Die Sanduhr. Claudia Gürtler

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Название Die Sanduhr
Автор произведения Claudia Gürtler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738014952



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blieb Nanuk stehen, als könne er nicht glauben, was ihm widerfuhr, dann ging er in die Knie und fiel aufs Gesicht. Dass die Lache, die sich unter ihm ausbreitete dunkelrot war, ahnte der Doktor mehr, als dass er es sah.

      Mit vereinten Kräften wälzten Forscher und Jäger den Bären auf den Rücken, trennten das kostbare Fell vom Körper und schnitten das noch warme Fleisch in Stücke. Kleine, besonders leckere Bissen wurden roh verzehrt, und die lachenden Münder mit den blutroten Lippen hatten etwas Groteskes. Die Schneekönigin hatte den linken Handschuh ausgezogen. Auch ihre Finger waren blutig.

      Der Doktor wandte sich ab von diesen unwirklichen, wie in Zeitlupe ablaufenden Ereignissen. Die plötzliche Einsicht, dass Bewohner der Arktis benötigte Vitamine zu einem grossen Teil aus dem Verzehr eben getöteter, noch blutender Tiere bezogen, liess ihn das vorgegebene Thema endgültig fallen. Er versank gründlich in seinen eigenen, ganz andere Wege gehenden Gedanken. Natürlich hatte er sein Notizbuch dabei und er widmete sich ganz seinen Aufzeichnungen, während die Einzelteile des Bären auf die Hundeschlitten verladen wurden.

      Später schnitt die Schneekönigin die inneren Organe von Nanuk in der Küche des Guesthouses mit einem speziellen Gerät in ganz dünne Scheiben, um unter dem Mikroskop nach Schäden zu suchen, die ein Zuviel an Vitamin A angerichtet haben könnte. Der Doktor leerte seinen Kaffee in den Ausguss und warf ein frisch geschmiertes Brötchen in den Abfall. Der Appetit war ihm vergangen.

      Nachdenklich musterte ihn die Schneekönigin. Leises Erstaunen lag auf ihrem Gesicht. Sie schwieg. Wohlwollend? Ablehnend? Verächtlich? Der Doktor grübelte endlos. Ihre Verachtung hätte er schlecht ertragen, aber das Gefühl, der Ewigkeit Millimeter für Millimeter näher zu kommen, war ihm wichtiger als die Zugehörigkeit zur Gruppe und die Anerkennung als Forscher.

      Neunzehn

      Nach Schneewittchens Geburt verharrte die Schneekönigin in regloser, vielleicht auch gedankenloser Starre, während der Doktor das Baby mit der Flasche fütterte. Einige Male schon hatte er sich seiner Frau unentschlossen genähert mit der Absicht, ihr prüfend an die Brüste zu fassen. Sie hätten so kurz nach der Geburt prall und voller Muttermilch sein müssen, aber der Doktor fürchtete sich dann doch vor der Empörung über solch einen Übergriff, und so liess er eine nähere Untersuchung bleiben.

      „Was erwartest du?“ fragte William mit leisem Hohn. „Etwa eine warme Flüssigkeit wie Muttermilch?“

      Der Doktor antwortete seinerseits mit einer Frage: „Was denkst du, nimmt sie wahr, wenn sie in diesen Zustand hinabsinkt?“

      William, der ahnte, wie sehr es den Doktor reizte, Experimente an der Schneekönigin durchzuführen, die ihn in seiner Arbeit weiterbringen könnten, liess die Frage des Doktors lachend unbeantwortet. Seiner Meinung nach wäre es nutzlos gewesen, die Grönländerin in allgemeingültige Untersuchungen und Statistiken einfügen zu wollen, funktionierte sie doch so ganz und gar anders als jedes andere menschliche Wesen. Ihr Tod würde mit Sicherheit ein anderer sein als der des Doktors. Und ob ihre Lebensuhr während ihren Abwesenheiten weitertickte, würde nie jemand in Erfahrung bringen. Allerdings beschäftigte die Sache William nur am Rande, während sich der Doktor unentwegt fragte, ob man Lebensenergie einsparen konnte, indem man vorübergehend nichts oder wenig davon verbrauchte.

      „Ich liebe sie trotz allem“, erklärte der Doktor unvermittelt.

      William sah auf ihn hinunter, strafend und voller Mitleid. Aber bevor der Doktor noch die Gedanken, die ihm durch den Kopf schwirrten, in Worte fassen konnte, erwachte die Schneekönigin aus ihrer Starre, und als das Bewusstsein in ihre Augen zurückkehrte, fielen ihre wissenschaftlichen Diplome von der Wand. Das Glas der Wechselrahmen barst, und als der Doktor sich bückte, um die Splitter aufzuheben, wunderte er sich, wie kalt sie waren.

