Ganz für sich allein. Werner Koschan

Читать онлайн.
Название Ganz für sich allein
Автор произведения Werner Koschan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738097450



Скачать книгу

sehe nicht die Straßen, nehme keinen Menschen wahr, sondern stelle mir nur das Grauen plastisch vor. Irgendwann sitze ich am Elbufer auf einem vermodernden Baumstamm und lese den Brief noch einmal.

      Tief in Gedanken versunken wandere ich anschließend das Elbufer entlang. So, wie im Brief geschildert, wird dann ja vermutlich ebenso mein Transport enden. Nehmen wir mal an, am Freitag muss ich mich wirklich melden, somit macht es keinerlei Sinn, irgendetwas mitzunehmen oder gar einen Koffer zu packen - den Koffer eines Juden. Nichts mehr wert. Und mit Carola darüber zu reden macht ja auch keinen Sinn, sie wird schon früh genug merken, wenn ich nicht mehr wiederkomme. Soll ich ihr vielleicht von diesem Brief erzählen? Was würde ihr dieses Wissen nützen? Wem nützt es überhaupt, etwas zu wissen? Gut, in normalen Zeiten hieß es, Wissen sei der einzige Vorrat, der sich bei Gebrauch vermehrt! Aber jetzt und hier? Jetzt und hier ist es besser, wenn niemand etwas wüsste. Jeder, der irgendetwas weiß, läuft unweigerlich Gefahr, selbst dranzukommen, überlege ich und zerreiße den Brief in ganz kleine Schnipsel und werfe sie nach und nach in die Elbe. Was habe ich denn davon, ob später mal Rache geübt wird? Nichts. Kriege ich ohnehin nicht mit. Und was nützt es den anderen, dass ich weiß, wohin am Freitag die Fahrt geht? Mir nützt es insoweit, dass ich gar keine Angst mehr habe; komisch, wo ich doch solch ein Feigling bin, nein, war.

      Carola staunt nicht schlecht, als ich ihr das Brot und die Brötchen gebe. Von Ehrhardts Warnung und dem Brief erzähle ich ihr nichts. Ich bin mit mir vollkommen im Reinen, beinahe sogar vergnügt.

      Wir essen jeder ein ganzes Brötchen und trinken dazu den dünnen Tee. Ich erzähle Carola von meinem obligatorischen Spaziergang über den Schlossplatz bis zum Elbufer, den ich heute gar nicht unternommen habe. Ich erfinde halt ein paar Dinge, rede vom gesäuberten Weg rechts runter zu der Brühlschen Terrasse, lüge neue Fahrpläne an den Dampferanlegestellen zusammen und beschreibe die knospenden Pflanzen am Terrassenufer, die ich gar nicht gesehen habe, denn die Brühlsche Terrasse dürfen wir Juden seit Langem nicht mehr betreten. Diese Lüge müsste Carola eigentlich auffallen, aber sie hört mir wohl gar nicht zu. Ich erzähle dennoch weiter, dass ich am Sachsenplatz vor der Albertbrücke wie immer eine regelmäßige Pause eingelegt und den Verkehr betrachtet hätte. Weshalb sollte sie meiner Schilderung denn zuhören? Ich rede ja sowieso jeden Tag das Gleiche, fällt mir heute auf. Weiter spaziere ich sonst auch stets das Hindenburgufer unter den wertstrotzenden Villen der Bonzen vorbei bis zum Feldherrnplatz und von dort dann direkt am Wasser entlang bis zum Blauen Wunder und wieder zurück. So finde ich täglich viel Zeit zum Nachdenken.

      Nun sitze ich in meinem geliebten Erker und grüble, bis Carola mich zum Abendessen ruft. Es gibt eine dicke Scheibe Brot mit Margarine und Salz. Wo Carola die Margarine organisiert hat, bleibt ihr Geheimnis, denn die Fettmarken für den Februar sind von uns längst verbraucht.

      Wir kauen mechanisch und vollkommen schweigend, ohne dass ich einen Grund dafür nennen könnte. Wir sprechen wirklich kein Wort miteinander, was recht ungewöhnlich ist. Ob Carola irgendeine Vorahnung hat, was mit mir am Freitag geschehen wird?

      »Möchtest du noch eine Tasse Tee?«

      »Gern«, sage ich. »Haben wir denn Tee? Warum setzt du mir diese dünne Brühe vor, wenn wir Tee im Hause haben?«

      »Du bist widerlich, Jakob. Ich kann nichts dafür, dass es nichts gibt«, meint sie niedergeschlagen.

      Plötzlich heulen die Sirenen nicht Voralarm, sondern direkt Vollalarm.

      »Was soll denn das jetzt?«, frage ich. »Ich hatte bisher geglaubt, die Engländer und Amerikaner seien abergläubisch. Die werden nicht ausgerechnet einen Fliegerangriff an einem 13. beginnen. Ojweh, so was geht nicht gut aus.«

      »Bleiben wir hier oder möchtest du in den Keller?«, fragt Carola. »Wahrscheinlich trifft es uns gar nicht. Hoffentlich ist Berlin wieder an der Reihe. Wenn sie dort bloß alles zerstören würden und dieser Irrsinn zu Ende wäre!«, fleht Carola erbittert.

