Ganz für sich allein. Werner Koschan

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Название Ganz für sich allein
Автор произведения Werner Koschan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738097450



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nur wegen der im Reich eingeführten Sommerzeit, die helfen soll, den Krieg zu gewinnen. So ein Blödsinn! Der Krieg ist längst verloren! Bloß kann niemand sagen, wie lange seine Agonie dauern wird. Ich schaue hinaus aufs Schloss. Wie war das früher schön, als es hell erleuchtet stand. Nun ist alles stockfinster, eben herrliche Zeiten - auch so eine Phrase.

      Carola hat Tee aufgebrüht. Sie sieht mir wieder mal an, was ich denke. Ich will ja gar nicht, aber es denkt sich ganz von alleine. Das versteht sie nicht.

      »Wer weiß, ob die Gestapo nicht sogar Gedanken lesen kann«, flüstert sie manchmal und schaut mich vorwurfsvoll an.

      Ich höre ja schon auf und nicke ihr freundlich zu. Gleich lege ich den Kalender weg. Komisch, dass die Gedanken mit mir durchgehen, wenn ich das Ding in die Hand nehme. Albert Mitteldorf hatte recht, als er uns im August 1944 zu Carolas Geburtstag besuchte und nach einigen Gläsern Bier - das er selbst mitgebracht hatte - mit lockerer Zunge bemerkte: »Die Herren von der Kunstakademie in Wien hätten den Kerl aus Braunau bei sich studieren lassen sollen. Hätte keinem geschadet, der Welt hingegen wäre vermutlich viel erspart geblieben.«

      Dies stelle ich mir unentwegt vor. Sicherlich würde ich dann immer noch als Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Strafrecht meine Kanzlei führen. Und zum Privatvergnügen nebenbei am Gymnasium Nachhilfe geben und dem einen oder anderen Schüler Deutsch beizubringen versuchen. Deutsch ist wirklich eine sehr interessante Sprache, obwohl sie in den letzten zwölf Jahren vergewaltigt worden ist.

      Carola gießt den dünnen Tee ein. Den brüht sie nach ihrer ganz persönlichen Methode, denn auch Tee ist Mangelware. Carolas Tee-Methode geht folgendermaßen: Den ersten Aufguss genießen wir am Sonntag. Montag bereitet sie aus zwei Portionen aufbewahrtem Teesatz eine neue Portion Tee. Und heute ist bereits Dienstag. Da färben die Reste das heiße Wasser allenfalls ein wenig. Von würzigem Geschmack will ich da gar nicht erst reden. Lausige Zeit, diese deutsche Heldenzeit - wieder so eine Phrase. Ich lächle Carola möglichst unschuldig an.

      Gestern war ich bei meinem Freund Mäßig zu Besuch, der besitzt einen Volksempfänger und normalerweise wenn ich bei ihm bin, stellt Mäßig den Apparat aus. Ich darf ja nicht hören. Gestern hat er ihn eingeschaltet gelassen.

      »Ich komme später zurück«, hatte ich gesagt, aber Mäßig hatte mich auf einen Stuhl gedrückt und laut gelacht.

      »Bleib hier, Mensch, Kaltenbrunner versucht Hochdeutsch zu sprechen. Hör mal zu. Das klingt, als hätte eine schwangere Elefantenkuh Blähungen.«

      »Wieso schwanger?«, hatte ich wissen wollen.

      Mäßig winkte ab. »Die Stimme klingt so furzig, dass ich den Lulatsch mit den Schmissen in der kantigen Mörderfresse geradezu vor mir sehe! Hahaha.«

      Mäßig hatte eigentlich völlig recht mit diesem Vergleich. Die Nazis sind doch bloße Blender, überhaupt alles in dieser Bewegung ist reines Blendwerk, schlichtester Betrug. Und deswegen würde ich Carola am liebsten offenbaren, dass ich mir sicher bin, dass die Kerle keine Gedanken lesen können. Wäre ja noch schöner. Aber ich halte lieber meinen Mund. Schließlich lebe ich nur noch, weil ich mit ihr verheiratet bin; nein andersherum, sie mit mir, denn ich genieße den Schutz des Halbjuden durch die Ehe mit einer reinrassigen Arierin. Welch ein idiotischer Begriff! Man muss Massel haben, wenn man den Tod überleben will. Rosenzweig hatte Pech, seine arische Ehefrau war von einer dieser komischen Bomben erschlagen worden.

      Ich kann mich genau daran erinnern. Am 8. Oktober war das, im vergangenen Jahr. Dazu an einem Sonntag. Im ganzen Reichsgebiet wurde ein Wehrertüchtigungstag veranstaltet, in dessen Verlauf der Jahrgang 1928 sich als Kriegsfreiwillige melden sollte. Ein Kindergarten, angeführt von ein paar Hitlerjungen mit Befehlsbefugnis, marschierte durch die Stadt und passenderweise gab es den ersten Luftangriff auf Dresden.

