Ganz für sich allein. Werner Koschan

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Название Ganz für sich allein
Автор произведения Werner Koschan
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738097450



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      Diese Geschichte beruht auf tatsächlichen Begebenheiten, historischen Umständen, Vorgängen und Persönlichkeiten. Die Namen und Personenbeschreibungen nicht zeitgeschichtlich belegter Handelnder sind frei erfunden. Sofern Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen bestehen, wäre dies rein zufällig.

       Erstes Buch

      1. Kapitel

      Dienstag. Faschingsdienstag und mir ist überhaupt nicht nach Fasching oder irgendwie nach Frohsinn. Obwohl ich ein fröhlicher Pessimist bin. Aber wenn es so weitergeht, kann ich das fröhlich sehr bald weglassen! Ich befürchte stets das Schlimmste und bin dann froh, wenn das weniger Schlimme eingetreten ist. Das ist heute am Faschingsdienstag nicht anders! Meinem Pessimismus zum Trotz haben Carola und ich diesen Tag ohne größere Aufregungen hinter uns gebracht. Nichts Schlimmes ist uns passiert und hierüber bin ich froh. Nicht im Sinne von Frohsinn, sondern von Durchatmen. Ich bin ja ohnehin zufrieden über jeden Tag, den ich lebend hinter mich bringe und im Kalender ausstreichen kann.

      Nicht nur heute, wo dieser Faschingsdienstag zu allem Übel ausgerechnet auf einen 13. fällt. An einem 13. passiert mir dauernd irgendetwas. Mal was Gutes, mal was Schlechtes. Meistens was Schlechtes. Heute ist mir noch gar nichts passiert. Dem Himmel sei Dank.

      Genau genommen spielt es gar keine Rolle, ob nun heute der 13. Februar ohne schlimme Folgen vorübergegangen ist oder im Sommer der 13. Juli ohne persönliche Katastrophe verstrichen sein wird.

      Eigentlich! Aber ich weiß ganz genau, sofern ich den 13. Juli dieses Jahres ohne Katastrophe hinter mich gebracht haben werde, könnte jeder neue Morgen tatsächlich endlich ein klitzekleines Stück dauerhafter Zukunft bedeuten. Wenn ich dann noch lebe. Das ist im Moment mehr als unwahrscheinlich. Trotzdem bleibe ich dabei, jeden Tag im Kalender abzustreichen, mit dem Gefühl der Verwunderung trotz allem am Leben zu sein. Musste bisher schon ein Irrtum sein. Oder ein Versehen. Ich streiche jeden Tag ab, weil uns jeder Tag der Erlösung näher bringt. Mich nicht mehr wirklich. Dessen ungeachtet bedeutet für mich jeder überlebte Tag ein unbeschreibliches Geschenk. Pfui Spinne, wie rede ich denn? Unbeschreiblich - auch so eine geschmacklose Propagandaphrase, die sich in meinem Kopf festgesetzt hat, geradezu widerwärtig. Genauso wie: Nation, Reich, Bewegung, Schicksal. Einlullende Worthülsen, die uns über den Unsinn der Zeit hinwegtäuschen sollen. Überhaupt ist alles nur eine einzige Täuschung, wenn ich es richtig bedenke. Heim ins Reich zum Beispiel. Gott, haben wir über diesen Blödsinn gelacht - meist hinter vorgehaltener Hand, weil man nicht genau wusste, wer neben einem steht. Manchmal haben wir unvermittelt laut gelacht, wenn es mal wieder gar zu dämlich klang. Einmal, als während einer meiner Nachhilfestunden in Deutsch am Gymnasium ein Primaner trockenen Tons ausführte: »Goebbels ist seit ein paar Tagen in Afrika und studiert den Negern Sprechchöre ein: ›Wir wollen heim ins Reich!‹«, bebte der Klassenraum vor Gelächter.

      Na, nicht nur das Lachen ist uns einstweilen vergangen. Und die Tage sind mittlerweile eher recht leicht zu beschreiben. Morgens herrscht reichsweit Angst und Hunger; mittags herrscht große Angst und großer Hunger und abends - kann man Angst eigentlich steigern? - herrscht maßlose Angst und Mordshunger.

      Bis vor ein paar Jahren musste ich oftmals grinsen, wenn Schriftsteller das Gefühl der Angst beschrieben hatten. Der Atem bliebe stehen, das Herz krampfe und das Blut koche in den Adern. Schwacher Stil, hatte ich stets gedacht. Inzwischen muss ich zugeben, dass es gar nicht so vollkommen platt beschrieben war. Man ist kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig. Und dazu grummelt immerzu der Magen. Ein völlig neues Scheißgefühl.

      Allerdings habe ich gehört, dass die hingebungsvolle Regierung für gerade frisch Ausgebombte wahrhaft eindrucksvoll sorgen soll. Besonders in Berlin und im Ruhrgebiet. Für jeden Ausgebombten, der schnell genug aus den Trümmern seiner bisherigen Existenz zur nächsten Gulaschkanone kriechen kann, gibt es einen Schlag warmen Eintopf.

