Ganz für sich allein. Werner Koschan

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Название Ganz für sich allein
Автор произведения Werner Koschan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738097450



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schrie Bruno: »Was fällt Ihnen ein?! Name, Anschrift! Sie wollen die Hinkenden vergasen, damit haben Sie ganz offensichtlich unsern allseits geliebten Minister Goebbels gemeint. Kerl, mit Ihnen machen wir kurzen Prozess! Muss sofort eine Streife her!« Bruno zückte die Trillerpfeife und hob sie zum Mund.

      Entsetzen beherrschte nun das Gesicht des PG.

      Eine Frau mit erloschenen Augen trat aus der Zuschauermenge nah zu uns. »Das ist Kurt Schmidt. Wohnt in Schössergasse Nummer 12, zweiter Stock. Ich wohne ebenfalls dort in einem Zimmer, Tiefparterre. Kurt Schmidt ist aus tiefster Berufung Denunziant. Meinen Mann hat er auch auf dem Gewissen. Ich habe gehört, was er gerade über unseren Propagandaminister gesagt hat und werde es vor jedem Gericht bezeugen.« Sie blickte ihm aufrecht ins Gesicht. »Du glaubst gar nicht, wie ich die Angst in deinen Augen genieße, Kurt. Darauf warte ich seit Jahren und ich habe immer noch das dringende Bedürfnis, dich anzuspucken. Aber meine Spucke ist für deine Visage viel zu schade.« Sie spuckte vor die Füße des PG und verließ uns durch den sich langsam öffnenden Kordon der Zuschauer. Sie wirkte wie eine Fee. Elfenhaft beinahe, als schwebe sie auf einer Wolke.

      Bruno wirkte wie in der Schule, wenn er wieder mal irgendeinen Schreihals vor versammelter Mannschaft an die Wand geredet hatte.

      »Ich werde bei der SS über Sie Meldung machen, Herr Schmidt. Ist jemand von Ihnen ...«, Bruno wandte sich an die Umstehenden, »ist jemand bereit, mich als Zeuge zur SS zu begleiten?« Im gleichen Augenblick war die Menge auseinander. Die zwei Begriffe Zeuge und SS hatten genügt, dass die Leute davoneilten. Bruno sprach nun zum PG. »Eine Zeugin ist ausreichend, Herr Schmidt. An Ihrer Stelle würde ich so schnell wie möglich verschwinden. Freuen Sie sich inzwischen auf die Befragung! Ich denke, dass die Beleidigung des Ministers strikt bestraft werden wird. Die Guillotine ist von der SS seit Langem als viel zu human abgeschafft. Die neueren Methoden haben die Herren sich bei der Kirche abgeschaut, obschon hier bei uns die Leute bislang nicht lebendig verbrannt werden, glaube ich. Aber auch in Sachen Hängen sind die Herrschaften hoch motiviert. Zur Abschreckung natürlich nur, schließlich sind wir ein Volk von Herrenmenschen. Hauen Sie ab, ich denke, morgen früh wird man Sie abholen! Na los, oder sollen wir das direkt erledigen?« Bruno hob erneut die Pfeife an die Lippen. So viel Brutalität hätte ich Bruno gar nicht zugetraut.

      Der Mann verließ den Platz mit hängenden Schultern. Ein lebender Kadaver.

      »Musste das sein?«

      »Ja. Der Kerl würde uns ohne mit der Wimper zu zucken anzeigen und mit Genuss aufs Schafott bringen.«

      »Und was geschieht nun? Willst du wirklich eine Anzeige machen? Die arme Frau da mit hineinziehen? Außerdem glaube ich nicht, dass man einen Parteigenossen wegen einer solchen Lappalie aufhängen wird.« Ich tippte auf meinen Stern. »Ich möchte mit denen nichts zu tun haben.«

      Bruno schaute sich nach allen Seiten aufmerksam um und vergewisserte sich, dass niemand mehr zugegen war. »Machen Sie sich mal keine Sorge, glauben Sie, ich will mit denen was zu tun haben? Ich werde dem Scheißkerl morgen früh erneut gut zureden. Leute, wie der, machen mittlerweile jede noch so widerliche Sauerei, bloß damit sie wenigstens ein Weilchen weitermachen können. Die wissen ganz genau, dass es mit ihrer Narrenfreiheit bald vorbei ist und dass sie dann womöglich zur Verantwortung gezogen werden. Seit dem 20. Juli hoffen ein Haufen einfacher Leute wieder und trauern nur darum, dass Hitler nicht im Sarg herausgetragen wurde.«

      Obwohl die Worte lebensgefährlich waren, musste ich nach Monaten zum ersten Mal lächeln. Wortwitz à la Bruno Bierlos.

      5.

