Die Sanduhr. Claudia Gürtler

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Название Die Sanduhr
Автор произведения Claudia Gürtler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738014952



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was man so alles zusammenträumt! Wie konnte einer mitten im Sommer so real von Schneetreiben träumen, dass er frierend erwachte und nach der verrutschten Decke suchte?

      Meier dachte auch nach dem fünften Espresso im Büro noch an seinen Traum. Er hätte Bewegung gebraucht, Luft. Die Uniform klebte am Gesäss, das Hemd am Rücken. Seine Gedanken begannen um die Villa zu kreisen. Dort oben wehte bestimmt auch an drückenden Tagen ein schwaches, wohltuendes Lüftchen, und genau danach sehnte er sich in diesem Moment unendlich.

      Das düstere, beschwörende Horoskopgebrabbel von Kommissärin Moser ging Meier auf die Nerven, aber er wagte es nicht zu belächeln. Niemand auf der Polizeistation hätte das gewagt.

      Meier sass und wartete und liess dumpf brütend die Zeit vorüberticken, und obwohl er inständig hoffte, dass es nicht kommen würde, wie es kommen musste, tat Moser genau das, was sie immer tat, wenn ungünstige Sternenkonstellationen sie beunruhigten; sie versuchte, ihren Dienst abzutauschen. Genau genommen drückte sie sich „in gefährlichen Nächten“ davor.

      Meier hörte kopfschüttelnd zu, wie sie an ihrem mit Unerledigtem übersäten Schreibtisch vorlas, welche Tierkreiszeichen sich auf welche Unglücksfälle und Widrigkeiten gefasst zu machen hätten. Er war sich nicht sicher, ob sich ihre Äusserungen an ihn richteten, und so hörte er nur mit halbem Ohr zu, als sie den Jungfrauen böse Stürze voraussagte.

      Moser hob plötzlich den Kopf und sah Meier direkt in die Augen, aber noch bevor sie ihr Anliegen anbringen und ihren Dienst Meier anhängen konnte, nahm das Unglück bereits seinen Lauf.

      Alle drei Telefone klingelten gleichzeitig, ein Feuerwehrwagen raste vorbei, und selbst die stickige Büroluft geriet in Bewegung. Moser bellte Meier an, sie bleibe auf dem Posten, und er habe sich unverzüglich an den Einsatzort zu begeben. Meier sprang erstaunlich behände die wenigen Treppenstufen hinunter und folgte, einmal auf der Strasse, der Menschenmenge, welche mit dem untrüglichen Instinkt der Schaulustigen dem Ort des Geschehens zustrebte.

      Der Ort des Geschehens war Basels Mittlere Brücke. Meier sah das beschädigte Geländer von weitem. Er begann zu schwitzen, als er sich fragte, wer oder was die Gewalt aufgebracht hatte, ein Jahrhunderte altes steinernes Geländer zu durchbrechen.

      Im Wasser trieb eine weisse Masse, die Meier ungläubig als Pferd identifizierte. Die Bergung des mächtigen Schimmels gestaltete sich schwierig, aber zum Glück gab es für Meier wenig zu tun, denn die Rheinfeuerwehr leistete ganze Arbeit. Freundlich scheuchte Meier Schaulustige dort weg, wo sie die Arbeiten am meisten behinderten. Der Reiter, der sich nur mehr an seinen Vornamen Theodor erinnern konnte, wurde mit einem Schock ins Kantonsspital eingeliefert. Die Ambulanz brauste heran, ohne dass Meier zum Telefon griff. Jemand musste ihm zuvor gekommen sein.

      Dreizehn

      Weder Moser noch Meier noch die jungen Polizisten Graber und Linsenmann kamen nach der Nachtschicht zu ihrem verdienten Feierabend. Mosers Gesicht war mit hektischen roten Flecken übersät, als sie frühmorgens die frischen Rapporte abheftete und endlich den Posten verliess. Es war Sonntag, und fürs erste Tram war es noch zu früh. Übermüdet schlurfte die Polizeikommissärin ihrer Wohnung zu, etwa zur selben Zeit, als auch Meier schwankend vor Erschöpfung das Kantonsspital verliess. Er fuhr zusammen, als Polizist Linsenmann unvermittelt aus dem Schatten trat und rapportierte, es sei ihm nach heftigen Diskussionen mit einem sturen Zollbeamten gelungen, das aus dem Rhein geborgene Pferd bei einem Bauern im nahen Elsass unterzubringen. Es sei verschwitzt und schreckhaft und sehr nervös gewesen, habe sich aber unter der kundigen Hand des Elsässers beruhigt. Nun stehe es also in dessen Stall, fresse seinen Hafer und warte darauf, dass sein Besitzer in der Lage sei, es wieder abzuholen.

