Ganz für sich allein. Werner Koschan

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Название Ganz für sich allein
Автор произведения Werner Koschan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738097450



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ausweichen können, das an der Hand ihrer Mutter übermütig herumtollte und gegen den Karren gestolpert war. Für diesen Verkehrsunfall mit Personenschaden (Urteil: Körperverletzung durch Übertretung der Fahrzeugverordnung) erhielt er 10 Mark Strafe. Das reichte, um bei Kowalski das ›Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen zum Schutze des deutschen Blutes‹ von 1935 anzuwenden, ihm die Staatsangehörigkeit abzuerkennen und mit Frau und den Töchtern nach Polen abzuschieben. Gerade mal zwei Stunden Zeit hatten sie gehabt, persönliche Gegenstände in zwei Koffer zu packen, denn mehr war nicht erlaubt, dann wurden sie mit anderen Ausgewiesenen auf der Ladefläche eines Wehrmacht-Lkw unter bewaffneter Bewachung zum Bahnhof Neustadt transportiert. Als Fremdblütigen, nunmehr Ausländern, war es ihnen untersagt, sich bei der Sparkasse mit Bargeld vom eigenen Konto zu versorgen. Ob Kowalskis in Polen angekommen waren, wusste Riebelutz nicht. Als er mir dies erzählte, hatte ich wütend die Fäuste in den Manteltaschen geballt.

      Aber schon im großen Krieg, der mittlerweile der Erste Weltkrieg heißt, habe ich mir, frei nach Shakespeare, immer gesagt: Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht. Und in dem idiotischen Taumel, in dem wir heute leben, halte ich mich äußerst strikt an diese Devise, denn gegen die großdeutsche Gesinnung kann man im Augenblick nichts machen. Ich verhalte mich wie ein Kamel, ja wie eine Seele von einem Kamel und bin damit bisher sogar ohne größere Vergeltungsmaßnahmen durchgekommen. Carola hält mich für einen Feigling, das weiß ich. Doch ich bin erst während der vergangenen zwölf Jahre zu einem Feigling geworden.

      Und außerdem hat Carola mich ja darin bestärkt, keine Rechtsmittel gegen die Reichsschulleitung einzulegen, weil Recht in Deutschland mittlerweile eine sonderbare Sache geworden ist. Recht hat nämlich nur Rechts, der Rest hat die Schnauze zu halten. Und das tue ich, denn ich halte Schweigen im Moment für wesentlich klüger. Glück braucht man natürlich auch und beinahe schäme ich mich für meinen Massel.

      4.

      Als uns im Dezember 1944 ausgerechnet Bruno Bierlos als Blockwart zugeteilt wurde, staunte ich nicht schlecht. Wir trafen uns im Judenkeller unseres Hauses wieder. Ob Dresden Ziel des Angriffs sein würde, war unklar. Die Erde zitterte noch nicht, das Licht schien ruhig. Bruno stand am Eingang, den Eimer und die Feuerpatsche in der Hand. Er hatte mir kurz zugenickt, dann meinen Stern entdeckt. Auf der Faust, die den Eimer trug, traten die Knöchel weiß hervor. Dann öffnete sich die Faust und der Eimer fiel mit einem Knall und laut scheppernd zu Boden, sodass alle Leute im Keller angstvoll zuckten und die Köpfe einzogen. Die Feuerpatsche landete neben dem Eimer. Bruno ergriff meine Hände und drückte mich an sich.

      »Ach, Herr Doktor. Es ist schön, Sie zu sehen. Wenngleich unter diesen unerfreulichen Umständen.« Er ließ mich los und betrachtete meinen Stern. »Jetzt begreife ich, weshalb Sie so plötzlich verschwunden waren. Man hatte uns erzählt, dass Sie ... na, ist ja egal. Ich fürchte, dass nicht mehr viele übrig sind.«

      »Das befürchte ich auch, mein Junge. Und dass ich noch hier bin, liegt womöglich nur daran, dass ich mit einer Arierin verheiratet bin. Bislang ist das nicht verboten.«

      »Nicht nur deshalb wünsche ich Ihrer Frau ein langes Leben.«

      Er küsste Carolas Hand und schaute sich im Bunker um. Obwohl von draußen nichts zu hören war, umfing uns leises Beten und das schwache Wimmern eines übermüdeten Kindes. Jeder schien nur mit seiner Angst beschäftigt zu sein. Ich wunderte mich trotzdem über Brunos Worte. So herzlich hatte uns seit Langem niemand mehr begrüßt.