      Am Silvesterabend 1944 erschien Bruno mit zwei Flaschen Wein und einer Schallplatte unter dem Arm, sowie einem gehäuteten Kaninchen ohne Kopf in einem Blatt Zeitungspapier. Unwillkürlich musste ich an Mäxchen denken. Statt Kaninchen waren schon im letzten großen Krieg viele Katzen gegessen worden. Das war sicherlich in unserer Zeit herrlicher Größe nicht wesentlich anders. Dazu gab es Bratkartoffeln mit Zwiebeln. Obwohl es nirgendwo Zwiebeln zu geben schien. Man tuschelte, dass aus Zwiebeln irgendein kriegsentscheidendes Gas hergestellt würde, als Pendant zum Senfgas oder so ähnlich.

      So unglaublich es auch klingen mag, trotzdem hatte ich Zwiebeln aufgetrieben. In der Ziegelstraße, Ecke Elias-Platz neben dem Friedhof. Am Silvestermorgen hatte dort ein Handkarren gestanden, auf dem Grünkohl, Kartoffeln und Mohrrüben lagen. Neben dem Karren stand eine an sich jung wirkende Frau mit dennoch bereits schlohweißem Haar. Unsere großartige Zeit hatte sie wohl so früh vergreisen lassen. Sie verkaufte das Gemüse. Ich betrachtete die Mohrrüben und konnte mich nicht erinnern, wann ich solche Köstlichkeiten zum letzten Mal gegessen hatte.

      Wir lebten seit Jahren nur auf Carolas Karten und was es dafür zu kaufen gab, reichte kaum für sie allein. Mir wurde schwindelig. Wie sehr kann Hunger einem das Gehirn vernebeln.

      Eine andere Frau, die ein buntes Tuch um ihren Kopf geschlungen hatte und ein Fahrrad schob, hatte mich beobachtet, denn sie blieb vor mir stehen und nickte mir zu. Ihr Blick berührte nur einen Augenblick meinen Stern.

      »Haben Sie kein Geld?«

      Ich biss mir auf die Lippen und senkte den Blick.

      »Ich habe keine Marken«, antwortete ich. »Entschuldigen Sie bitte.« Lieber schnell weg, dachte ich und drehte mich um.

      »Nun laufen Sie nicht gleich davon, Herr Doktor.«

      Derart angesprochen blieb ich stehen. »Sie kennen mich?«

      »Natürlich. Ich bin die Mutter vom Paul. Paul Malert, Herr Doktor. Erinnern Sie sich nicht?«

      »Paul Malert, und ob ich mich an den Bengel erinnere.« Wieso ich ihn so genau im Gedächtnis hatte, verschwieg ich lieber. Ich hatte den pubertierenden Paul nämlich seinerzeit mal in einer sehr delikaten Situation mit drei ebenso blutjungen wie nackten Mädchen ertappt. Kann man einer Mutter unmöglich erzählen. »Wie geht es Paul?«

      »Ich hoffe gut. Er ist Soldat, aber er schreibt leider viel zu selten, der Bengel. Das haben Sie ganz richtig gesagt. Weshalb haben Sie denn keine Lebensmittelmarken?«

      »Na, Sie sind vielleicht gut. Ich trage den ›Pour de Sémite‹.« Ich tippte gegen den Stern. »Wir dürfen doch an der völkischen Nahrungsfürsorge nicht teilhaben.«

      »Im Ernst? Das habe ich nicht gewusst. Das ist ja unerhört! Wovon leben Sie denn dann?«

      »Meine Frau ist Arierin und sie bekommt Marken. Wir teilen halt.«

      »Und das soll sozial sein?«

      »Wieso sozial?«

      »Na, wofür steht denn das ›S‹ im Parteinamen, wenn nicht für sozialistisch?«

      »Jedenfalls nicht für mitmenschlich! Lassen Sie uns aufhören, Frau Malert. Ich darf überhaupt nicht so reden. Zurück zu Ihrer Frage«, mit den Nägeln der rechten Hand kratzte ich den Handteller der linken, »offen gesagt, Geld habe ich auch nicht.«

      Frau Malert lächelte. Sie beobachtete mich eine Weile nachdenklich und unter diesem Blick fühlte ich mich nackter als bei Verhören durch die Polizei. Ihre Augen wirkten durch ihre dicken Brillengläser wie ungewöhnlich große dunkle Murmeln. Sie schaute nochmals zu meinem Stern und verzog angewidert den Mund. »Haben Sie Kinder?«

      Ich schüttelte den Kopf. »Zum Glück für die Kinder haben wir keine.«

      »So gesehen haben Sie recht«, erwiderte die Frau. »Die Kinder tun mir am meisten leid. Wie lange es wohl dauern wird, den Blagen diesen ganzen Irrsinn aus den Köpfen zu kriegen. Halten Sie mal bitte.« Sie hielt mir den Fahrradlenker hin und ging zu der Gemüsefrau, verlangte eine Handvoll Kartoffeln und einige Mohrrüben, kam wieder zu mir und steckte mir die Kostbarkeiten in die Manteltaschen. Nun trat die Verkäuferin zu mir und steckte zwei schöne Zwiebeln dazu. »Allein hätte ich mich das niemals getraut«, gestand sie.

      »Weswegen? Schenken ist schließlich nicht verboten«, ereiferte sich Frau Malert.

      Vor Hunger, Vorfreude auf