Ganz für sich allein. Werner Koschan

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Название Ganz für sich allein
Автор произведения Werner Koschan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738097450



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Gelesen habe ich den Brief heute Mittag im Verschlag, dem Judenkeller unseres Hauses. Außer bei Vor- und Vollalarm hält sich keine Menschenseele auch nur in seiner Nähe auf. Und niemand hat mich beim Lesen überrascht.

      Die Worte standen deutlich lesbar in lateinischen Druckbuchstaben geschrieben.

      9.

       Birkenau im Winter 1943

      Ich kann nicht mehr. Wenn man diese Zeilen liest, werde ich bereits tot sein. Ich, der SS-Mann von der Rampe.

      Ich muss dies einfach loswerden, denn trotz allem Schnaps, den man uns zu den Einsätzen an der Rampe spendiert, kann ich mit dem, was wir hier in Birkenau machen, nicht mehr leben.

      Für heute waren wieder Ofentransporte angekündigt; wie leichthin kann ich nur diesen Begriff benutzen? Ich hatte gehofft, dass es mit diesen Transporten allmählich vorbei sein würde, dass es endlich nicht mehr genug Leute gäbe. Ich habe mich getäuscht. Und zwar gründlich! Das Grauen geht weiter. Und am widerlichsten empfinde ich, dass manche Kameraden sich geradezu auf diese Transporte freuen, denn jeder mit lebenden Kadavern gefüllte Waggon bringt erhebliche Gewinne mit sich. Die Hiwis, die Hilfswilligen, Häftlinge, die als Hilfskräfte die eigentliche Arbeit an der Rampe machen, johlen vor Begeisterung auf die zu erwartende Habe der Transportierten. Wir SS-Männer sind ja im Grunde nur zur Aufrechterhaltung der Ordnung da. Nur!

      In der Hilfswilligen-Baracke sind diese Hiwis separat untergebracht, damit die anderen Zwangsarbeiter nicht mitbekommen, wie verhältnismäßig gut es denen im Gegensatz zu den normalen Häftlingen geht. Ich bemerke den Melder, der wie üblich vor diesen Transporten in die wiederum separat abgegrenzte Ecke des Barackenältesten eilt. Daraufhin tritt der Kalfaktor hoheitsvoll aus seinem Verschlag.

      »Raus, Männer, eine Lieferung kommt!«

      Im nächsten Augenblick sind die Hiwis in der frostklirrenden Kälte draußen. Saukalt ist es, verflucht noch mal, und die Helfer warten in der eisigen Kälte nur mit den gestreiften Anzügen bekleidet, man mag es kaum glauben. Ich habe wenigstens den Schnaps. Meine Feldflasche ist schon halb leer und kalt ist mir trotzdem, der Wehrmachtsfusel taugt nichts.

      Ein verschlafener SS-Kamerad hält eine große Tafel in der Hand und zählt die Hiwis zu je fünf Mann pro Reihe ab. Zwanzig Reihen marschieren an ihm vorüber und nach ein paar Hundert Metern erreichen sie die Rampe von diesem Viehbahnhof. Früher wurden von diesem Scheißkaff aus wahrscheinlich Rindviecher zum Schlachten abtransportiert - heute werden Menschen hergekarrt, um wie Schlachtvieh ins Gas zu gehen. Zum Kotzen; die Feldflasche kann ich hoch an die Lippen setzen, da kommt nichts mehr heraus. Werde ich mir von der plattbusigen, hässlichen Sturmführerin erneut auffüllen lassen. Das ist das einzig Erfreuliche an unserem Dienst, Schnaps gibt es reichlich auf Staatskosten, wenn es ums nationalsolidarische Morden geht.

      Den Hiwis ist saukalt und die Posten verkaufen ihnen heißen Tee mit Fusel, werden bezahlt mit den Wertsachen von Menschen, die noch gar nicht da sind. Spekulationen auf Geld und Waren, welche diejenigen mit sich führen.

      Motorräder fahren vor und satte, fettleibige Stabsoffiziere springen ab, Abzeichen glitzern im scharfen Licht der Wintersonne, Weihnachtsmanngesichter strahlen. Einige tragen große Aktentaschen, andere schwingen Haselnussgerten.

      Sie begrüßen sich mit der erhobenen Rechten. Schütteln sich dann herzlich die Hände, lächeln sich an, erzählen Neuigkeiten von zu Hause. Reden über ihre Kinder und zeigen sich gegenseitig Fotos.

      »Der Transport kommt!«

      Hinter den kleinen, vergitterten Fenstern drängen sich Gesichter, blass, ängstlich und übernächtigt. Einige Fäuste trommeln gegen die Waggonwände. Verzweifelte Rufe höre ich. Dann wachsen die Rufe wie jedes Mal zu lautem Geschrei.

      Ein Offizier, arisch hochgewachsen und mit mehr Silber behangen als die anderen, winkt angewidert einem Posten. Der feuert eine kurze Salve über die Reihe der Waggons. Die Schüsse hallen nach in der plötzlichen Totenstille.