      Was haben wir gestaunt, als wir aus den Kellern kamen und entdeckten, dass überhaupt nichts zerstört war, sondern lediglich eine Menge Zeitungen im Kleinformat auf den Straßen herumflatterten. Die durfte man selbstverständlich nicht behalten, sondern musste sie sofort abgeben. Gelesen haben wir sie trotzdem und danach sprach es sich unter der Hand herum, dass wahrhaftig diese alliierten Teufelskerle ihr Leben eingesetzt hatten, um Propagandabomben auf uns niederregnen zu lassen, die nicht Tod und Verderben brachten, sondern alliierte Informationen zum Stand des Krieges. Eine dieser Propagandabomben hatte Rosenzweigs Frau sehr unglücklich getroffen und getötet. Und ihn, als nun nicht mehr durch die Ehe beschütztem Juden, hat man umgehend ins KZ geschickt. Gehört habe ich nichts mehr von ihm.

      Jeden Tag, wenn ich den Kalender zur Hand nehme und einen überlebten Tag ausstreiche, besteigen mich diese Gedanken. Und das meine ich genau so, denn es bedrückt nicht nur. Das mag auch daran liegen, woher ich den Kalender habe. Bierlos hat ihn mir nämlich geschenkt. Bruno Bierlos. Am Silvesterabend. Habe ich mich schon beinahe dran gewöhnt, obwohl ich weiterhin ›Rosch ha-Schana‹, unser Neujahrsfest feiere. Zumindest begehe ich dieses Fest still und leise mit mir selbst.

      3.

      Bruno Bierlos. Sehkraft wie ein Maulwurf. Trotzdem übersahen seine klugen Augen hinter den minus 8 Dioptrien starken Gläsern auf der Stupsnase nichts Wesentliches. Als 1933 der Schulsport völkische Pflicht wurde, hat er sich vom Kletterseil fallen lassen und sich eine Hüfte gebrochen. Er hinkt infolgedessen leicht, und war seitdem von zumindest der vormilitärischen Pflichtübung der Körperertüchtigung befreit. Dass er sich bewusst fallen lassen hatte, konnte man ihm nie beweisen. Keiner der neuen Helden nahm ihn für voll, denn er grölte keine Parolen. Allerdings brachten ihm seine schlagfertigen Argumente gelegentlich Prügel ein. Er galt als Außenseiter. Aber sein Gehirn war aufnahmefähig wie ein feuchter Schwamm.

      Seit Mitte der Zwanzigerjahre war die Arbeitslosigkeit gestiegen und der Staat konnte sich kaum Lehrkräfte leisten. Es herrschte reichsweit Lehrermangel und ich gab deswegen zu meinem eigenen Vergnügen und völlig kostenlos Nachhilfestunden in Deutsch am Gymnasium. Bis mich im Frühsommer 1933 der Deutschlehrer der Anstalt, Herr Oberstudienrat Güntz ansprach. Er wunderte sich über die urplötzlich nur noch bestenfalls genügenden Leistungen von Bruno Bierlos im Deutschunterricht. Güntz wusste, dass mir Bruno Bierlos etwas förderungswürdiger erschien als die meisten anderen und bat mich, mit Bruno zu reden. Bis dato hatte er in sämtlichen Fächern gut oder besser gestanden und so fragte ich ihn nach dem Grund seiner schlechten Deutschnoten.

      »Mein lieber Herr Doktor Löwenthal, Deutschtum ist ja nun Pflicht und das liegt mir nicht so«, hatte er schmunzelnd erklärt. Der junge Mann zeigte Charakter, die meisten Menschen in Deutschland vor lauter Dickfelligkeit nicht einmal Rückgrat.

      Bruno schwieg zwar, um nicht aufzufallen, aber er verweigerte sich konsequent den völkischen Pflichten. Sich aus Parteiorganisationen herauszuhalten gelang ihm leicht, denn seine körperliche Schwäche blieb augenscheinlich. Krüppel passten bereits damals nicht in Goebbels Propagandabild. Wer mag schon an die eigene Missbildung erinnert werden?

      Anfang 1934 durfte ich nicht mehr ins Gymnasium. Die arische Jugend dürfe nicht Nachhilfe von einem Untermenschen erhalten, so hieß es. Juden unerwünscht! Mir hatte man lediglich einen Zettel an unsere Wohnungstür genagelt, auf dem geschrieben stand: ›Juden dürfen das Schulgelände bei Strafe nicht mehr betreten. Ab sofort! Unwiderrufliche Entscheidung der Reichsschulleitung. Widerspruch zwecklos.‹ Hakenkreuzstempel und unleserliche Unterschrift.

      So verlor ich Bruno leider aus den Augen. Und wenn man auf der Abschussliste steht, hält man sich besser zurück, forderte Carola.

      Am Montag, den 16. September 1935 wurde mir der Beschluss über mein Berufsverbot als Jurist eingeschrieben zugestellt. Ich sei kommunistischer Umtriebe überführt, lautete die Begründung, da ich mit der Sonntagsausgabe des Neuen Vorwärts vom 8.9.1935, in welcher Otto Wels gegen die nationalsozialistische Rassenhetze eintrat, auf dem Neumarkt angetroffen worden war. Man unterzog mich eines Schnellverfahrens ohne Anhörung. Folge, wie gesagt, das Berufsverbot und der Einzug meines Vermögens sowie Androhung weiterer Repressalien. Seit dem Tag bin ich vorsichtiger denn je. Schließlich habe ich sogar noch Glück gehabt.

      Riebelutz, der Nachbar Kowalskis aus der