      Zwanzig

      Einmal mehr hatten die Bewohner der Villa vergessen, Schneewittchen zuzudecken. Es krümmte sich in der Kälte, welche sich in den Zimmern breit machte, zusammen und begann sich nach einer langen Phase des Unbehagens und Haderns wiederum wohl zu fühlen in der Nähe des Todes.

      Doch auch diesmal kam Hans Christian, der Schneewittchens Abschiede vorauszuahnen schien rechtzeitig, hob das Kind aus dem Bettchen, wickelte es in eine Decke, drückte es heftig an sich, bis es seufzend Luft holte und sich an ihn kuschelte, um sich aufzuwärmen und sich einmal mehr davon überzeugen zu lassen, dass es leben wollte.

      Und Hans Christian erzählte, erzählte von Decken und Kissen und Schneefall und Erbsen unter Matratzen, und Schneewittchen horchte, und wenn es denn schon eine Sprache und ein Gefühl für Zeit gehabt hätte, hätte es sich gewünscht, Hans Christians Geschichten möchten nie ein Ende finden.

      Schliesslich legte der Lange das Kind zurück in sein Bettchen, deckte es bis oben hin zu und küsste es sanft, und Schneewittchen träumte, nachdem er geräuschlos gegangen war, seine Geschichten fort, und ihm war wohlig warm zwischen der Matratze mit der Erbse und den prallen Decken aus Schnee, und über ihm rauschten der Holunderbusch und die Erle, und das Schnattern von Enten und das majestätische Brausen von Schwanenflügeln legten ein Lächeln auf sein Gesicht.

      Einundzwanzig

      Rabenschwarze Verzweiflung überfiel den Doktor, als er begriff, dass er es zu weit getrieben hatte. Einen nicht einmal ansatzweise kooperativen Kollegen wie ihn entbehrte das Forscherteam leicht. Alle würden sie froh sein, den Klotz am Bein los zu werden, sobald die Sonne über den Horizont stieg und das Eis aufbrach. Ja, er musste bald nach Europa zurückkehren, aber er würde ein Stück Ewigkeit mitnehmen.

      Zu seinem grenzenlosen Erstaunen hatte die Schneekönigin ja gesagt. Ja, sie würde seine Frau werden. Während des ganzen Fluges berührte er sie kein einziges Mal, aber sie war da und er fühlte sich sicher.

      Monatelang fürchtete er nach ihrem stillen Einzug in die Villa, sie könnte dahinschmelzen wie ein arktisches Souvenir. Doch sie verbreitete hartnäckig ihre Kälte in den Zimmern und schuf die Atmosphäre, die der Doktor als „konservierend“ bezeichnete.

      Jahrelang blieb alles, wie es war.

      „Auch in Davos trugen die lungenkranken Schachspieler Handschuhe“, bemerkte William und hauchte in die Hände. Spätere Gäste der Villa sollten an Frostbeulen leiden oder wegen eiskalter Füsse oft stundenlang nicht einschlafen können.

      Erst Schneewittchens Geburt und das Auftauchen von Hans Christian brachten Tauwetter, zögerlich, mit vielen Rückschlägen in arktische Zeiten.

      Zweiundzwanzig

      War es nicht jedes Jahr das selbe? Erstaunlich, wie viele Leute die Julihitze nicht vertrugen. Zwar hatte die Polizei von November bis Januar weit mehr zu tun, doch kamen die seltsamsten Fälle jeweils im Juli auf sie zu. Moser bellte gereizt ins Telefon, tat aber keinen Schritt vor die Tür. Ereignisse, die sich mit Ankündigungen in Horoskopen deckten, waren ihr unheimlich. Sie schickte Meier. Auch in diesem Fall. Aus den Zeitschriften auf ihrem Tisch versuchte sie herauszulesen, wie die Sache ausgehen würde.

      In einem Fall wie diesem schickte man immer Meier, auch wenn auf dem Polizeiposten die Meinungen über den Wachtmeister auseinander gingen. War er ein Trottel oder die Gutmütigkeit in Person? Wo lag der Unterschied?!

      Wie auch immer, die Chefin verspürte wenig Lust, an einem prächtigen Juliabend den hitzeflirrenden Hirngespinsten eines namenlosen Anrufers nachzugehen, und auch die übrigen diensthabenden Beamten hätten sich herzlich für die Zumutung bedankt. Graber und Linsenmann, die das Hierarchiedenken der Oberen hartnäckig auf den untersten Plätzen hielt, zogen die Köpfe ein – und kamen ungeschoren davon, denn es traf Meier, Meier, den Mann für alles, den ungekrönten Spezialisten für die schrägen und unbeliebten Fälle.

      Eine Frau werfe Spiegel aus den Fenstern ihrer Villa, billige Warenhausspiegel ebenso wie kostbare Silberspiegel, meldete der Anrufer, der auflegte, ohne seinen