Ganz für sich allein. Werner Koschan

Читать онлайн.
Название Ganz für sich allein
Автор произведения Werner Koschan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738097450



Скачать книгу

diese Gemeinsamkeit für uns zu Ende zu sein. Welchen Keller, der uns beiden zugänglich war, sollten wir beim nächsten Angriff aufsuchen? Bei aller Liebe zu dem Haus, in dem wir lebten, einen Angriff in dem Verschlag

      abzuwarten, mochte ich nicht riskieren. Obwohl mir ja seit meiner Jugend das Haus ausgesprochen gut gefiel. Schon allein der Name ›Triersches Haus‹. In den Erker war ich bereits als Gymnasiast verliebt gewesen. Ultra posse nemo obligatur, proklamierte ich stets, wenn ich das Haus bewunderte. Niemand ist verpflichtet, etwas ihm Unmögliches zu leisten, heißt das, aber da wir Juden von jeher ein wenig besser sein müssen, etwas mehr leisten müssen als die anderen, war ich überzeugt, dass ich es einst schaffen würde, eine Wohnung in diesem wunderschönen Haus zu besitzen, wenn ich mir nur genügend Mühe gäbe. Als Carola eines Tages ganz nebenbei bemerkte, dass im Trierschen Haus eine Wohnung zu vermieten sei, hatten wir keine Minute lang gezögert. Zumal es im Volksmund ›Das Judenhaus‹ genannt wurde - hier wähnte ich mich zumindest als Gleicher unter Gleichen vor Denunzianten sicher.

      8.

      Mit dem Finger fahre ich die Konturen der Ziffern 1 und 3 auf dem Kalenderblatt nach. Faschingsdienstag. Nur zwei verkleidete Menschen habe ich heute gesehen, zwei kleine Mädchen tanzten oder hüpften am Neumarkt entlang. Eines sollte einen Clown darstellen, das andere wohl eine Prinzessin. Beneidenswert. Die anderen Leute waren gar nicht wirklich verkleidet, die trugen nur die üblichen Uniformen oder Lumpen. Und wie überall auf der Welt tragen auch bei uns nur Lumpen Uniform.

      Carola schaut mich strafend an, manchmal bin ich mir sicher, dass sie meine Gedanken errät. Sie ist tausendmal klüger als alle Handlanger des Tausendjährigen Reiches zusammen! In Dresden laufen im Moment zahllose ärmlich gekleidete Flüchtlinge aus dem Osten herum, überwiegend lauter ganz arme Schweine. Dagegen komme ich mir beinahe vor wie ein alberner König. Ich kann mir gut vorstellen, wie diesen Menschen zumute sein muss. Alles aufgegeben, alles verloren. Und alles nur, weil ein paar größenwahnsinnige Militaristen erneut einen Weltkrieg vom Zaun brechen mussten. Und weswegen? Aus Rache für den völlig zu Recht verlorenen Kaiserkrieg? Für Großdeutschland? Na, wenn dieser zweite große Krieg jetzt bald zu Ende sein wird, wird Deutschland ganz schön überschaubar sein. Hoffentlich zieht man dann die Verantwortlichen wenigstens diesmal gehörig zur Rechenschaft, obwohl das unwahrscheinlich ist.

      Ich werde das Kriegsende sowieso nicht mehr erleben, denn mit mir wird es am Freitag vermutlich endgültig vorbei sein. Und diese Tatsache traue ich mich gar nicht Carola zu erzählen. Ich schaue durch unser Erkerfenster auf die Schlossstraße. In der trüben Dunkelheit schimmert mein Spiegelbild auf der Glasscheibe. Rechtsanwalt Doktor Jakob Löwenthal. Doktor bin ich zu meinem eigenen Erstaunen tatsächlich noch. Haben die gleichgeschalteten Kammerkollegen glatt vergessen, mir den Titel abzuerkennen.

      Vor mir in der Scheibe erscheint Carola und ich höre ihre Stimme hinter mir.

      »Schließe die Verdunkelung, Jakob. Es wird höchste Zeit.«

      Gehorsam klemme ich die Pappdeckel in den Rahmen des Erkerfensters, dann die anderen vor die übrigen Fenster unserer Wohnung und lasse den Tag Revue passieren.

      Der Morgen dieses 13. Februar 1945 blieb ohne die allmorgendlich befürchteten Schläge gegen die Wohnungstür. Tagsüber war ich unterwegs gewesen und hatte nach Essbarem gesucht. Stundenlang war ich erfolglos durch die Stadt gepilgert und hatte beschlossen, mich wenigstens an den Schaufenstern entlang der Pillnitzer Straße sattzusehen. Unser Bäckermeister Ehrhardt, der mich in seinem Laden in der Pillnitzer Straße schon lange nicht mehr bedienen darf, war trotzdem aus seiner Bäckerei geeilt, als er mich erkannte und hatte mir im Vorbeigehen zugeraunt, ich solle in einer Viertelstunde in seinem Hof sein. Er hätte was für uns. Hoffentlich was Essbares, hatte ich mir ausgemalt.

      Der Hof war mit Brettern überdacht und somit nicht einsehbar. Er war mir dessen ungeachtet absolut verboten und ich betrat ihn nur sehr zögernd, den Hut wie zum Gruße abgenommen vor meinen Stern haltend.