      Er grinste über das ganze Gesicht und flüsterte: »Der ganze Zauber dauert nicht mehr lang, Herr Doktor. Die Stimmung kippt schon langsam um. Vor ein paar Tagen habe ich eine beeindruckende Szene beobachtet. Mir kam auf der Langemarckstraße beim Reichsplatz ein zittriger älterer Mann entgegen, der während des Gehens versonnen an einem Päckchen in den Händen schnupperte und beinahe in einen Luftwaffenoffizier gelaufen wäre. Im letzten Augenblick hob das Männchen den Kopf und blieb abrupt stehen. Natürlich ließ er das Paket angsterfüllt zu Boden fallen. Ein Stück Fleisch hüpfte aus dem Papier und der kleine Mann stand zitternd vor dem Flieger und duckte sich. Zunächst hatte ich befürchtet, der Hüne scheißt den Hungerleider jetzt wegen der Unachtsamkeit zusammen. Schließlich ist Fleisch Mangelware. Und richtig, er hob das Fleischpäckchen auf, griff den einfachen Volksgenossen am Ärmel und stellte ihn aufrecht, ich konnte den Stern deutlich leuchten sehen. Die halbe Portion schlotterte vor Angst und stammelte mit zittriger Stimme: ›Behalten Sie es ruhig, gnädiger Herr.‹ Der Flieger ließ den Ärmel los, stemmte die Faust in die Hüfte, ruderte mit dem Fleischpäckchen in der anderen Hand und fragte lautstark: ›Was glauben Sie eigentlich, in welcher Zeit wir leben?!‹ Das Männchen starb geradezu und sagte leise: ›Ich bin Nichtarier.‹ Da lachte der andere kurz, schüttelte den Kopf, drückte dem Verdutzten das Fleisch in die Hand zurück und verabschiedete sich mit einem barschen: ›Das ist mir doch scheißegal!‹

      Sie sehen, Herr Doktor, der Karren kippt um. Es geht langsam aufwärts, obwohl der Milchtopf nicht ganz vom Feuer ist. Ach, übrigens Milch, wie geht es dem Mäxchen?«

      »Seit dem 15. Mai 1942 dürfen Sternjuden und jeder, der mit einem solchen zusammenwohnt keine Hunde, Katzen, Vögel oder sonstige Tiere mehr halten. Wir haben Mäxchen einem Bekannten in Laubegast geschenkt. In dessen Garten darf er wenigstens jagen, wenn es noch Mäuse gibt.«

      »Sicherlich, Herr Doktor, aber auch leider viel zu viele Ratten. Und damit meine ich nicht die vierbeinigen.« Er winkte ab und schaute sich forschend um. Niemand schien auf uns zu achten. »Tut mir leid. Sie haben ziemlich an dem Tierchen gehangen, nicht wahr?«

      »Ja, wir vermissen den Kleinen. Jedoch in dieser Hungerhölle würde er sich ohnehin nicht wohlfühlen. Vielleicht ist es besser so.«

      »Wenn es vorbei ist, können Sie ihn ja zurückholen. Apropos, endlich Entwarnung. Für diesmal ist es wieder vorbei! Sowieso sonderbar, Gauleiter Mutschmann hat gerade erst großspurig versichert: ›Dresden ist tabu!‹«

      Bruno öffnete die Bunkertür. Die ersten Leute verließen den Schutzraum und traten in die Dunkelheit. Wahrscheinlich hatte Leipzig den Segen abbekommen. Die armen Schweine. Wir traten hinaus auf die Schlossstraße, viele Menschen hasteten an uns vorbei. Bruno hielt mir die Hand entgegen.

      »Da fällt mir etwas ein, Herr Doktor. Sagen Sie mal, was machen Sie zu Silvester?«

      Brunos lockere Art ließ mich gedankenlos drauflosplappern.

      »Kommt darauf an, was wir zu essen organisieren können. Ansonsten abwarten und Tee trinken. Und vor allen Dingen auf andere Zeiten hoffen.«

      »Was halten Sie von einem 37er Johannisberger? Original Kellerabzug. Genau das Richtige, um den Wechsel in ein besseres Jahr zu feiern.«

      Ein hohes Stimmchen meldete sich hinter uns. »Was meinen Sie mit besserem Jahr, Freundchen? Sie sollten lieber eine Knarre in die Hand nehmen und an der Front das Vaterland verteidigen, als sich hier herumzudrücken und miesmachen!« Bruno betrachtete den Mann, zu dem das Stimmchen gehörte und der den Existenzknopf auffällig am Revers trug. Dann hinkte Bruno einen Schritt auf ihn zu. Die Augen des Parteigenossen (PG) wanderten verächtlich an Bruno hinab. »Ach so einer sind Sie. Haben Sie sich das wenigstens im ehrlichen Kampf fürs Vaterland zugezogen?«

      »Nein, ich hinke seit meiner Geburt. Zufrieden?«, log Bruno.

      Das Parteimitglied wuchs. »Nicht diesen Ton, Sie Subjekt! So, so, nicht nur ein Deutscher, der mit einem Juden feiern will, sondern darüber hinaus ein minderwertiges Element, der Hamsterwaren besitzt, was! Vergasen sollte man solch einen Kerl wie Sie. Die Geburtskrüppel sind noch unser Untergang! Vergasen! Alle vergasen!«

      Brunos Stimme durchschnitt die Luft rasiermesserscharf: »Achtung! Alle mal herhören! Ich werde das melden. Achtung, dieser Mann hat den Reichspropagandaminister schwer beleidigt! Stehen bleiben, Leute, ich brauche Zeugen!«

      Der Volks- und Parteigenosse zuckte. Einige Leute blieben tatsächlich stehen. Wunderten sich, dass jemand laut wurde. Durch das Interesse einiger fühlten sich zunehmend mehr Leute angezogen, die Zahl der uns umgebenden Zuschauer stieg.

      »Aber