      Trotz meines ständigen Hungers verzichte ich gern auf solch einen Schlag Eintopf und streiche lieber den heutigen Tag aus dem Kalender. Dresden hat während des ganzen Krieges nur wenig abbekommen. Wir sind zum Glück wohl entweder zu weit östlich oder vielleicht nur militärisch zu uninteressant. Von mir aus darf das durchaus so bleiben, bis der ganze Spuk vorbei ist. Gestern hat man hinter vorgehaltener Hand getuschelt, dass die Artillerie einer Wehrmachtseinheit versehentlich die eigenen Truppen mit Granaten beharkt hat. Welch ein Fortschritt in der Kriegführung hatte ich mir heimlich überlegt. Wenn sich das in der Führung herumspricht und vielleicht Mode wird, dass man am besten die eigenen Soldaten erledigt und die eigenen Städte bombardiert, dann könnte man Schäden und Verluste genau planen und einen Haufen Material und Menschenleben sparen. Gesagt habe ich natürlich nichts, nur zu Carola. Sie mag solche Dinge wirklich nicht hören.

      Ich sitze in meinem geliebten Erker unserer Wohnung in der 2. Etage im sogenannten Judenhaus in der Sporergasse 2 und blicke auf das Residenzschloss hinüber. Wäre wirklich zu schade, wenn hier was zerstört würde. Wenn ich das Residenzschloss betrachte, fällt mir automatisch unser lieber König Friedrich August III. ein. Er warf dem Volk, nachdem man ihn abgesetzt hatte im November 1918, im Verlauf seiner Abdankung, die Brocken vor die Füße. »Macht doch euren Dreck alleene«, hatte er lapidar festgestellt und überließ das Volk sich selbst. Dann übernahmen Politiker, die besten Freunde der Militaristen, die junge Republik! Und nun steckt Deutschland im allertiefsten braunen Dreck. Wenn diese Pest in Uniform bloß verrecken würde!

      Carola blickt mich schon wieder ungnädig an. Ich habe ihr vor ein paar Tagen unvorsichtigerweise von meinen Gedanken erzählt, wenn ich den Kalender in der Hand halte und einen Tag abstreiche. Ich sollte sie vielleicht besser etwas ablenken.

      »Sag mal, Carola, kennst du den Unterschied zwischen der Schweiz und Deutschland?«

      Sie blickt mich skeptisch an und schüttelt den Kopf.

      »Wenn es in der Schweiz frühmorgens an der Tür klopft, bringt der Bäcker die Brötchen. Ha ha.«

      »Ja und? Was ist daran lustig?«

      »Wenn es in Deutschland frühmorgens an der Tür klopft, holt die Gestapo die Bewohner. Ha ha.«

      Carola lacht nicht. Sie mag es nicht, wenn ich so rede. Obwohl das stimmt. Wenn sich aus der Nacht der Tag nähert und um fünf Uhr früh niemand kräftig an die Tür geklopft hat, ist man dieses Mal verschont geblieben. Dann ist einem der Tag geschenkt. Der ständige Hunger bleibt einem selbstverständlich treu, aber daran bin ich gewöhnt. Irgendetwas findet man ja doch. Und wenn es nur ein paar Blätter Löwenzahn sind, die am Elbufer zumindest im Frühling und Sommer besonders gut gedeihen. An Kartoffeln oder ein Stück Brot kommt man allerdings schwieriger. Tagsüber zu hungern ist beinahe erträglich, hauptsächlich nachts quält mich der Hunger, weil es keine Ablenkung gibt. Tagsüber lastet der geistige Hunger viel schlimmer auf mir. Ich darf mich nicht beim Zeitunglesen erwischen lassen, aber ich mag die Lektüre nicht aufgeben. Natürlich habe ich meine Quellen und bekomme die Morgenzeitung und das Abendblatt vom Vortag in die Hände. Ich verstecke mich dann und lese trotz des Verbotes. Das dürfte Carola niemals wissen, sonst wäre ein Streit unvermeidlich, ich lebe nämlich nur noch, weil sie zu mir hält. Meist lese ich auf einer Friedhofsbank, weil die Kerle dort niemals erscheinen. Sterben ist für die Brut etwas Heldenhaftes, nur die einfachen Toten sind ihnen lästig. In den Zeitungen wird stets von Helden berichtet, daneben wird immer häufiger im Abendblatt exakt das Gegenteil als unwiderruflich festgestellt, was in der Morgenzeitung mit ergreifend glühenden Worthülsen für tausend Jahre unverrückbar im Bleisatz verankert war. Ich schrecke aus den Gedanken auf. Carola spricht mit mir.

      »Ich wünsche, dass du diesen vermaledeiten Kalender nun beiseite legst. Ich ahne, was dir durch den Kopf geht und du weißt ganz genau, dass ich das nicht wünsche!«

      Ojweh. Hätte ich Carola nur nichts von meinen Gedanken erzählt.

      2.

      Draußen ist es stockfinster und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie spät es sein mag. Vielleicht ist es neun Uhr abends,