      Meister Ehrhardt hatte wohl auf mich gewartet, denn er trat sofort durch die Hoftür der Bäckerei zu mir. Er drängte mich in den Verschlag, in welchem das Brennholz lagert und man ungesehen war. Meister Ehrhardt blieb bei der Tür stehen und beobachtete unentwegt den Hof, während er zu mir sprach. Komisch, dass sich jeder wie ein gehetztes Tier umschaut, wenn er mit mir spricht. Ich komme mir vor wie ein Aussätziger.

      »Herr Doktor Löwenthal, schön, Sie wieder mal zu sehen.« Er drückte mir einen neutralen Stoffbeutel in die Hand. Ich blickte hinein. Ein großes, dunkel gebackenes Graubrot erkannte ich darin und sogar einige Brötchen. Das bedeutete ein paar Tage lang keinen beißenden Hunger.

      »Vielen, vielen Dank«, sagte ich.

      »Danke für nichts«, wehrte Ehrhardt ab und flüsterte: »Sie sollten sich kräftig satt essen und schleunigst von hier verschwinden, Herr Doktor.«

      Ich schaute den Beutel und danach Meister Ehrhardt an. Was sollte denn das? Erst beschenkt er mich und dann jagt er mich davon?

      »Wieso...«

      »Weil Sie bestenfalls 72 Stunden Zeit haben zu verschwinden, Herr Doktor.« Er trat aus dem Verschlag, schaute sich umsichtig im Hof um und warf einen Blick zur Straße hinaus. Dann trat er zu mir. »Ich habe gehört - von wem, tut nichts zur Sache - dass nun auch die verbliebenen paar Juden aus Dresden ausgesiedelt werden und sich am Freitag, den 16. Februar am Bahnhof einzufinden haben. Es heißt, dass sie von dort in ein ›Schweizer Lager‹ transportiert werden.«

      Ausgesiedelt?! Also doch noch, durchfuhr mich der Schreck. So kurz vor dem Ende doch noch. Aber vielleicht werden wir lediglich ausgebürgert, hoffte ich. Möglicherweise nur vor den anrückenden Russen versteckt? Man glaubt ja, was man hofft.

      »Diesen Freitag?«

      »Ja.«

      »Was bedeutet Schweizer Lager?«, wollte ich wissen.

      »Was das bedeutet, können Sie in diesem Papier ganz genau nachlesen; ist eigentlich ein Brief, der von Rechts wegen niemals hätte geschrieben werden dürfen.« Er drückte mir ein ganz klein zusammengefaltetes Päckchen Papier in die Hand und schloss meine Finger darum. »Ich habe das von jemand bekommen, der mich für vertrauenswürdig hält. Derjenige hat es ebenso wieder von einem anderen bekommen und ich gebe es Ihnen weiter. Wenn dieser Brief einem Falschen in die Hände fallen sollte, ist das Leben des Briefbesitzers keinen Pfennig mehr wert. Wer immer diese Dinge aufgeschrieben und weitergegeben hat, hat unser aller Leben riskiert, als er den Brief weitergab. Wenn die Gestapo den jeweiligen Besitzer in die Klauen bekommt, werden die Herrschaften im Handumdrehen den Weg der Besitzer zurückverfolgen können. Und die machen kurzen Prozess. Denn die Herren möchten auf keinen Fall, dass bekannt wird, was in diesen Lagern passiert. Ich finde, man muss berichten, was geschieht, sonst wird es womöglich irgendwann heißen, dies sei alles gar nicht wahr; Hirngespinste, Gräuelpropaganda und dergleichen. Lesen Sie und geben Sie den Brief weiter, aber bitte sehr, sehr vorsichtig. Und wenn man Sie verfluchterweise tatsächlich damit erwischen sollte, fressen Sie die Blätter auf. Noch baut die Reichsführung auf absolute Geheimhaltung, was die Judenfrage dezidiert bedeutet. Das Ganze wird allerdings langsam durchlässig wie ein poröser Schwamm. Und deswegen wird jedermann möglichst versuchen, die Wahrheit unter den berühmten Teppich zu kehren, notfalls mit weiterem Mord und Totschlag, nur um hinterher zu behaupten, niemand hätte von nichts etwas gewusst. Kann man nur hoffen, dass diesen Schutzbehauptungen nicht geglaubt wird, wenn der Spuk dann mal vorbei ist.«

      Mir lief es kalt den Rücken hinunter.

      »Wird man also uns, die wir mit Ariern verheiratet sind, ebenso abtransportieren?«

      Er nickte knapp. »Andere sind ja nicht mehr hier. Lesen Sie und verschwinden Sie!« Dann bat er mich, den Hof durch die Verbindungstür zum Keller des Nebenhauses zu verlassen. Dabei drückte Ehrhardt mich an sich. »Schalom sagt man ja wohl bei Ihnen.« Mit diesem Wort hatte mich schon lange kein Mensch mehr verabschiedet. Er verzog den Mund und stieß Luft hörbar durch die Nase, schüttelte den Kopf und ließ mich stehen.

      Ich hatte das kleine Papierpäckchen ins Schweißband meines Hutes gesteckt