      »Das ist nicht sehr human, Carola. Die Menschen in Berlin haben nicht mehr Schuld als wir andern Deutschen.«

      »Doch, von dort geht der ganze Irrwitz aus. Es ist gerade mal zwei Jahre her, da haben vor allem die Berliner ›Jaaa‹ gebrüllt, dass sie endlich ihren totalen Krieg haben wollten! Nun sollen besonders die Berliner diese Suppe auslöffeln. Jede Bombe, die auf diese Miststadt fällt, spricht mir aus dem Herzen.«

      Carolas Augen funkeln wie die eines Racheengels. Sie sieht zum Verlieben furchterregend aus. Aber sie hat unrecht.

      »Nein, Carola, das ist so nicht korrekt. Diese Berliner im Sportpalast, waren nur eine Horde Verblendeter. Diese Schreihälse waren sämtlich organisiert. Ich bin mir sicher, dass die meisten Deutschen diesen Krieg auch nicht wollen.«

      »Ja, mittlerweile. Das stimmt. Und nachdem Warschau und Paris besetzt waren, haben sie alle gejubelt und sich gegenseitig auf die Schultern geklopft, was sie für tolle Übermenschen sind. Und den österreichischen Gefreiten nannten sie mit einem Mal Gröfaz. Gröpfaz hielte ich für passender. Nicht größter Feldherr, sondern größte Pfeife aller Zeiten, so wär’s richtig. Ja, jetzt haben die Leute die Nase voll vom Krieg; jetzt wo sie merken, dass es nicht klappen wird. Nicht klappen darf! Und du nimmst diese Armleuchter in Schutz. Ausgerechnet du!«

      »Ich nehme nicht die Nazis in Schutz. Die dürfen meinetwegen samt und sonders verrecken. Ich empfinde dagegen Mitleid mit den einfachen Leuten in ihren einfachen Kellern oder Splittergräben. Die tun mir leid. Ja.«

      »Von denen haben trotzdem sehr viele brav ihr Kreuzchen gemacht. So viele haben Hitler gewählt, als von Gott gesandtem Heilsbringer nahezu herbeigesehnt. Und jeder, der sein Kreuz für ihn gemacht hat, konnte vorher ganz genau wissen, was seitdem exakt so geschehen ist. Wir haben seinen Phrasenkatalog beide gelesen und ich muss sagen, darin steht alles genauso beschrieben, wie es eingetroffen ist. Jeder andere hat ebenso dieses Buch lesen können, aber man wollte ja nicht. Bloß nicht nachdenken, vor allem, da mit einem Mal so viele Arbeitslose von der Straße verschwunden waren. Na wenn schon, wenn die letztendlich nur Waffen, Panzer und Rollbahnen dafür sowie Bomben bauen durften. Hurra doch! Und wer hat diese Bomben dann auf friedliche Zivilisten geworfen? Wer hat mit dem Morden begonnen? Deutsche und niemand sonst! Von Berlin aus wurden die Bomber nach Coventry geschickt, nach Rotterdam, nach Warschau. In den Wochenschauen haben Millionen Deutsche die Bilder vom Untergang dieser Städte beklatscht. Da ist es nur recht und billig, wenn die anderen zurückschlagen. Wir haben es mehr als verdient, dass man uns das Land in Schutt und Asche legt. Wir haben es uns redlich verdient!«

      So hatte ich Carola noch nie erlebt. Sie, die möglichst nirgends auffallen wollte, redet plötzlich so energisch.

      »Das meinst du sicherlich nicht ernst, Carola.«

      »Oh ja, das meine ich ernst, weil ich Angst davor habe. Was werden die anderen mit uns machen? Und wenn es nicht so schnell geht, wie wir hoffen, was werden unsere eigenen Leute mit uns machen? Das stelle ich mir sogar viel schlimmer vor. Manchmal wünschte ich, die Amerikaner hätten Bomben, die auch die sichersten Bunker der Bonzen durchschlagen können. Dann wäre Ruhe.«

      Was soll ich darauf entgegnen? Sonderbare Gedanken. Wir schweigen wieder und warten.

      Man wartet auf etwas, was man mittlerweile genau kennengelernt hat und hofft dennoch, das dunkle und schnell lauter werdende Brummen vieler Flugzeugmotoren möge abdrehen und einen anderen Ort heimsuchen. Zugegebenermaßen ein zutiefst unsozialer Gedanke, aber in diesem Augenblick wünsche ich mir dies ähnlich wie Carola, denn das Brummen lässt nicht nach. Und dann steigt mir das Entsetzen den Nacken hinauf, denn man hört Einschläge.

      Die ersten Einschläge klingen relativ weit weg. Das dumpfe Knallen wechselt rasch zu lautem Krachen. Das metallene Inferno kommt tatsächlich immer näher. Dann beginnt das Licht zu flackern. Und die Angst schnürt mir den Atem ab, weil ich weiß, dass man es ohne Licht schon gar nicht aushalten kann.

      »Hast du einen Ton Voralarm gehört?«, frage ich.

      »Nein, ich habe auch nicht darauf geachtet.«

      Wieso hat man keinen Alarm gegeben? Vielleicht haben wir ihn nur nicht gehört? Carolas langer Monolog brachte meine Gedanken