      Sein Besitzer, entgegnete Meier resigniert, sei mehr oder weniger mit dem Schrecken davon gekommen. Die Ärzte hätten es kaum fassen können, dass jemand von einem Sturz aus solcher Höhe lediglich ein paar Prellungen davongetragen habe. Der Schock des Mannes sei zwar beträchtlich gewesen, doch habe er sich auch davon in Windeseile erholt. Kurz und gut, kaum hätten alle Ärzte und Krankenschwestern das Zimmer verlassen, um dem Patienten Ruhe zu gönnen, habe sich dieser in Luft aufgelöst.

      Linsenmanns Augen weiteten sich und sein Gesicht leuchtete noch blasser aus dem Schatten des Eingangspfeilers, in welchem er noch immer stand.

      Meiers Gesicht verzog sich zu einer müden spöttischen Grimasse.

      „Du glaubst wohl an Geister, was, Linsenmann?“

      „Durch die Tür konnte der Patient ja nicht entkommen“, stotterte Linsenmann aufgeregt. „Du hast doch davor Wache gestanden.“

      „Leider nein“, gestand Meier freimütig. „Ich war auf der Suche nach einem Kaffeeautomaten. Falls das Perpetuum Mobile schon erfunden worden ist, bin ich es jedenfalls nicht.“

      Jetzt verzog sich Linsenmanns Gesicht zu einem Grinsen, welches Meier ganz richtig als schadenfreudig deutete.

      „Moser wird ...“, begann er, aber Meier schubste ihn in Richtung Strasse und sagte: „Mach, dass du nach Hause kommst, Linsenmann. Ein bisschen Schlaf kann einem Gespensterjäger wie dir nicht schaden.“

      Linsenmann stolperte davon und malte sich genüsslich aus, was Graber zu der Geschichte sagen würde, wenn er sie ihm erzählte.

      Meier stieg hinter dem Hotel Dreikönig an den Rhein hinunter und setzte sich auf die unterste Stufe. Er hatte keine Lust auf einen Fussmarsch nach Hause, und wenn die Trams ihren Betrieb aufnahmen, würde er es von hier aus hören. Er hätte nichts dagegen gehabt, Hans Christian auftauchen zu sehen. Etwas Gesellschaft wäre ihm recht gewesen.

      Aber es blieb still. Niemand war unterwegs am frühen Sonntagmorgen. Und selbst der Rhein, der wenig Wasser führte, gab nur verhalten Geräusche von sich. Während es langsam hell wurde grübelte Meier darüber nach, was für eine seltsame Stadt Basel doch geworden war, seit Polizeikommissärin Moser zu viele Horoskope las.

      Vierzehn

      William war in Eile, wie immer, wenn er zu einem Schliessfach unterwegs war. Der Doktor fand, es sei offensichtlich, dass der alte Arzt über ein nicht unbeträchtliches Vermögen verfügte, denn er nannte mehrere Villen an der Côte d’Azur sein eigen, die er aber nur selten bewohnte. Einen Kleiderschrank oder einen Koffer aber besass er nicht, und meist war er damit zufrieden, als Gast des Doktors in der Villa zu leben. Was er hingegen hütete wie seinen Augapfel war ein dicker Bund mit Schlüsseln in allen Grössen und Formen, und nur ein einziges Mal, als der Doktor ihn in einer aussergewöhnlich dreisten Anwandlung scherzhaft gefragt hatte, wie viele Leichen er in wie vielen Kellern oder Schliessfächern in wie vielen Ländern aufbewahre, war ihre Freundschaft ernsthaft ins Wanken geraten. Was die Schliessfächer in aller Welt betraf, zu denen William die Schlüssel am Gürtel trug, verstand er keinen Spass, und so erzählte er dem Doktor die Wahrheit darüber; eine Wahrheit, die der Doktor für einen gelungenen Scherz eines geborenen Geschichtenerzählers und für eine haarsträubende Ausrede hielt. Er dachte nicht daran, William zu glauben, dass er seine blütenweissen Hemden, seine Unterwäsche, sein ganzes Geld, seine angefangenen Manuskripte und die Reiseschreibmaschinen, auf denen er sie verfasste, in Schliessfächern auf den Bahnhöfen und Flughäfen dieser Erde aufbewahrte. Williams Aussagen, er brauche ein Hemd, frische Unterwäsche oder Geld für Zigaretten, die ihn jeweils gehetzt aufspringen und überstürzt das Haus verlassen liessen, waren nach der Meinung des Doktors Euphemismen für „Jetzt hab ich aber genug! Ich muss endlich wieder mal weg hier!“

      Nach der Geburt des Kindes war Williams Hemd mit Blutspritzern übersät. Er wusch sich in grösster Eile die Hände, und der Doktor sah missmutig zu, wie er dabei die Wand bekleckerte.

      „Wo gehst du hin?“ fragte er und hob hilflos das leichte Bündel in seinen Armen an, als William mit grossen Schritten an ihm vorbeistürmte.

      „Nach Prag!“ rief der alte Hausarzt über die Schulter zurück. „Ich brauche ein frisches Hemd.“

      Er liess die Tür offen stehen und schlüpfte auf