dich nur theoretisch, und die Wirklichkeit ist dir zu blutig, zu klebrig, zu unappetitlich, zu bedrohlich, zu theatralisch und auch zu schnell vorbei. Aber an den Theorien, mein Lieber, hat die Menschheit weder gegessen noch ausgelitten.“

      Er träufelte eine farblose Flüssigkeit auf eine Gazemaske und stülpte sie der Patientin übers Gesicht. Der Doktor schnüffelte prüfend in die Luft.

      „Chloroform?“ fragte er fassungslos. „Bist du nicht etwas altmodisch?“

      „Ich bin alt, nicht altmodisch“, belehrte ihn William. „Ich bin sogar sehr alt; sozusagen fossil. Ausserdem praktiziere ich ebenso wenig wie du. Ich habe meinen Beruf an den Nagel gehängt ...“

      „Als du als Schriftsteller erfolgreich wurdest. – Und das war ein paar Wochen, nachdem du dein Diplom erhalten hattest“, ergänzte der Doktor mechanisch.

      „Um aufs Chloroform zurückzukommen“, sagte William jetzt, „so hat es Vorteile. Es betäubt nicht nur den Schmerz. Es entkrampft auch die Muskeln. Und es lähmt den Willen.“

      Der Doktor machte eine abwehrende Handbewegung. Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf, aber bevor er noch entschieden hatte, welche von ihnen er William zuerst stellen wollte, wandte ihm der Freund und Hausarzt den stechenden Blick zu.

      „Sie will kein Kind. Ich nehme an, dass dir diese Tatsache bekannt ist. Sie will nicht, dass ihr ein Kind zwanzig Jahre lang das Leben schwer macht. Sie ist Forscherin – wie du. Sie ist beschäftigt, auch ohne Kind.“

      Der Doktor sah stumm auf seine Schuhe hinunter.

      Das Chloroform tat seine Wirkung. Die Atemzüge der Frau wurden ruhig, die Muskeln erschlafften, und ihr Körper gab das Baby mühelos frei. William wickelte das Kind, das leise gurgelte wie ein ertrinkendes Kätzchen, in ein Tuch. Er wischte ihm mit einer Zärtlichkeit, die den Doktor erstaunte, das Gesichtchen sauber und legte das Bündel dem frischgebackenen Vater in die unbeholfenen Arme. Der Doktor hatte eine Tochter, und sie war genau so winzig, wie William es vorausgesagt hatte.

      Elf

      Die Arbeitstage des Doktors waren angefüllt mit allem, was er hasste, mit Zerfall und tödlichem Schrecken und Angst vor Krankheit und Schmerzen und Tod. Seine Patienten kamen zu ihm, wenn sie sich fürchteten vor diesem Leben, das nicht ewig währte, und sie brachten immer neue Beweise für unaufhaltsamen Zerfall mit.

      Der Doktor hielt sich aus der Sache heraus, so gut es ging. Er hörte weg, wenn seine Patienten jammerten, und er freute sich, wenn sie sich schon vor ihrem Besuch eine Meinung gebildet und einen Lösungsweg ersonnen hatten. Dienstbeflissen verschrieb er ihnen die Medikamente, von denen sie sich Hilfe versprachen, und sein Ruf als guter und williger Arzt machte die Runde. Manche Tage waren sogar regelrechte Glückstage. Seine Patienten liessen ihre Termine platzen und er sah sie auf der anderen Strassenseite gesund und munter vorbei gehen. Ihre robusten Naturen hatten sie zurückgeschubst auf den Weg des Lebens, und das Schicksal hatte ihnen Aufschub gewährt.

      Das persönliche Unbehagen des Doktors aber wuchs von Woche zu Woche, und eines Tages, als er in der Mittagszeit in seinem Wartezimmer sass und ins mitgebrachte Brot beissen wollte, glaubte er säuerlichen Gärungsgeruch wahrzunehmen. Die beiden Brotscheiben, der sorgfältig eingeklemmte Käse und die zwei Salatblätter hatten offenbar begonnen, sich zu zersetzen, noch bevor sie mit seinen Verdauungssäften in Berührung gekommen waren. Als des Doktors Gedanken an diesem Punkt angelangt waren, wurde ihm bewusst, dass sein eigenes Inneres darauf angelegt war, Dinge zerfallen und verschwinden zu lassen. Dinge sterben zu lassen.

      Er beschloss, fortan zu lesen, während er ass, um seinen Gedanken Fesseln anzulegen. Sie sollten ihn nicht in Gefilde entführen, die er lieber mied. Er griff nach einer medizinischen Zeitschrift, freute sich eine Sekunde lang an seinem eigenen Pflichtbewusstsein, blätterte dann, ohne etwas aufzunehmen, durch teure Glanzpapierseiten mit ekligen Bildern, bis er auf eine Ausschreibung stiess, welche ihn fesselte, obwohl ihn das Forschungsthema – Vitaminversorgung in Gebieten der Arktis – kaum interessierte. Vielmehr war es das kurze und hübsche Wort Arktis, welches ihm zusagte, und er bewarb sich in blumigem Stil um die Stelle, ohne damit zu rechnen, angenommen zu werden.

      Als er zwei Wochen später eine Zusage aus dem Briefkasten fischte, war er schockiert. Allerdings gab es kein Zurück mehr, denn die Flugtickets lagen ebenso bei wie ein Reiseplan und eine lange Liste mit Dingen, die er mitzubringen hatte. Selbst die Daten und Uhrzeiten der ersten Teamsitzungen standen schon fest. Und so packte der Doktor, der in seiner übergrossen Ängstlichkeit noch nie auch nur einen Zug bestiegen hatte, seinen Koffer, um um die halbe Welt zu reisen.

      Zwölf

      Wachtmeister Meier sah ganz entgegen seiner Gewohnheit zum hundertsten Mal nach der Uhr. Ein unglaublicher, überdeutlicher Traum, den er in der vergangenen Nacht geträumt hatte, liess ihn einfach nicht los. Von Weihnachten hatte er geträumt, von lautlosem Schneetreiben in tiefer Dunkelheit. Er hatte Hans Christian