      Der Riese mit der Aktentasche hebt die Hand. »An die Arbeit!« Die Hiwis wissen längst, wer Gold nimmt oder sonst etwas, was nicht essbar ist, wird wegen Diebstahls von Reichseigentum kurzerhand erschossen!

      Die Riegel der Waggons knarren, die Türen werden geöffnet. Die ersten Leiber stolpern von hinten gedrückt aus den Waggons. Koffer landen auf ihren Rücken, andere Leiber folgen und schließlich sind die Menschen beinahe erdrückt von der Last der Koffer, Päckchen, Bündel und Taschen jeder Art. Denn die Transportierten bringen so viel Unnützes mit, was in ihrem bisherigen Leben Sicherheit und Wohlstand bedeutete und hier vollkommen bedeutungslos für sie sein wird.

      »Was geschieht mit uns?« Wie stets die erste Frage der ängstlichen Menschen.

      »Ihr werdet entlaust und dann frisch eingekleidet, deshalb braucht ihr bis dahin euer Zeug ja nicht. Das muss ebenfalls entlaust werden. Seid bitte vernünftig!«

      Menschen, die in den Tod gehen, sollen bis zum letzten Augenblick belogen werden, das ist die einzige zulässige Form von Mitleid. Und die meisten werden wirklich ruhiger.

      Ehe sie Zeit haben, sich an die frische Luft zu gewöhnen, bevor sie zu sich kommen, zerrt man ihnen alles aus den Händen.

      »Ach bitte, lassen Sie mir ...«

      »Verboten!«, zischen die Hiwis scharf durch die Zähne.

      Äußerlich beherrscht schaue ich zu und rufe den Verängstigten automatisch die Sätze zu, die ich bei jedem Transport rufe, von denen ich träume.

      »Meine Herrschaften! Legen Sie Ihr Gepäck bitte selbst ab, damit Sie es später leichter wiederfinden, wir wollen doch nur Ihr Bestes!«

      Und das ist nicht mal eine Lüge. Die Kameraden wollen Geld, Gold und dergleichen - die Hiwis wollen Fressen. Meine Stimme klingt sanft, begütigend.

      »Jawohl«, antworten manche Menschen gedämpft hoffnungsvoll.

      Eine hübsche Frau bückt sich nach ihrer Tasche. Das darf ich nicht durchgehen lassen, denn wir stehen ebenfalls unter Beobachtung. Besonders die plattbusige SS-Frau ist peinlich darauf bedacht, dass kein männlicher Kamerad für eine einzige andere Frau Mitleid oder Ähnliches zeigt. Meine Gerte pfeift durch die Luft, die Frau fällt unter die Füße der Menge. Das Kind hinter ihr wimmert »Mammele ...« Ein kleines, zerzaustes Mädchen. Die Sturmführerin mit dem farblosen Haar lächelt sadistisch.

      Ganze Berge abgelegter Koffer und Taschen wachsen neben den Waggons. Aus manchen Hand- und Aktentaschen, die aufgesprungen sind, quellen Banknotenbündel hervor, Gold, Uhren, Schmuck, Brot, Schinken, Würste; Zucker vermischt sich mit Sand, zerrinnt im Schotter.

      Diejenigen, die man nach rechts geschickt hat, atmen durch. Sie sind jung und gesund und gehen ins Lager. Sie dürfen eine Zeitlang arbeiten, bevor sie dann ins Gas gehen, das pausenlos in den Rotkreuzwagen hin und her transportiert wird. Denn unter dem Zeichen des Roten Kreuzes fährt man das Gas heran, mit dem die Menschen vergiftet werden. Schließlich wäre es ja auch eine Schande, wenn eine alliierte Granate diese kriegswichtigen Transporte gefährden würde.

      Die Helfer schubsen die ersten Menschen auf die Lastwagen, sechzig, siebzig Leute pro Wagen, Kinder zählen gar nicht, ein paar mehr oder ein paar weniger, darauf kommt es nicht so genau an. Daneben steht ein junger Kamerad und macht ins Transportbuch für jeden Lastwagen einen Strich, jeden fünften Strich diametral über die vier vorherigen. Drei solcher Strichpakete zählen für rund Tausend Menschen - vereinfachte Buchführung, Ordnung muss sein!

      Die Strichpakete mehren sich und meine Feldflasche ist schon wieder ziemlich leer. Ein Hoch auf unser reinrassiges Großdeutschland: Ein Volk - ein Reich - ein Führer - Krematorien - und kostenloser Schnaps für uns!

      Ich stehe mit meiner Gerte dabei, könnte kotzen und traue mich nicht, sondern nuckle lieber gehorsam an meiner Feldflasche! Ach so, leer. Los, du plattbusige Hure - ach was, selbst wenn du die einzige Frau der Welt wärst, würde kein Kerl seinen Pimmel bei dir reinstecken wollen, aber du darfst mir die Flasche füllen.